Poonal Nr. 590

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen vom 16. September 2003

Inhalt


MEXIKO

GUATEMALA

PANAMA

ARGENTINIEN

URUGUAY

BRASILEN

BOLIVIEN

CHILE

ECUADOR


MEXIKO

WTO in Cancun: Treffen geplatzt

Von Andreas Behn

(Cancun, 14. September 2003, npl).- „No means no – nein heißt nein,“ skandierten Mitglieder von NGOs im WTO-Konferenzzentrum und feierten die Länder des Südens, die standhaft geblieben waren. Kurz zuvor waren die ersten Vertreter afrikanischer Delegationen im Pressesaal erschienen und hatten erklärt, dass sie die Verhandlungen verlassen hätten. Insgesamt 32 Entwicklungsländer hatten sich dem Entschluss angeschlossen. Damit war die fünfte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation geplatzt – genauso wie schon vor vier Jahren die Tagung in Seattle.

Es waren die sogenannten Singapur-Themen – vor allem Investitionsschutz, Handelserleichterungen und die Deregulierung des staatlichen Vergabewesen -, die das Fass zum überlaufen brachten. In einem Greenroom, so werden die informellen Hintertürgespräche der WTO genannt, war am Sonntag gegen 15 Uhr Ortszeit klar geworden, dass es keinen Konsens mehr geben werde. Insbesondere die EU hatte darauf bestanden, diese Themen in die Verhandlungen aufzunehmen, über 70 Entwicklungsländer und die meisten NGOs hatten dies wiederholt strikt abgelehnt.

Das Scheitern war bereits am Vortag immer wahrscheinlicher geworden. Der mexikanische Konferenzleiter hatte am Samstag ein Kompromisspapier vorgelegt, dass von fast allen Seiten abgelehnt wurde. Insbesondere die Länder des Südens hatten bemängelt, dass ihre Themen und Prioritäten, darunter Schutz lebenswichtiger Güter und Abbau von Agrarsubventionen, erneut nicht oder nur vage auftauchten, während den Industrieländern nur wenig Entgegenkommen zugemutet wurde. Der Entwurf war von vielen als Provokation verstanden worden. Auch wurde in NGO-Kreisen vermutet, dass die erneute Aufnahme der Singapur-Themen dazu dienen sollte, die rebellischen Agrarexporteure aus der G23 zu erpressen: Wir drohen euch so lange mit diesen Themen, bis ihr die Finger von unseren Agrarsubventionen lasst.

Der Versuch seitens der reichen Länder, die seit Tagen insbesondere im Agrarbereich festgefahrenen Verhandlungen mit dem neuen Textentwurf wieder in Fahrt zu bringen, scheiterte auf der ganzen Linie. Beachtenswert ist vor allem, dass die Entwicklungsländer, die sich in unterschiedlichen, teils recht heterogenen Gruppen zusammenschlossen, dem Drängen der Industrieländer nicht nachgegeben haben. Zuvor war bereits El Salvador aus der G23 ausgeschieden, was Beobachtern zufolge bestimmt nicht ganz freiwillig geschehen war. Dadurch, dass sie die Konferenz verlassen haben, zeigten die Länder des Südens, dass die Angst vor Sanktionen und Liebesentzug nicht mehr wichtiger als eigene Wirtschaftsinteressen sind.

Die akkreditierten NGOs und die Protestbewegung in Cancun und dem Rest der Welt feierten das Scheitern der Konferenz als Sieg. Dieses Ende sei „blamabel für die EU und die USA, deren Unverschämtheiten während der ganzen Konferenz gezeigt haben, wie wenig sie für die Ärmsten auf der Welt übrig haben“, erklärte das Netzwerk ActionAid. „Das Scheitern von Cancun ist ein großer Schritt für die Umwelt,“ erklärte BUND-Sprecher Dabiel Mittler.

Im Gegensatz dazu hielten sich die Delegierten der meisten Ländern auf den folgenden Pressekonferenzen eher zurück. Aus Brasilien, dem wichtigsten Land der G23, verlautete, dass die multilateralen Gespräche unbedingt weitergehen sollten, in der Hoffnung, dass der Norden einsehen werde, dass seine Subventionen in der Landwirtschaft abgebaut werden müssten. Brasilien sei gestärkt aus dem WTO-Prozess hervorgegangen, schloss Außenminister Celso Amorim.

Das Ende von Cancun ist auch ein Scheitern der deutschen Delegation. Sie hatte sich am Vortag in Sachen Subventionen erneut unnachgiebig gezeigt und sogar neue Forderungen formuliert. Auch die grüne Agrarministerin Renate Künast hatte sich hinter die offizielle EU-Position gestellt, der zufolge der Großteil der milliardenschweren Agrarsubventionen nach der jüngsten Reform vom Juni dieses Jahres höchstens noch „minimal handelsverzerrend“ seien.

Die beleidigte Leberwurst spielte der US-Handelsbeauftragte Robert Zoellick: „Die Rhetorik der „es geht nicht“-Länder war stärker als die gemeinsamen Anstrengungen der „es geht“-Länder.“ Vor der Presse wiederholte er, dass die USA „jetzt verstärkt darauf setzen werde, bilaterale Abkommen mit einzelnen Ländern abzuschließen“. Sein EU-Kollege Pascal Lamy, der nicht mehr ganz so süffisant wie die Tage zuvor auftrat, erklärte, dass Europa trotz des bedauerlichen Scheiterns der Konferenz weiterhin multilaterale Verhandlungen in der Zukunft setzen werde.

WTO in Cancun: Demonstranten in Cancun setzen auf friedlichen Protest

Von Andreas Behn

(Cancun, 14. September 2003, npl).- Der Showdown blieb aus. Kaum hatten die Demonstranten den dreifach verstärken Metallzaun mit vereinten Kräften niedergerissen, setzten sie sich friedlich auf den Boden. Statt erneut gegen die gut gerüstete Polizei in Richtung WTO-Konferenzzentrum anzurennen, hielten die globalocríticos, die Aktivisten gegen die schrankenlose Liberalisierung des Welthandels, eine Zeremonie ab, um des koreanischen Bauernführers zu gedenken, der am Mittwoch aus Protest politischen Selbstmord begangen hatte.

