Regierung interessiert sich nicht für die Anliegen der Indigenen

von Graziela Wolfart, Instituto Humanitas Unisinos

(Fortaleza, 19. April 2013, adital).- Roberto Antonio Liebgott, der Vize-Präsident des Indigenenmissionsrates Cimi (Conselho Indigenista Missionário), sieht keinen grundlegenden Unterschied zwischen der Indigenenpolitik der linken Regierungen Lula und Rousseff und jener der konservativen Vorgänger-Regierungen. In einem Interview erklärt er, die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) habe in den zehn Jahren, die sie inzwischen an der Macht ist, vor allem wenig getan für die Abgrenzung indigenen Landes.

Beim Blick auf die vergangenen zehn Jahre linker Präsidentschaften, wie bewerten Sie die deren Verhältnis zu Brasiliens Indigenen?

Sowohl das Verhältnis der aktuellen Regierung Rousseff als auch jenes der Vorgängerregierungen zeugt alles andere als von Einsatz für Gerechtigkeit und für die Würde der indigenen Völker. Als Beispiel für die Politik der Regierungen der Arbeiterpartei nenne ich die Lage im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, wo ein anhaltender und stiller Genozid an den Guarani-Kaiowá abläuft. Seit vielen Jahren liegt Mato Grosso do Sul in der Statistik der Gewalttaten gegen Indigene innerhalb Brasiliens an erster Stelle. Was aber hat die Bundesregierung, die laut der Verfassung aus dem Jahr 1988 zum Schutz der indigenen Völker verpflichtet ist, konkret dagegen unternommen? Es wurden lediglich punktuelle und lindernde Maßnahmen ergriffen.

Die Abgrenzung indigenen Landes ist aber die einzige Alternative, um den Gräueltaten ein Ende zu bereiten – sowohl in Mato Grosso do Sul als auch in anderen Regionen Brasiliens. Indigene Anführer*innen aus dem ganzen Land erklären, dass die Regierungen der Arbeiterpartei sich für die Viehzucht einsetzen, für den Sojaanbau, für die Energieunternehmen. Wir müssen erkennen, dass die „Linke“, die an die Macht kam, sich in ihrer Politik als unbeständig erweist und diese je nach Situation sehr schnell ändert. Zu Beginn der ersten Amtszeit von Lula basierte die Regierungstätigkeit auf den neoliberalen Entwicklungsvorstellungen der Vorgängerregierungen der Präsidenten Fernando Collor de Mello, Itamar Franco und Fernando Henrique Cardoso. Es war also nicht wirklich „die Linke“, welche die Regierung übernahm, sondern eine Partei, die sich mit der bestehenden Macht versöhnte.

Was hat die Arbeiterpartei für Brasiliens indigene Völker in den zehn Jahren, in denen sie den Präsidenten / die Präsidentin stellt, getan – bzw. was hat sie nicht getan?

Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Arbeiterpartei, um die Regierbarkeit des Landes sicherzustellen, Bündnisse mit unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Segmenten einging. Die Arbeiterpartei, niemand bestreitet dies, erhielt für ihre Wahlkämpfe viele Ressourcen von Seiten wirtschaftlicher und politischer Kräfte, welche für ihre „Investitionen“ jetzt auch einen entsprechenden Ertrag sehen möchten. Der PT wurde also zur Geisel der mit dem Finanzsystem eng verbundenen brasilianischen Oligarchien. Und außerdem zur Geisel der Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro), die heute das gesamte parlamentarische Geschehen im Kongress in Brasília beherrscht und auf Exekutivebene wichtige Posten besetzt – in Ministerien, aber zum Beispiel auch in Regulierungsbehörden.

Während der zwei Amtszeiten von Lula und in den gut zwei Jahren der Präsidentschaft von Rousseff wurden die Forderungen der Indigenen bezüglich der Abgrenzung von Land, dessen Schutz und Nutzung vernachlässigt. Bei der Demarkierung, der für die Indigenen wichtigsten Frage, hat die Arbeiterpartei in diesen zehn Jahren wenig getan. In zwei konkreten Fällen entschied das Oberste Gericht zugunsten der Indigenen. Kürzlich konnte außerdem das indigene Volk der Xavante, das in Mato Grosso lebt, einen Sieg vor Gericht feiern. Ihr besetztes Land muss geräumt werden. Das heißt, Brasiliens Justiz muss die Bundesregierung anweisen, Besetzer*innen indigenen Landes von diesem zu entfernen. Alle drei Fälle fanden in den Medien ein breites Echo. Es handelte sich allerdings um Vorgänge, die in die Zeit vor der ersten Präsidentschaft Lulas zurückreichen.

