Rio de Janeiro im Ausnahmezustand

von Andreas Behn

(Rio de Janeiro, 27. November 2010).- In Rio de Janeiro herrscht Ausnahmezustand. Nachdem mutmaßliche Mitglieder von Drogenbanden zu Wochenbeginn Busse und Autos im gesamten Stadtgebiet anzündeten, reagierte die Polizei mit einer Großoffensive. Am 25. November stürmte sie mit Hilfe von Panzern der Marine die Favela Vila Cruzeiro.

Die Favela ist eine angeblich uneinnehmbare Hochburg der Drogenhändler. Fernsehbilder zeigten, wie über Hundert mit Gewehren bewaffnete Männer über einen unbewohnten Hügel in das benachbarte Favelagebiet Complexo do Alemao flüchteten. Das gesamte Gebiet, in dem mehrere Hunderttausend Menschen wohnen, ist seit Samstag umstellt, eine weitere Eskalation steht unmittelbar bevor.

Viele Menschen folgen der Bitte der Behörden und gehen kaum noch aus dem Haus. Abends sind sonst überfüllte Bars und Restaurants insbesondere in dem nahegelegenen Mittelschichtsviertel im Norden der Stadt wie ausgestorben. Präsident Inácio Lula da Silva bewilligte die Entsendung von 800 Soldaten und schwerem Gerät, um die der Gouverneur von Rio de Janeiro, Sergio Cabral gebeten hatte. Er kündigte an, „das Territorium des Drogenhandels“ werde der organisierten Kriminalität entrissen. „Wir werden die Armenviertel befrieden,“ so Cabral.

Die Mär vom Kampf gut gegen böse

Der Kampf gut gegen böse findet auch in den Medien statt. Seit Wochen schüren sie ein Klima der Angst in der Stadt, mit ausführlichen Berichten über Anschläge und Überfälle, deren Urheberschaft zumeist ungeklärt blieb. Jetzt ist die Rede von applaudierenden Menschen am Straßenrand, stellvertretend fordern einige Interviewte, die Polizei solle „draufschlagen“ und der Sache endlich ein Ende bereiten. Befragte Soziologen dürfen die Situation in Rio de Janeiro mit Irak und Afghanistan vergleichen, für die größte Tageszeitung „O Globo“ handelt es sich um „unseren D-Day“, um die „entscheidende Schlacht“ gegen die Drogenhändler. Wessen Geistes Kind diese Hetze ist, zeigte am Freitag das Titelblatt der Zeitung „Meia Hora“: Die Menschen aus den Armenvierteln auf der Flucht vor der Polizei wurden als Kakerlaken dargestellt. Auch im Rest der Ausgabe wimmelte es von Kakerlaken.

Fraglos sind die Drogenbanden, die seit Jahren einen großen Teil der Favelas von Rio de Janeiro kontrollieren und mit Gewalt, Willkür und Lynchjustiz vorgehen, ein gravierendes Problem. In Fraktionen gespalten, liefern sie sich immer wieder regelrechte Kriege um das jeweilige Territorium und machen ein gutes Geschäft mit dem Verkauf von harten und weichen Drogen. Auch wenn sie teilweise in eigene soziale Projekte investieren und von einigen gern als Gegenpol der armen und ausgeschlossenen Bevölkerung gegen rassistische Polizeigewalt gesehen werden, handelt es sich doch um machistische, gewalttätige Gruppen, die das Fehlen staatlicher Präsenz — sowohl in Form von Ordnungskräften wie in Form sozialer oder urbaner Infrastruktur — nutzen, um in der jeweiligen Region ein eigenes Regime zu etablieren und jegliche Form sozialer Organisierung zu unterbinden.

Polizei in Waffenhandel verstrickt

Doch genau die Polizei, die jetzt so öffentlichkeitswirksam das Verbrechen bekämpft, und teilweise auch der Staatsapparat und korrupte Politiker*innen, sind alles andere als unschuldig an der Situation. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Einheiten insbesondere der im Stadtgebiet omnipräsenten Militärpolizei mit dem Drogenhandel unter einer Decke stecken. Sie erlauben den Drogenverkauf und streichen den Hauptteil der Einnahmen ein. Wenn dann mal wieder eine Favela gestürmt und mehrere „Banditen“ oder als solche bezeichnete Zivilisten „in Notwehr“ erschossen wurden, ist die Ursache oft der Versuch, einer anderen, zahlungswilligeren Fraktion das Feld zu überlassen. Die Polizei ist es auch, die oftmals für den Waffenhandel verantwortlich ist, durch den der Konflikt derart eskalieren konnte. Zumal – je bewaffneter der Feind, desto wichtiger ist es, dass weitere Gelder in die Polizei investiert werden.

„Waffen werden nicht in Favelas hergestellt, sie kommen irgendwo her. Wann ist die Polizei mal gegen den Waffenhandel vorgegangen, wann gab es mal eine Razzia im Hafen,“ fragte der Landtagsabgeordnete Marcelo Freixo in einem Interview Ende vergangener Woche. Freixo wurde bekannt als Initiator einer Untersuchungskommission zu Milizen, die den Drogenbanden die Macht in den Favelas streiten machen und ihrerseits mafiaähnliche Regime einführen. Seitdem sind viele Politiker*innen und Polizeibeamte angeklagt oder verurteilt worden, er selbst kann wegen Todesdrohungen nicht mehr ohne Leibwächter auf die Straße gehen. „In den Favelas machen bewaffnete Menschen nicht ein Prozent der Bevölkerung aus. Ich wünschte, im Parlament hätten weniger als ein Prozent Verbindung mit Verbrechen,“ erklärte der Menschenrechtsaktivist Marcelo Freixo.