Am Samstag waren rund 5.000 Demonstranten in Cancun zur zweiten großen Demonstration in Richtung Hotelzone, der für Protestler gesperrten WTO-Tagungsmeile aufgebrochen. Da die meisten Bauernaktivisten bereits abgereist waren, war der Zug kleiner und weniger energisch als noch vor drei Tagen. Nur wenige Schaulustige säumten die Straßen, in denen „Zapata lebt“ und „Die WTO tötet“ skandiert wurde – nachdem in der Nacht zuvor die Scheiben eines Pizza-Hut-Restaurants eingeschmissen worden waren, hatten die

meisten Geschäfte in der Innenstadt geschlossen, viele hatten ihre Schaufenster zugenagelt.

Nach einer Stunde war der Marsch am Beginn des Boulevard Kukulkán, der 20 Kilometer lang durch die Luxus-Hotelzone der karibischen Touristenhochburg führt, zu Ende. Erneut standen sich Demonstranten und Polizei gegenüber, getrennt durch einen imposanten, rostfarbenen Zaun. Doch diesmal waren die Aktivisten besser organisiert: Es war Konsens, keine Gewalt anzuwenden, also keine Steinwürfe oder sonstige Abgriffe auf die Polizisten. Genauso war Konsens, dass der Zaun weg musste.

Sofort ging es dem Drahtgestell mit Bolzenschneidern und Metallsägen zu Leibe. Doch ausschließlich Frauen waren am Werk – zuvor war vereinbart worden, auf diese Weise Eskalationen zu vermeiden: Die Polizei war sichtlich verunsichert, aber auch die zumeist männlichen Hitzköpfe unter den Demonstranten wurden auf Distanz gehalten. Mittels einer Menschenkette wurde ein fünf Meter breiter Bereich vor dem Zaun zur Männerfreien Zone erklärt. „Wir wollen hier friedlich protestieren,“ sagte eine Kanadierin, die wie viele andere ohne jede Vermummung große Löcher in den Draht schnitt. „Alleine brauchen wir zwar länger, aber dafür machen wir es richtig.“

Als an einer Stelle der Zaun genug durchlöchert war, kamen die Bauern zum Zuge. Mitglieder des internationalen Verbandes Via Campesina, vor allem aus Korea, Mexiko und Mittelamerika, befestigten in aller Seelenruhe grobe Seile an den Spitzen des Metallgestells und Hunderte zogen daran. Beim vielleicht achten Versuch wurde der Zaun niedergerissen und beiseite geschafft.

Entgegen den Vorraussagen der Lokalpresse und den Erwartungen der gut postierten Kameraleuten blieb der große Krawall aus. Nach einigen Minuten des Schweigens sagte der Sprecher der koreanischen Landarbeiterdelegation, dass es „Ziel gewesen ist, den Zaun einzureißen, weil uns der Protest vor den WTO-Gebäuden verweigert worden ist. Via Campesina-Präsident Rafael Alegría ergänzte unter großem Applaus: „Sie sagen, wir würden Gewalt anwenden, aber nein, wir haben nur eine Mauer eingerissen, die Mauer der WTO, die Mauer des Hungers, der Ausbeutung und der Straffreiheit.“ Den etwas pathetischen Abschluss der überraschend gelungenen Veranstaltung bildete die Verbrennung einer Plastikpuppe, die die WTO symbolisieren sollte.

Schon das ganze Wochenende hindurch war es kleinen Gruppen von Aktivisten immer wieder gelungen, trotz aller Abriegelungen im oder vor dem Konferenzzentrum zu protestieren. Drei Aktivisten erkletterten einen 70 Meter hohen Kran und ließen fast 14 Stunden lang ein großes Plakat über den Kukulkán-Boulevard flattern. Andere hielten im Pressezentrum kurze Kundgebungen ab oder blockierten für einige Stunden die Straße vor dem Konventionszentrum.

Auch wenn all die Aktionen den Delegierten aus 146 Staaten bei der 5. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation kaum zu Ohren kommen, gehen die auf fünf Tage terminierten Verhandlungen nur höchst stockend voran. Die Streitpunkte sind die gleichen wie im Vorfeld der Tagung: Die Länder des Südens sind sich zumeist einig, dass sie den Industrieländern keine der geforderten Zugeständnisse in Bereichen wie Investitionsabkommen oder weitere Privatisierung der öffentlichen Hand zugestehen wollen, solange ihre Forderungen im Agrarbereich nicht akzeptiert werden. Immer vehementer verlangen sie, dass der Norden seine Handelsschranken und Exportsubventionen im Agrarbereich radikal abbaut, damit dieser Sektor in den Entwicklungsländern nicht durch noch mehr Dumping kaputt gemacht wird.

Für Empörung sorgte am Samstag die zweite Vorlage eines Vorschlags für die Abschlusserklärung der Cancun-Konferenz. Beobachter stimmten darin überein, dass sie in erster Linie die Handschrift der „großen vier“, also EU, USA Japan und Kanada trägt. Große NGOs wie das „Dritte-Welt-Netzwerk“ oder „Global Trade Watch“ bezeichneten die Vorlage als eine „Katastrophe für Entwicklungsländer“ und kritisierten, dass der Text in wichtigen Passagen völlig unverbindlich formuliert sei. Dort, wo konkrete Zahlen, zum Beispiel bezüglich der Reduzierung von Subventionen stehen sollten, finden sich oftmals nur Auslassungszeichen.

Nicht weniger deutlich vielen die Reaktionen wichtiger Gruppen von Entwicklungsländern aus. „Die Vorlage entspricht bei weitem nicht unseren Erwartungen“, besagt eine gemeinsame Erklärung von AKP-Staaten (Afrika/Karibik/Pazifik), Afrikanischer Union und den in der LCD-Gruppe vereinten ärmsten Ländern. Unverständnis äußerten sie darüber, dass plötzlich die von der EU immer wieder gewünschten „Singapur-Themen“ – darunter vor allem der Investitionsschutz – in der Vorlage auftauchen, obwohl über 70 WTO-Staaten mehrfach darauf hingewiesen hatten, dass sie nicht einmal bereit seien, über diese Themen zu reden. Auch beklagten sie, dass ihre eigenen Vorschläge, wie beispielsweise die Sonderbehandlung existenzieller Produkte sowie Sicherheitsmechanismen, „im Textvorschlag vollständig ignoriert werden“. Hegel Goutier, Sprecher der AKP-Gruppe, ergänzte, dass ihre Koalition mit ihren Anliegen sehr stabil sei und dies auch bleiben werde.

