Rio de Janeiro: Vertriebene Favela-Bewohner*innen campieren vor dem Rathaus

von Andreas Behn, Rio de Janeiro

(Berlin, 13. April 2014, npl).- Rund 200 Menschen, darunter viele Kinder, campieren seit dem 11. April auf einem Rasenplatz unweit des Zentrums von Rio de Janeiro. Erst vor zwei Wochen hatten sie ein neues Zuhause gefunden, ein leer stehendes Fabrikgelände im Norden der Stadt, das dem Telefonunternehmen „Oi“ gehört. Etwa 5.000 Personen hatten das Terrain besetzt und dort notdürftige Hütten errichtet.

Schwer bewaffnete Polizei-Einheiten räumten Fabrikgelände

Die meisten Besetzer*innen kamen aus den Favelas der Umgebung, wo sie die rasant steigenden Mieten nicht mehr zahlen konnten. Spekulation sowie eine Aufwertung der Innenstadtgebiete im Zuge der umstrittenen Befriedungspolitik für die Fußball-WM und die Olympischen Spiele haben die Lebenskosten in Rio de Janeiro in die Höhe getrieben.

Doch die Stadtverwaltung wollte keine neue Favela entstehen lassen, schon gar nicht in der Nähe des Maracanã-Stadions. Mehrere Armenviertel in der Umgebung wurden bereits geräumt, die Stadt will sich als moderne Metropole präsentieren. Holzhütten und Armut passen nicht zum Image des Fußballfestes im Boomland Brasilien.

Über 1.000 schwer bewaffnete Polizist*innen rückten am Morgen des 11. April gegen die Besetzer*innen vor. Binnen weniger Stunden waren sie obdachlos. Einige gingen freiwillig, andere wehrten sich. Mehrere Busse, Autos und auch Gebäude gingen in Flammen auf, noch bis zum Abend kam es zu Auseinandersetzungen zwischen BewohnerInnn und Polizist*innen. Viele wurden verletzt, mindestens 25 Menschen, unter ihnen auch Journalist*innen, wurden festgenommen.

Neue Unterkünfte, finanzielle Unterstützung und ein Ende der Polizeigewalt

Die Menschen, die nun vor dem Rathaus campieren, haben all ihre Habseligkeiten verloren. Sie schlafen auf Tüchern oder Plastikplanen und bitten um Spenden aus der Bevölkerung: Um Wasser, Lebensmittel und Kleidung. Viele von ihnen durften nichts aus ihren Hütten holen, bevor diese niedergewalzt wurden.

Nun fordern sie neue Unterkünfte, finanzielle Unterstützung für das Notwendigste und ein Ende der Polizeigewalt gegen die Bewohner*innen der Stadt. „Não vai ter Copa!“ – „Es wird keine WM geben“ unterbricht ein aufgebrachter junger Mann. Er wird applaudiert, während Polizisten in einiger Distanz drohend zuschauen. „Das Sozialamt war heute morgen schon hier und wollte die Kinder wegbringen, weil sie nicht auf der Straße leben dürfen“, berichtet eine Mutter. „Warum waren die Sozialarbeiter nicht bei der Räumung dabei und haben das Unrecht verhindert?“ Die Stimmung ist gereizt und frustriert, in kleinen Gruppen wird diskutiert, wie es jetzt weitergehen soll.

Polizeipräsenz statt Gesundheitsposten oder Abwassersystem

Zwei Monate vor Anpfiff der WM geht die Stadtregierung mit immer mehr Gewalt gegen Bewohner*innen von Favelas vor. Bereits Anfang April hatten rund 2.500 Soldaten das Armenviertel Maré besetzt. Zuvor war es tagelang zu Schießereien gekommen, offenbar eine Provokation der Drogengangs gegen die zunehmende Polizeipräsenz in ihren Hochburgen.

Seit gut fünf Jahren versucht die Regierung, die vom Staat jahrzehntelang vernachlässigten Armenviertel unter Kontrolle zu bringen und installiert dort Einheiten der Befriedungspolizei UPP (Unidade de Polícia Pacificadora). Doch das anfangs viel gelobte Konzept zeigt inzwischen seine Schwächen: Mit der Polizeipräsenz gehen keine Verbesserungen im sozialen Bereich oder bei der Infrastruktur einher, wie etwa Abwasserversorgung oder Gesundheitsposten. Zudem klagen die Bewohner*innen über ständige Übergriffe seitens der Uniformierten. Und die kriminellen Banden haben sich entweder an die neue Lage angepasst oder sind in andere Favelas weiter außerhalb gezogen.

Anti-Terror-Gesetz wird Unmut nicht besänftigen

Am Samstag kam es erstmals seit der Besetzung der Favela Maré zu einem Todesfall. Ein Mann wurde bei einer Schießerei tödlich verletzt. Polizei und Medien erklärten sogleich, es habe sich um einen Kriminellen gehandelt, der geschossen habe. Für viele Bewohner*innen aber war dies nur ein weiterer Fall von tödlicher Polizeigewalt – sie demonstrierten umgehend und blockierten aus Protest die nahe gelegene Stadtautobahn.

Auch die Proteste der geräumten Besetzer*innen gingen den großen Medien zufolge von Vandalen aus. „Vandalen“ ist seit den oft gewalttätigen Juni-Demonstrationen gegen Geldverschwendung und mangelnde öffentliche Dienstleistungen der neue Sammelbegriff für all jene, die Unruhe stiften. Das Parlament berät gerade ein Gesetz, solche Gewalttaten als Terrorismus zu definieren und entsprechend zu bestrafen. Das Gesetz soll noch vor der WM verabschiedet werden. Den zunehmenden Unmut der Menschen in Rio de Janeiro wird es sicher nicht besänftigen.

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