„Befriedende Polizeieinheiten“

Vor gut einem Jahr begann die Regierung Cabral damit, einige Favelas in den besseren Vierteln zu besetzen und sogenannte Befriedende Polizeieinheiten (UPP – Unidade de Polícia Pacificadora ) einzurichten. Nicht der erste Versuch dieser Art, doch bislang recht erfolgreich. Trotz Klagen, dass die Polizisten nach wie vor respektlos oder gewaltsam mit den Bewohner*innen umgehen und dass der Staat nur mittels Ordnungskräften, nicht aber mit sozialen Einrichtung Präsenz zeigt, ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Ende der Bandenregime eindeutig begrüßt. Die Frage, warum plötzlich Stadtteile erobert werden konnten, die jahrzehntelang den bewaffneten Banden nicht zu entreißen waren, lässt sich nur mit der neuen Konjunktur erklären: Vorher war es ein gutes Geschäft, den schlecht bezahlten Polizisten das Kungeln mit dem organisierten Verbrechen zu gestatten. Doch jetzt steht die Fußball-WM 2014 und die Olympiade 2016 ins Haus.

Wo ein politischer Wille ist, wird plötzlich deutlich, dass die Drogenhändler doch nicht so allmächtig sind, wie die Medien gerne suggerieren. Marcelo Freixo interpretiert die Initiative der Befriedung in diesem Kontext: „Die UPPs sind ein Projekt zur militärischen Rückeroberung einiger Gebiete, die für die Stadt von zentralen Bedeutung sind.“ Es gehe nicht darum, den Drogenhandel zu beenden, „es geht um die militärische Kontrolle von Vierteln, die wichtig für die Olympische Stadt sind,“ so der Abgeordnete Freixo.

Mafiöse Milizen statt Drogenbanden

Es ist auch anzuzweifeln, dass der Sturm auf die Favelas Vila Cruzeiro und Complexo do Alemao zur Einführung rechtsstaatlicher Zustände führen wird. Offenbar ist es einfacher und effektiver, die Kontrolle dieser Gebiete den Milizen zu überlassen. Sie entstanden in Rio de Janeiro vor einigen Jahren im Vorfeld der Panamerikanischen Spiele, Menschenrechtlern zufolge auf Initiative des damaligen Bürgermeisters Cesar Maia. Diese paramilitärischen Gruppen, die zumeist aus ehemaligen und aktiven Polizisten und Feuerwehrleuten bestehen, erobern einen von Drogenbanden kontrollierten Stadtteil und führen ein Mafiasystem ein, dass seine Einnahmen vor allem aus dem öffentlichen Transport, Kabelfernsehen, Gasverkauf und Schutzgelderpressung gewinnt. „Die Zahl der von Milizen kontrollierten Territorien ist heute bereits größer als die der von Drogenhändlern dominierten,“ erklärte der Abgeordnete Freixo und kritisiert, dass die Regierung Cabral viel Brimborium um die Drogenbanden macht, sich aber nicht dem Milizproblem zuwendet: „Mich wundert das Schweigen dieser Regierung in Bezug auf die Milizen, obwohl behauptet wird, dass Rio befriedet wird.“

Bereits 45 Tote durch Großeinsatz der Polizei

Jenseits der Frage, was genau mit dieser Großoffensive bezweckt wird, und dem Missstand, dass die Polizei als integraler Bestandteil des hiesigen Drogenproblems mal wieder als Lösung dargestellt wird, steht die Sorge der Bevölkerung in den umkämpften Gebieten im Vordergrund. Bis Samstag Mittag wurde von 45 Toten berichtet — fast allesamt durch Polizeikugeln, darunter eine 14-jährige Schülerin. Es gab bereits sehr viele Verletzte und Festnahmen, und die Erfahrung zeigt, dass es sich dabei oft um Unbeteiligte handelt. Die Menschenrechtsorganisation „Netzwerk gegen Gewalt“ berichtete am Samstag zudem von Übergriffen und Plünderungen seitens der Beamten in der eroberten Favela Vila Cruzeiro.

Amnesty International forderte Regierung und Einsatzleitung in einer offiziellen Erklärung am Freitag auf, maßvoll und rechtsstaatlich bei der Verbrechensbekämpfung vorzugehen. Die Menschenrechtsorganisation erinnerte daran, dass die Polizei von Rio de Janeiro im Verlauf dieses Jahres bereits „über 500 Menschen in sogenannten Notwehrsituationen erschossen“ hat. Auch die Uno hatte der Polizei von Rio vergangenen Jahr bescheinigt, sie handele eher wie ein Kriegspartei und verletze bei ihrem Vorgehen in den Armenvierteln die Menschenrechte systematisch.

Vila Cruzeiro (Foto: Camila Domingues)

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