Aus den Delegationen von Indien und Brasilien, den beiden wichtigsten Ländern der G22-Gruppe, die großen Druck für den Abbau von Agrarsubventionen entwickeln, verlautete ebenfalls großer Unmut. Auf dieser Grundlage sei ein substanzieller Dialog schwierig, so Indiens Handelsminister. Brasiliens Außenminister listete gleich 15 Punkte auf, in denen die Vorlage verändert werden müsse.

Auch seitens der EU und der USA wurde Kritik geübt, unter anderem da die Export-Interessen der Industrieländer nicht ausreichend berücksichtigt wurden, wie der deutsche Wirtschaftsminister Wolfgang Clement darlegte. EU-Agrarkommissar Franz Fischler und EU-Handelskommissar Pascal Lamy hingegen waren sich auf ihrer Pressekonferenz einig, dass der Text eine Grundlage für die weitere Diskussion darstelle. Wie gehabt beharren sie im Streit mit den Schwellenländern darauf, ihre Agrarsubventionen nicht abzubauen, weil sie nach ihrer Abkopplung von der Produktionsmenge nun in der sogenannten Greenbox angesiedelt seien, was bedeute, dass sie – in Fischlers Worten – „den Handel gar nicht oder nur minimal“ verzerren.

Auch wenn sich die meisten Delegationen optimistisch geben, ist eine Einigung nicht sonderlich näher gerückt. Zumal es am Ende nur eine Abschlusserklärung geben wird, der ausnahmslos alle WTO-Staaten zustimmen müssen. Kaum ein Beobachter in Cancun glaubt noch daran, dass die Verhandlungen wie geplant bis Sonntag abgeschlossen sein werden.

WTO in Cancun: Zwischenbilanz der Konferenz

Von Andreas Behn

(Cancun, 12 September 2003n npl).- Auch am zweiten Tag der WTO-Ministerkonferenz im mexikanischen Cancun sind sich die Ländergruppen in den wichtigen Streitfragen kaum näher gekommen. Nach wie vor steht das Agrarabkommen im Mittelpunkt der Debatten und Statements. Brasiliens Außenminister Celso Amorim erklärte, dass die Entwicklungsländer Zugang zu den Märkten der reicheren Länder bekommen müssten, sonst sei die Glaubwürdigkeit der WTO endgültig verloren. Die Forderungen der ärmeren Länder müssten in Cancun „mehr als eine Fußnote“ sein, so Amorim in seiner stark applaudierten Rede.

Wenig Verständnis für diese Haltung zeigte Japans Außenminister Yoriko Kawaguchi: Ein „exzessiver Zugang“ zu den japanischen Märken laufe den Interessen seines Landes zuwider. Genauso wie die Vertreter von EU und USA lehnte Kawaguchi die Forderung der neugebildeten G21-Gruppe – zu der vor allem die großen agrarorientierten Schwellenländer zählen – nach einem radikalen Abbau der Subventionen in Industrieländern ab.

Obwohl die G21, die inzwischen weiter gewachsen ist, Gerüchte dementierte, dass seitens der USA und der EU Druck auf ihre Länder ausgeübt werde, mehrten sich Berichte, nach denen einzelnen Staaten – wie schon oft in der Vergangenheit -Angebote gemacht wurden, um den Block der Entwicklungsländer aufzuweichen. Zugleich wurde bekannt, dass sich offenbar beide Seiten darauf einigen könnten, über einzelne Produkte und nicht nur über ganze Pakete zu verhandeln, eine Position, die mehrere Sprecher der Länder des Südens im Vorfeld der Tagung zurückgewiesen hatten.

Dennoch ist in Cancun ein neues Selbstbewusstsein der Länder des Südens zu spüren. Sie pochen auf ihre Positionen und Klagen gegen die Industriestaaten, und es ist ihnen mehrfach gelungen, ihre Themen entgegen den offiziellen Diskussionsvorlagen auf die Tagesordnung zu setzen – unter anderem die Frage der Exportsubventionen beispielsweise in der Baumwollproduktion oder die Kritik an der von Europa geforderten Verhandlung über ein Investitionsabkommen. Dabei wissen die Entwicklungsländer nicht nur viele NGOs und die globalisierungskritische Bewegung hinter sich, auch die Öffentlichkeit zumindest in Asien, Amerika und Europa ist im Vergleich zu den früheren Konferenzen in Doha 2001 und Seattle 1999 besser darüber informiert, worüber die 146 WTO-Delegationen hinter verschlossenen Türen und oft in unverständlichen Formulierungen reden und entscheiden. So wiederholten mehrere Vertreter von Entwicklungsländer am Donnerstag ihre Drohung: Ohne Einigung in Sachen Agrarsubventionen und Exporthilfen werde auch es bei anderen Themen mit ihnen keine Einigung geben.

Allerdings darf diese Konfrontation nicht vorschnell als Konflikt zwischen arm und reich interpretiert werden. So sind in der G21 eher die großen Schwellenländer organisiert, und ihr Vorschlag zum Abbau aller Subventionen ist neoliberales Wunschdenken in Reinform. Nicht nur eine ökologisch ausgerichtete Landwirtschaft hat darin keinen Platz. Vor allem die kleinen Agrarproduzenten, die Landlosen, also alle, denen keine Produktion im großen Maßstab möglich ist, würden auf der Strecke bleiben. Auch wenn Länder wie Indien oder Brasilien mehr exportieren könnten, so würden davon doch in erster Linie die auch in Schwellenländern übermächtigen Großagrarier profitieren. Die meisten Bauernorganisationen, die auch vor Ort in Cancun die Proteste mittragen, fordern deswegen einen generellen Abbruch der WTO-Agrarverhandlungen, von denen sie sich für ihre Mitglieder nichts versprechen.

Auch wenn die meisten sozialen Bewegungen auf ein Scheitern aller Verhandlungen in Cancun hoffen, setzen die meisten ihrer Vertreter gleichzeitig auf eine Art strategische Allianz mit den Delegationen der Länder des Südens und den großen NGOs, die sich bereit erklärt haben, unter dem Dach der WTO – allerdings mit stark eingeschränkten Zugangsrechten -mitzureden. Eine mühsame Lobbyarbeit, die verhindern soll, dass wie in Doha die Entwicklungsländer am Ende doch dem Druck der Delegationen aus den Ländern des Nordens nachgeben.