Hat sich die Haltung der brasilianischen Gesellschaft gegenüber den Indigenen in den vergangenen zehn Jahren in irgendeiner Weise verändert?

Die Gesellschaft sieht die indigenen Völker noch immer irgendwie als „mit der Vergangenheit verbundene Lebewesen“ an. Daraus folgt die Auffassung, dass die indigenen Kulturen starr auf eine längst vergangene Zeit hin ausgerichtet seien. Die Leute sind dann erstaunt, wenn Indigene moderne Technologie nutzen, oder auch nahe an städtischen Räumen leben. Es entspricht einfach nicht dem Bild, das man sich von den Indigenen macht, die demnach doch ausschließlich in Wäldern leben. Die Indigenen stehen für angebliche Rückständigkeit in einem Land, das sich rasant entwickelt. Insofern ist es nur folgerichtig, dass indigene Rechte von den Regierungen, Gerichten und dem brasilianischen Parlament vernachlässigt werden. Indigenes Land abzugrenzen, wenn dieses doch großen wirtschaftlichen Nutzen verspricht, erscheint demjenigen als absurd, der in den Indigenen Hindernisse auf dem Weg des Fortschritts sieht.

Die Politik des brasilianischen Staates trägt den unterschiedlichen Realitäten der 240 indigenen Völker nicht Rechnung. Diese zählen über 800.000 Angehörige, die mindestens 180 verschiedene Sprachen sprechen. Von den 1.064 indigenen Siedlungsgebieten sind lediglich 364 gesetzlich geregelt. Über 90 indigene Gruppen leben isoliert im Amazonasgebiet. Die von der brasilianischen Verfassung garantierten Rechte der Indigenen (Artikel 231, 232, 215, 210) müssen gesichert werden. Ein wichtiger Teil der brasilianischen Bevölkerung steht heute, vor allem dank sozialer Netzwerke, an der Seite der Indigenen. Eine Initiative trug kürzlich den Namen „Wir sind alle Guaraní“ („Somos Todos Guarani“). Besonders junge Brasilianer*innen engagierten sich.

Wie könnten Alternativen zur Indigenenpolitik der brasilianischen Regierung aussehen?

Zunächst einmal ist zu betonen, dass die indigene Bewegung in den vergangenen Jahrzehnten ja bereits viele Wege vorgedacht und vorgeschlagen hat. Als erster Schritt wurde stets die Garantie von Land gefordert, und zwar durch dessen Abgrenzung. Hierfür ist es natürlich erforderlich, dass ein starker Staat sich keinem Druck von Gegnern dieses Prozesses beugt, der ja Bestimmungen der Verfassung umsetzt. Die Indigenen wollen, dass ihrer jeweiligen soziokulturellen Realität Rechnung getragen wird, wobei der Respekt für die Unterschiedlichkeit von grundlegender Bedeutung ist.

Eine Politik in diesem Sinne muss konkrete Formen indigener Partizipation entwickeln. In den zehn Jahren, in denen die Arbeiterpartei an der Macht ist, wurden jedoch Instanzen geschaffen, in denen den indigenen Vertreter*innen Entscheidungen der Regierung einfach mitgeteilt, und diese somit vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Von der Regierung ist aber nicht nur Respekt vor den Prinzipien der brasilianischen Verfassung einzufordern, sondern ebenso vor den internationalen Abkommen, die Brasilien unterzeichnet hat – zum Beispiel dem Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zur Verteidigung der Rechte indigener Völker. Außerdem muss das als alternativlos dargestellte Entwicklungsmodell grundsätzlich in Frage gestellt werden.

 

Dieser Artikel ist Teil unseres Themenschwerpunkts:

CC BY-SA 4.0 Regierung interessiert sich nicht für die Anliegen der Indigenen von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert