Schuhe – Spuren der Erinnerung

 Von Jessica Zeller und Wolf-Dieter Vogel

Schuhe
Die Ausstellung „Spuren der Erinnerung“ ist bis zum 22.7. in der Galerie Neurotitan zu sehen / Foto: Jessica Zeller

(Mexiko-Stadt/Berlin, 14. Juli 2017, npl).- Mit einer ungewöhnlichen Ausstellung macht ein mexikanisches Künstlerkollektiv auf den Kampf der Angehörigen von Verschwundenen in ihrem Land aufmerksam.

Die Schuhe der Angehörigen

Muttertag in Mexiko-Stadt: Mehrere Dutzend Männer und Frauen demonstrieren am 10. Mai 2013 in der mexikanischen Metropole. Es ist einer der vielen Märsche, Protestcamps und anderen Aktionen, mit denen die Angehörigen von Verschwundenen Aufklärung und Strafverfolgung einklagen. Sie wollen wissen, was mit ihren verschleppten Söhnen, Töchtern, Brüdern oder Schwestern passiert ist. Und sie wollen, dass die Verantwortlichen für ihre Verbrechen verurteilt werden. Auch der mexikanische Künstler Alfredo López Casanova ist an diesem Tag auf der Straße, um die Demonstrant*innen und ihre Forderungen zu unterstützen. Immer wieder blickt er auf die Schuhe, die die Protestierenden tragen. Wie könnte man diesen Schuhen einen Sinn geben, fragt er sich. „Wer sie trägt, hinterlässt vom ersten Schritt an Spuren.“

Seither sammeln Lopez und sein Künstlerkollektiv in ihrem Atelier im Zentrum von Mexiko-Stadt die Stiefel, Turnschuhe oder Sandalen von Angehörigen, die ihre Liebsten suchen. Schuhe, mit denen die Väter, Mütter oder Geschwister der Verschwundenen Tausende von Kilometern gegangen sind. Auf die Sohlen gravieren die Künstlerinnen und Künstler Sätze ein, die ihnen die Angehörigen geschrieben haben. Daraus entstand die Ausstellung „Huellas de la Memoria“ – „Spuren der Erinnerung“. Gemeinsam mit grünen Kunstdrucken, die Lopez und seine Leute aus den Sohlen herstellen, bildet das Schuhwerk ein Ensemble, das seit dem 11. Juli in der Galerie Neurotitan des Berliner Kunstvereins Schwarzenberg zu sehen ist.

„Ich bin auf der Suche, weil er mein Vater ist und weil wir ihn lieben“

Alfredo López in der Ausstellung Huellas de la memoria - Spuren der Erinnerung / Foto: Jessica Zeller
Alfredo López in der Ausstellung Huellas de la memoria – Spuren der Erinnerung / Foto: Jessica Zeller

„In der Mitte des Raumes hängen Schuhpaare, und darunter sind die Fußabdrücke auf DIN-A-4-Format dargestellt, wo Texte drinstehen von den Menschen, die ihre Vermissten suchen“, beschreibt eine Schülerin des Berliner Rheingau-Gymnasiums die Installation. Sie ist eine der ersten Besucherinnen der Ausstellung. Am Tag nach der Eröffnung ist sie mit ihrem Grund- und Leistungskurs Spanisch in die Galerie gekommen. Im linken Schuh werde dargestellt, wer suche, und im rechten stehe, was über die Vermissten wichtig zu wissen sei, erklärt die junge Frau. Etwa, wann sie verschleppt wurden.

80 Schuhpaare hat Lopez mit nach Europa gebracht, und jedes erzählt von einer langen Geschichte. So etwa von der des achtjährigen Leonel Orozco García, dessen Vater Moises Orozco am 22. Mai 2012 im Bundesstaat Michoacán festgenommen wurde und seither verschwunden ist. „Ich bin auf der Suche, weil er mein Vater ist und weil wir ihn lieben“, schreibt der Junge.

Mindestens 32.000 Vermisste in Mexiko

Offiziell gelten in Mexiko 32.000 Menschen als vermisst, die tatsächliche Zahl dürfte jedoch weitaus höher liegen. Manche werden von Banden der organisierten Kriminalität verschleppt und gezwungen, für sie zu arbeiten. Andere verschwinden, während sie sich in den Händen von Polizist*innen oder Soldat*innen befinden. Immer wieder trifft es auch Journalist*innen, kritische Indigene oder Umweltschützer*innen, die den Mächtigen im Weg stehen. Manchmal werden ihre Leichen in Massengräbern entdeckt, von vielen fehlt aber jede Spur.