Eines der bisher weniger beachteten Themen, bei denen sich Entwicklungsländer auch gegen die Vorstellungen der Industriestaaten stellen, ist der Abbau von Zöllen bei Industriegütern. Der Vorschlag der WTO-Lobby plädiert dafür, dass alle Staaten ihre jeweiligen Zölle um gleiche Prozentpunkte senken sollen. Da jedoch die Zölle auf Industriewaren in Entwicklungsländern zum Schutz ihrer oft weniger effizienten Produktion höher liegen als in Industriestaaten, läuft dieser Vorschlag darauf hinaus, dass erneut die armen Länder in absoluten Zahlen mehr Schutzmechanismen preisgeben müssen als die reichen Länder.

WTO in Cancun: Zwischenbilanz der Proteste

Von Andreas Behn

(Cancun, 12 September 2003, npl ).- Wie am Vortag bei der offiziellen Eröffnung ist es akkreditierten Aktivisten erneut gelungen, am Sitz der Konferenz im Konventionszentrum zu demonstrieren. Knapp 20 Aktivisten riefen Parolen und zeigten Plakate, mit denen sie gegen die Folgen der Privatisierung von Gesundheitssystemen für die Menschen vor allem in armen Ländern protestierten.

Am Donnerstag Nachmittag gelang es mehreren Aktivisten einer Delegation der koreanischen Landarbeiter, deren Präsident sich am Mittwoch während der ersten großen Demonstration mit Messerstichen selbst getötet hatte, ebenfalls im streng kontrollierten Pressesaal des Konventionszentrums auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Auf einer improvisierten Pressekonferenz formulierten sie ihre Kritik an der WTO und forderten ihre sofortige Abschaffung. Um diese Forderung durchzusetzen, so die Sprecher der Delegation, habe sich Lee Kyang Hae am Vortag entschieden, in aller Öffentlichkeit „politischen Selbstmord“ zu begehen. Die Koreaner zündeten Kerzen an, um des tragischen Todes des 56-jährigen zu gedenken.

Noch in der Nacht waren mehrere Demonstranten erneut an der Absperrung der Hotelzone aufgetaucht, um gegen die WTO und den Polizeieinsatz am Vormittag zu protestieren. Am Abend beriet der internationale Bauernverband Via Campesina, der bis gestern in Cancun das von gut 3.000 Aktivisten besuchte Campesino- und Indigena-Forum ausrichtet hat, ob ihr Zeltlager aus dem Zentrum Cancuns an den Kilometer Null des Boulevards Kukulkan verlegt werden sollte, an den Ort, wo sich der südkoreanische Bauernführer das Leben genommen hatte und wo die Polizei verhinderte, dass die Bauern bis zum Sitz der WTO-Tagung demonstrieren konnten.

Am Mittag wurde der Kilometer Null, der immer mehr zum Kristallisationspunkt der Anti-WTO-Proteste wird, erneut komplett abgesperrt. Der Stahlzaun, der am Vortag fast überrannt worden war, wurde mit Zementblöcken verstärkt und um 300 Meter nach hinten verlegt. Hundertschaften behelmter Polizisten stehen Hunderten Aktivisten gegenüber, die Stimmung ist gespannt. Zu einer Trauerfeier am Nachmittag kamen rund 1.000 Menschen zusammen, darunter auch Repräsentanten der lokalen Behörde.

Mehrfach erklärten die Bauern, die von der Presse vor Ort teilweise als „radikal und gewalttätig“ bezeichnet wurden, dass sie ausschließlich friedlich agieren und demonstrieren würden, sich aber nicht damit abfinden werden, ihren Proteste nicht bis zum Konventionszentrum tragen zu dürfen. Zum Vorgehen mehrheitlich Jugendlicher, die tags zuvor die Polizei mit Steinen und Stangen angegriffen hatten, sagten Vertreter von Via Campesina, dass dies nicht ihr Methoden seien.

Mehrere Aktivitäten, die am nächsten Tag stattfinden sollten, wurden auf den großen runden Platz mit einem Brunnen in der Mitte – direkt am Eingang der Hotelzone – verlegt, darunter das im Zentrum geplante Musikkonzert. Afrikanische Gruppen riefen zu einer Demonstration unter dem Motto „Afrika steht nicht zum Verkauf“ am gleichen Platz auf. Das Begrüßungskomitee der eher parteinahen Protestgruppen aus Mexiko erwog, sich an den Mobilisierungen auf dem Platz zu beteiligen und „mit eher phantasievollen Aktionen zu versuchen, die Lage etwas zu beruhigen,“ so eine Sprecherin gegenüber npl. Die Polizei hielt sich auffällig zurück, offenbar, um nicht erneut zu eskalieren, ergänzte die Sprecherin.

WTO in Cancun: „Politischer Selbstmord“ aus Protest gegen die WTO

Von Andreas Behn

(Cancun, 10. September 2003, npl).- Ein tragischer Todesfall überschattete die erste große Demonstration gegen die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO. Augenzeugen zufolge stach sich ein koreanischer Demonstrant, der die Polizeigitter zum Schutz der Hotelzone erklommen hatte, selbst in die Brust. Wenig später starb der 56-jährige im Krankenhaus an einer Lungenverletzung. Seine Mitstreiter sagten, dass es sich um einen „politischen Selbstmord“ gehandelt habe.

Um 11 Uhr waren rund zehntausend Demonstranten bei sengender Hitze vom Tagungsort des Bauern- und Indígena-Forums in Richtung Hotelzone aufgebrochen. Zuvor hatte der Veranstalter der Demonstration, der internationale Bauerverband Via Campesina, erklärt, trotz des Verbots in die Hotelzone bis zum zehn Kilometer entfernten Konventionszentrum, dem Tagungsort der WTO, marschieren zu wollen. Doch schon nach einige Hundert Metern, am Kilometer Null des Boulevard Kukulkán, der durch die endlose, mit Luxushotels gespickte Landzunge führt, war kein Duchkommen mehr. Bereits in der Nacht hatte die Polizei an dieser Stelle fast drei Meter hohe Zaunelemente zusammengeschweißt, dahinter waren mehrere Hundertschaften und gepanzerte Wagen postiert.

Erfolglos versuchten zuerst die Organisatoren und später der so genannte Ältestenrat der Bauernorganisationen, die Polizei und ihre Vorgesetzen dazu zu bewegen, die Sperre aufzuheben. Danach versuchten mehrere internationale Delegierte der Via Campesina-Organisationen, ihr Vorhaben durchzusetzen: Dem Präsidenten der WTO eine Erklärung des Bauern- und Indígena-Forums zu übergeben, in der sie das Ende der Liberalisierung der Agrarwirtschaft fordern. Auch sie fanden kein Gehör und begannen mit bloßen Händen, die schon zuvor etwas eingedrückten Absperrungsgitter zu durchbrechen, erklärte die Pressesprecherin von UNORCA, Jennifer Lara, gegenüber npl. Sofort prügelte die Polizei auf die vier Via Campesina Delegierten ein, die die Sperre überwinden konnten. Dabei wurden der Präsident des mexikanischen Bauernverbandes UNORCA, Alberto Gomez Flores, und sein baskischer Kollege Paul Nicolson am Kopf verletzt, berichtete Lara weiter.

Daraufhin begannen immer mehr Demonstranten, gegen die Polizei vorzugehen, vor allem junge Vermummte, die mit Steinen und Eisenstangen angriffen. Eingekeilt zwischen der Polizeiprügel und den wütenden Jugendlichen versuchten die Organisatoren der Demonstration, sich zurückzuziehen. Der Absperrungszaun war inzwischen halb eingerissen, auf rund 30 Metern war er niedergetrampelt. Während einige Demonstranten noch über eine Stunde Steine auf die verschanzten Polizisten warfen, die diese meist gleich wieder zurückschleuderten, dirigierten die angeschlagenen Delegierten vom Lautsprecherwagen aus die Mehrheit der Bauern und Indígenas zum anderen Ende des Platzen, um dort die Kundgebung zu beginnen. Laut Polizeiangaben wurden 46 Menschen auf beiden Seiten verletzt, Anwälte sagten, dass keine Festnahmen gemeldet worden seien.

„Es sind Radikalinskis, die aus verschiedenen Städten angereist sind und keine Lust haben, sich an die Abmachungen zu halten“, schimpfte ein Student aus Mexiko-Stadt, der nicht ausschloss, dass unter ihnen auch einige Provokateure waren. Zuvor war Konsens unter den Teilnehmern gewesen, dass der Marsch friedlich verlaufen sollte und dass die Anliegen der Landarbeiterorganisationen im Mittelpunkt stehen sollten.

„Wir sind friedlich und kämpfen gegen die WTO, die für die Gewalt verantwortlich ist,“ so Rafael Alegría, der Präsident von Via Campesina, der den Polizeiprügeln nur knapp entkommen war. Als sich wenig später bestätigte, das der Aktivist aus Südkorea seinen Verletzungen erlegen war, drückte Alegría seine Trauer und Solidarität aus und nannte ihn „ein weiteres Opfer des WTO-Regimes“.

Am frühen Abend versammelten sich Hunderte Menschen zu einer Mahnwache vor dem Zentralkrankenhaus von Cancun. Etwa 50 Koreaner saßen mit Kerzen im Kreis und sangen Lieder. Um sie herum standen Aktivisten aus anderen Ländern. „Unser Genosse Lee Kyang Hae hat sich nicht aus persönlichen Motiven umgebracht, sondern um die Welthandelsorganisation zum sofortigen Stopp ihrer Verhandlungen zu bewegen,“ erklärten Mitglieder der koreanischen Bauernorganisation KCTU, die ebenfalls Mitglied in dem internationalen Dachverband Via Campesina ist. Sein Tod sei „nicht unerwartet“ gekommen und sei im Sinne der koreanischen Tradition als Teil des politischen Kampfes zu verstehen.

Rund 200 Aktivisten war es schon am Mittwoch Morgen zu Beginn der offiziellen Eröffnung der Konferenz im hermetisch abgeriegelten Konventionszentrum gelungen, ihren Protest kundzutun. Einige hielten Plakate hoch, andere hatten sich aus Protest gegen den antidemokratischen und ausschließenden Charakter der WTO die Münder mit Klebeband verschlossen. Minutenlang konnten sie die Rede des mexikanischen Außenminister Derbez mit Buhrufen stören, während der größte Teil des Publikums stur nach vorne blickte, als sei nichts geschehen. Als die Gruppe versuchte, zum Rednerpult vorzudringen, auf dem Mexikos Präsident gerade seine Grußworte an die 2.000 anwesenden Delegierten formulierte, wurden die Demonstranten von Sicherheitskräften aufgehalten und aus dem Saal geführt. Durch Akkreditierungen über NGOs war es ihnen gelungen, an der Veranstaltung teilzunehmen.

WTO in Cancun: Erste Demonstration verursacht Verkehrschaos

Von Andreas Behn

(Cancun, 10- September 2003, npl).- „Hauptsache es gibt keinen Krawall. Denn hier leben wir alle vom Tourismus, und wenn alle Welt auf uns schaut, kann der gute Ruf von Cancun schaden nehmen.“ Besorgt schaut der Taxifahrer auf die behelmten Polizisten, die hektisch über die gegenüberliegende Fahrbahn laufen. „Hab ich's doch gesagt, diese Wirtschaftskonferenz hat noch nicht einmal begonnen und schon geht's los.“

Einige Hundert Demonstranten, zumeist Studenten und Aktivisten aus Mexiko-Stadt, hatten sich am Dienstag Vormittag zu einer ersten spontanen Demonstration zusammen gefunden, vom Zeltlager der Aktivisten hin zum Eingang der Hotelzone, der No-Go-Area für nichtakkreditierte Gegner der Welthandelsorganisation WTO, die in dem mexikanischen Karibikbad ihre 5. Ministerkonferenz abhält. Doch zu einer Blockade der breiten Zufahrtsstraße kam es nicht, das übernahm schon die Polizei, die in Windeseile den ganzen Bereich für Stunden absperrte. Sofort brach in der 20 Kilometer langen Hotelzone der Verkehr zusammen, und das Gerücht, Cancun werde im Chaos versinken, bekam neue Nahrung.