„Das Projekt Huellas de la Memoria spiegelt wie ein Porträt das Desaster in unserem Land wieder, die humanitäre Krise, die wir erleben“, erklärt Lopez. Jahrelang sei in Mexiko behauptet worden, es gebe kein Problem des Verschwindenlassens. „Aber hier sind die Schuhe. Sie stehen physisch greifbar für jene, die ihre Verschwundenen suchen. Hier sind die Beweise: ihre Briefe, ihre Spuren“, bekräftigt er. Das könne niemand leugnen.

Kampf der Angehörigen soll unterstützt werden

Zunächst wurde die Ausstellung im Widerstandsmuseum in Mexiko-Stadt gezeigt. Seit März ist sie nun in Europa zu Gast: in London, Paris, Rom und anderen Städten. Und jetzt in Berlin. Annika Hirsekorn vom Kunstverein Schwarzenberg hat die Schau in die Galerie geholt. Die meisten wüssten nicht, wie viele Menschen wirklich verschwinden würden und was das für eine Gesellschaft bedeute, erklärt sie. Über die Installation, also über die persönlichen Referenzen, könne die Problematik gut emotional transportiert werden.

Das Verschwindenlassen publik zu machen und zugleich den Kampf der Angehörige zu unterstützen – genau das ist das Ziel des Künstlerkollektivs. „Die Ausstellung steht immer in Verbindung mit einer Anklage“, sagt Lopez, der auch als Bildhauer tätig ist. Immer finde ein Forum statt, um über das Thema zu sprechen. „Die Leute werden aufgerufen, sich dafür einzusetzen, dass das Verschwindenlassen im Land ein Ende hat.“

Nürnberg ist die nächste Station

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Der Künstler Alfredo López bei der Arbeit / Foto: Wolf-Dieter Vogel

Doch diese Verbrechen werden erst aufhören, wenn die Täter nicht weiterhin straffrei bleiben. Davon ist auch Lopez überzeugt. Deshalb freut er sich besonders darüber, dass die Ausstellung von Berlin nach Nürnberg weiterziehen wird – der Stadt, in der die Nazi-Kriegsverbrecherprozesse stattfanden. Das sei ein symbolisch wichtiger Aufenthalt. „So setzen wir ein Signal, dass es eine juristische Verfolgung geben muss und die Verantwortlichen eingesperrt werden“, bekräftigt er eine Forderung, die immer wieder von den Angehörigen vorgebracht wird. So lange es keine Gerechtigkeit gebe, werde das Verschwindenlassen nicht aufhören. „Doch weder die föderale noch bundesstaatliche Regierungen haben daran Interesse, weil sie selbst im Drogengeschäft drinstecken“, ist er überzeugt.

Das Künstlerkollektiv arbeitet eng mit den Angehörigen zusammen. So auch mit der Honduranerin Ana Enamorado. Vor sieben Jahren ist ihr Sohn Oscar in Mexiko verschwunden. Seither sucht sie ihn. Immer wieder musste sie erleben, wie die Behörden den Fall unter den Tisch kehrten. Dennoch gibt sie nicht auf und bringt sich aktiv in das Kunstprojekt ein, etwa, in dem sie die „Spuren der Erinnerung“ in Italien und Frankreich begleitet hat. „Das Projekt hat uns sehr geholfen, auf das Verschwindenlassen aufmerksam zu machen“, sagt Enamorado. Sie wisse zwar nicht, ob sie ihren Sohn jemals finden werden, „aber zumindest prangern wir an, was mit den Opfern, mit diesen nicht sichtbaren Menschen passiert. Niemand hat das vorher wahrgenommen.“

Schüler*innen: Ausstellung macht das Thema leicht zugänglich

Die Schülerinnen und Schüler des Rheingau-Gymnasiums hatten keine Vorstellung davon, wie groß das Problem des Verschwindenlassens in Mexiko ist. Auch ihr Lehrer war sich darüber nicht bewusst. „Hier hat mich ganz besonders überrascht, dass die Praktiken, Leute verschwinden zu lassen, immer noch auch während demokratischer Strukturen, vorhanden sind, oder weiter durchgeführt werden“, resümiert er, nachdem er die Ausstellung gesehen hat.

Auch die Schülerinnen bereuen den Besuch in der Galerie Neurotitan nicht. „Ich würde die Ausstellung empfehlen auch wenn man keine Vorkenntnisse hat, weil man sich schnell reinfinden kann, wenn man sich mit anderen identifizieren kann“, sagt eine von ihnen. Man bekomme ein Gefühl dafür, wie schlimm es sei, ein Familienmitglied zu verlieren, weil die Regierung es verschleppe, erklärt sie und betont: „Es lohnt sich auf jeden Fall, hierher zu kommen.“

SchuheZu diesem Artikel gibt es bei onda auch einen Audiobeitrag, den ihr hier anhören könnt.

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