Dabei sind viele der Organisatoren der Protesttage derzeit eher mit sich selbst beschäftigt, nach wie vor gibt es Streit untereinander. Viele sind über die Gruppen rund um das so genannte Empfangskomitee, die das Sozialforum veranstalten, verärgert. Sie seien von der gemäßigt linken Partei PRD dominiert und würden andere Gruppen in den Hintergrund drängen, so der Vorwurf seitens der internationalen Bauernorganisation Via Campesina, die deswegen ihr Campesino- und Indígena-Forum in Eigenregie organisieren. Auch die zumeist jungen Aktivisten, die eher für direkte Aktionen plädieren, wollen mit parteinahen Gruppen wenig zu tun haben, kritisieren aber ebenso die NGOs, die der Gesprächseinladung der WTO gefolgt sind und darauf setzen, durch ihre Präsenz bei der Konferenz Einfluss auf die Entscheidungen zu nehmen.

Nicht nur die Zwistigkeiten verbreiten schlechte Laune. Zwar kommen weiterhin stündlich mehr Aktivisten in Cancun an, doch wurden inzwischen die Schätzungen der Teilnehmerzahl nach unten korrigiert – statt 20.000 sollen es jetzt „weit über 10.000“ werden. Daran sind aber auch die mexikanischen Behörden schuld, die plötzlich von Menschen aus Mittelamerika bis zu 100 US-Dollar Visumsgebühr verlangen – viele mussten daraufhin die Reise abbrechen.

Auf dem Campesino- und Indígena-Forum, das wie das Frauenforum – das mit Unterstützung der Böll-Stiftung in einem Hotel im Zentrum der Stadt Cancun stattfindet – schon seit Montag läuft, ist die Stimmung weiterhin kämpferisch. Der Präsident von Via Campesina, der Honduraner Rafael Alegría, erteilte jeglichen Gesprächen mit der WTO eine Absage. „Über Lebensmittel kann nicht verhandelt werden,“ so der stämmige Mann, der weltweit Millionen Landarbeiter vertritt. „Das WTO-Agrarabkommen gefährdet die Lebensgrundlage in den armen Ländern. Deswegen werden wir bis zum Sitz der Konferenz demonstrieren, wir lassen uns das Recht auf Meinungsäußerung nicht nehmen“ so Alegría.

Bei brütender Hitze finden den ganzen Tag über Workshops statt, zumeist unter großen Zelten, die auf dem weitläufigen Sportplatz-Gelände rund 20 Minuten Fußweg vom Zentrum stehen. Es geht um Anbaumethoden, um Kritik an genverändertem Saatgut oder um die Frage, wie Widerstand länderübergreifend organisiert werden kann. Geduldig werden lange Erfahrungsberichte aus den verschiedenen Regionen angehört – es ist ein schwieriger Prozess, ohne große technische und finanzielle Mittel eine Bewegung aufzubauen. Doch inzwischen ist es den indigenen- und bäuerlichen Aktivisten gelungen, zumindest in Lateinamerika zur stärksten und schlagkräftigsten Bewegung zu werden.

Highlight des Tages war, als am Vormittag Solidaritätsbotschaften von drei Kommandanten des zapatistischen Befreiungsheeres EZLN eintrafen. „Es ist nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass diejenigen, die sich für die Herren des Planeten halten, sich hinter ihren hohen Mauern und Sicherheitskräften verstecken müssen, um ihre Pläne auszuhecken,“ schrieb Subcomandante Marcos den Aktivisten von Via Campasina und wünschte ihnen viel Erfolg. „Wenn wir Respekt für die Frauen einfordern, erwarten wir dies nicht nur von den Neoliberalen,“ so die Botschaft der zapatistischen Comandante Esther. „Daran müssen sich auch diejenigen halten, die gegen en Neoliberalismus kämpfen und sagen, sie seien Revolutionäre, sich aber in ihrem Haus verhalten wie Bush.“

Wenig Neues zum Thema Agrarstreit gab es am Vorabend der WTO-Konferenz seitens der offiziellen Delegationen. Die gefragtesten Akteure, EU-Handelskommissar Pascal Lamy und sein US-Pendant Robert Zoellick, hielten nacheinander Pressekonferenzen ab. Tenor: Wenn wir uns einigen, gewinnen alle – wir sind für mehr Freihandel, aber nur, wenn auch die anderen Länder Freihandel zulassen. Gemeint sind diejenigen, die immer vehementer fordern, dass die USA und die EU ihre Agrarsubventionen abbauen, durch die sie mit Dumpingexporten in arme Ländern die dortige Produktion gefährden und zuhause ihre Märkte vor Importe schützen.

Doch nicht einmal ein Anruf von US-Präsident Bush bei seinem brasilianischen Kollegen Lula da Silva konnte offenbar den überraschend hartnäckigen Unmut vieler Entwicklungsländer besänftigen. Im Gegenteil: Am Dienstag forderte die G21-Gruppe, der neben Brasilien, Argentinien, Indien, China, Südafrika und anderen agrarexportierenden Staaten seit gestern auch Ägypten angehört, dass ihr Vorschlag für ein Agrarabkommen genauso behandelt werden solle wie die Vorlage, die der WTO-Präsident vorgestellt hatte. Darin fordern die 21 Länder, dass die Industriestaaten ihre marktverzerrenden Subventionen vollständig abbauen müssten, um ärmeren Ländern gleiche Handelsbedingungen zu gewähren.

Erwartungsgemäß lehnte Zoellick das Ansinnen auf Nachfrage von Journalisten ab, ebenso wie EU-Agrarkommissar Franz Fischler, der die Erwartungen der Staaten des Südens für gänzlich unrealistisch hält. Die G21 betont hingegen, dass ihre Erklärung dem Geist der vorhergehenden Ministerkonferenz 2001 in Doha entspreche und der offiziellen Vorlage gleichzustellen sei, weil sie 63 Prozent der landwirtschaftlichen Produzenten vertrete.

WTO in Cancun: Interview mit Rafael Alegría

Von Andreas Behn

(Cancun, 10. September 2003, npl).- Der Honduraner Rafael Alegría ist Präsident von Via Campesina. Der internationale Dachverband von Landarbeiterorganisationen richtet das Bauern- und Indígena-Forum während der Protesttage in Cancun aus.

npl: Welches Ziel verfolgen sie auf diesem Protestforum gegen die WTO?

Rafael Alegría: Es geht um mehrere Dinge: Wir wollen die Organisationen aus verschiedenen Ländern der Welt einander näher bringen und eine Zusammenarbeit auch mit den indigenen Organisationen ermöglichen. Gleichzeitig protestieren wir gegen die Ministerkonferenz der WTO und fordern in erster Linie, dass sie sofort jegliche Verhandlungen zum Thema Landwirtschaft beendet und keinerlei Abkommen über Nahrungsmittel abschließt. Lebensmittel sind nicht irgendwelche Waren, die mittels Angebot und Nachfrage auf internationalen Märkten oder den Börsen der großen Länder gehandelt werden sollten.

npl: Sie sind also nicht bereit, einen Dialog mit der WTO zu führen?

Rafael Alegría: Unsere Strategie setzt nicht auf Verhandlungen. Wir glauben, dass es mit der WTO gar nichts zu verhandeln gibt, da sie eine illegitime Organisation ist, ein Instrument der multinationalen Unternehmen. Zudem geht es hier gar nicht um freien Welthandel, sondern um einen Markt, den die Multinationalen kontrollieren, um ihre Waren bei uns zu verkaufen.

npl: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass im Falle eines Scheiterns der WTO-Konferenz noch mehr bilaterale Handelsabkommen geschlossen werden, bei denen die armen Länder eine noch schlechtere Verhandlungsposition haben?

Rafael Alegría: Nein, denn das Problem liegt darin, dass das, was die WTO beschließt, in allen Mitgliedsländern zum Gesetz wird. Da normalerweise zuerst die Verfassung, dann internationale Abkommen und erst danach die Gesetze kommen, müssen die Regierungen die WTO-Richtlinien umsetzen. Natürlich sind wir auch gegen solche bilateralen Abkommen wie beispielsweise die geplante Gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA.

Ich glaube, dass einzelne Länder durchaus in der Lage sind, bilaterale Verträge in ihrem Sinne auszuhandeln, da sie dabei autonomer agieren können. Hinzu kommt, dass bei der WTO die reichen Länder als Block auftreten, und es ist schwer, ihnen die negativen Folgen ihrer Haltung für andere Länder verständlich zu machen.

npl: Gibt es keine alternativen Vorschläge?

Rafael Alegría: Die Alternative sind regionale Abkommen wie der MERCOSUR, der von Brasilien und Venezuela vorangetrieben wird. Gut wäre auch ein gemeinsamer mittelamerikanischer Markt. Was wir brauchen ist zuerst eine regionale Integration und dann eine globale.

Hinzu kommt das Problem, dass die WTO nicht nur über Handel redet. Es geht auch um Investitionen, was unter anderem zur Folge haben kann, dass sich die multinationalen Unternehmen unsere natürlichen Ressourcen aneignen. Eine weitere Lüge ist die Behauptung, dass diese Unternehmen in unseren Ländern investieren. Sie kaufen lediglich das, was schon da ist. Sie kaufen die Staatsbetriebe, kaufen und verkaufen Firmen untereinander, entlassen

Arbeiter, es geht dabei schlicht um Privatisierungen. Und zu guter letzt, wenn es Konflikte gibt, dann macht sich die WTO auch noch zum Richter.

npl: Wen repräsentiert Via Campesina?

Rafael Alegría: Weltweit hat Via Campesina Mitgliedsorganisationen in Afrika, Asien, Europa und Lateinamerika, insgesamt repräsentiert der Dachverband 60 Millionen Bauern, Männer wie Frauen, Indígenas, Landarbeiter und Landlose. In meinem Land Honduras, das derzeit den Sitz von Via Campesina beherbergt, gibt es 10 Mitgliedsorganisationen, in denen 250.000 Menschen eingeschrieben sind.

WTO in Cancun: Interview mit Tetteh Hormeku

Von Andreas Behn

(Cancun, 11. September 2003, npl).- Tetteh Hormeku kommt aus Ghana, ist Afrika-Repräsentant der internationalen NGO „Third World Network“ und Vertreter des African Trade Network. Er spricht über die Bedeutung der so genannten Singapur-Themen (Investitionen, Wettbewerb, Handelserleichterung und öffentliches Beschaffungswesen) während der WTO-Konferenz.  

npl: Soll in Cancun über die so genannten Singapur-Themen, insbesondere über ein Investitionsabkommen verhandelt werden?

Hormeku: Das Dritte-Welt-Netzwerk ist der Ansicht, dass diese Themen nicht in den Bereich der Welthandelsorganisation fallen. Einerseits, weil sie nicht handelsbezogen sind. Andererseits, weil es ausschließlich Industriestaaten sind, die diese Themen in die Agenda aufnehmen wollen, also die EU, USA, Kanada und Japan. Ihr Ziel ist es, die Macht der WTO dazu zu nutzen, ihren Unternehmen den Zugang zu afrikanischen und anderen Entwicklungsländern zu erleichtern. Sollten sie Erfolg haben, würde dies schwerwiegende Konsequenzen für die Entwicklungsländer haben, denn unsere Regierungen würden die Flexibilität und die Rechte verlieren, die sie brauchen, um eine sinnvolle Wirtschafts- und Entwicklungspolitik zu betreiben. Kein einziges Abkommen in diesem Bereich darf verabschiedet werden.

npl: Wie stehen die Regierungen der Länder des Südens zu dieser Frage?

Hormeku: Nur unter Zwang haben sich die Entwicklungsländer bereit erklärt, diese Themen zu diskutieren. Seit sie während der WTO-Ministerkonferenz 1996 auf den Tisch kamen, kritisieren die Staaten, dass die Industrieländer alles andere als die Entwicklungschancen der armen Länder im Sinn haben. Denn die Interessen ihrer sowie der multinationalen Unternehmen auf der einen Seite und die der Unternehmen in unseren Ländern gehen weit auseinander. Dennoch sehen sich die Entwicklungsländer weiterhin genötigt, über diese Themen zu reden.

npl: Themen wie ein rechtsverbindlicher Investitionsschutz für Unternehmen sind oft schon Bestandteil von bilateralen Abkommen. Könnte die WTO nicht ein Forum der Entwicklungsländer sein, um dieser Tendenz einen Riegel vorzuschieben?

Hormeku: Es stimmt, dass die Industrieländer sehr viele Instrumente nutzen, um ein und dasselbe Anliegen durchzusetzen. Deswegen ist es wichtig, das die Entwicklungsländer sich zusammenschließen und ein gemeinsames Bewusstsein entwickeln, um gegen solche Abkommen vorzugehen, wo immer sie auftauchen. Zudem ist die WTO der schlechteste Ort für solche Verhandlungen, weil diese Organisation auch über einen Streitschlichtungsmechanismus verfügt, der das Recht hat, Sanktionen zu verhängen. Deswegen sollten solche Verhandlungen jetzt bei der WTO gestoppt werden und dann Schritt für Schritt auch in anderen Vertragswerken.

npl: Werden die Entwicklungsländer mit ihrer Position in Cancun durchkommen?

Hormeku: Heute Nachmittag haben die Entwicklungsländer wiederholt, dass sie keine Verhandlungen zu diesen Themen haben wollen. Leider haben sie jedoch nicht die Möglichkeiten, Druck auszuüben, wie es die entwickelten Länder haben. Deswegen ist Solidarität der Länder untereinander nötig, wie auch die von Gruppen der Zivilgesellschaft sowohl im Süden als im Norden.

npl: Gibt es wirklich eine Allianz zwischen den Regierungen der Entwicklungsländer und den globalisierungskritischen NGOs?

Hormeku: Ja, natürlich, auch wenn NGOs in ihren Forderungen oft radikaler sind, auch meine Organisation. So sind wir der Meinung, dass die Entwicklungsländer niemals den Gesprächen über diese Themen hätten zustimmen dürfen. Aber wir sind uns sicher, dass sich unsere Forderungen im wesentlichen mit denen der Entwicklungsländer decken. Ich betone, im wesentlichen, im Detail mag es Unterschiede geben.

Deswegen halte ich es für wichtig, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Dabei sollte es nicht nur um eine Allianz der NGOs im Süden mit den Regierungen von Entwicklungsländern gehen, auch die zivilen Organisationen im Norden sollten realisieren, dass das, was ihre Regierungen in Entwicklungsländern anrichten, nicht korrekt ist.

WTO in Cancun: Interview mit Brisa Solis

Von Andreas Behn

(Cancun, 12. September 2003, npl).- Brisa Solis ist Mitarbeiterin des Organisationskomitees, das die Protesttage und das Sozialforum in Cancun anlässlich der WTO-Ministerkonferenz vorbereitete.

npl: Waren die vergangenen fünf Protesttage aus Sicht der Organisatoren ein Erfolg?

Brisa Solis: Wir wussten im Voraus nicht, wie intensiv die soziale Mobilisierung wirklich werden würde. Zum Beispiel haben wir die Zahl der Leute, die hierher gekommen sind, überschätzt. Zufrieden sind wir in erster Linie darüber, dass die soziale Bewegung überhaupt existiert, und dass viele Mexikaner bis nach Cancun gekommen sind. Das ist ein neuer Prozess, und wenn etwas neu ist, werden auch viele Fehler gemacht.

Außerdem ist es natürlich unmöglich, eine soziale Bewegung zu institutionalisieren, das heißt, es kann ein Dialog und Infrastruktur vorbereitet werden, aber es ist die Bewegung selbst, die in jedem Moment definiert was passiert.

npl: Was würdet ihr bei einem nächsten Mal anders machen?

Brisa Solis: Es gibt schon einige neue Ideen, aber zuerst müssen die beteiligten Gruppen reflektieren, was hier alles passiert ist, in welche Richtung sich die Bewegung weiter entwickeln will. Aus meiner Sicht waren die inhaltlichen Foren eine gute Gelegenheit für Dialoge und Proteste. Aber ein Großteil der Bewegung hat daran offenbar kein Interesse. Unter uns existiert einerseits sehr viel Kreativität, Magie und neue Widerstandsformen. Dann gibt es eine andere Fraktion, die sehr wütend ist, die es satt hat, an Institutionen zu glauben.

npl: Gab es viel Streit zwischen einzelnen Gruppen?

Brisa Solis: Streit gab es auf drei Ebenen. Zuerst einmal auf lokaler Ebene, da es eine Gruppe gab, die vor Ort die Proteste ermöglichen wollte und dazu ihre eigenen politischen Kontakte ins Spiel brachten. Mit ihnen waren die wenigen anderen sozialen Kräfte hier in Cancun nicht einverstanden, so dass es zu Streitigkeiten kam.

Auf nationaler Ebene gab es einen sehr schweren Bruch. Da ist zum einen der internationale Bauernverband Via Campesina, der bei den globalen Mobilisierungen eine extrem wichtige Rolle spielt und in gewisser Weise darauf beharrte, dass das Thema Landwirtschaft das wichtigste sei. Auf der anderen Seite gab es ganz viele Gruppen, die für unterschiedliche Themen standen, Jugendliche, Frauen, für die Rechte von Kindern oder Indígenas, also eine pluralere Vision. Der Bruch war so stark, dass es nicht möglich war, zwei gemeinsame Demonstrationen zustande zu bringen. Sogar der Dialog wurde abgebrochen.

Auf internationaler Ebene war beispielsweise die Rolle vom OWINFS (Our World Is Not For Sale) sehr wichtig, auch ohne die Realität in Mexiko zu kennen gelang es ihnen, viele Organisationen unter einen Hut zu bringen. Die Gruppe versuchte auch im internen Streit zu vermitteln, was aber nicht ganz gelang. Auch wollte OWINFS nicht einsehen, dass es noch andere Kräfte gab, die hier vermitteln konnten.

Mein Eindruck war, dass die Gruppen untereinander unheimlich viel diskutiert haben, manchmal geradezu ohne Sinn und Verstand, und dabei übersahen sie andere Akteure, die soziale Bewegung als solche, die Musik machen wollte, die nicht an Foren teilnehmen wollte, die nur Schreien wollte und wütend war, während die Organisatoren vor allem die Infrastruktur für einen Dialog schaffen wollten.

npl: Wie kamen die Foren an?

Brisa Solis: Es gab sehr wenig Interesse an den Foren. Die Leute wollten lieber auf der Straße sein, während die Organisatoren reden oder Vorschläge entwickeln wollen. Das ist eine Herausforderung für die Zukunft: Wie können diese beiden Seiten, die sich gegenseitig brauchen, besser zusammen spielen?

npl: Wart ihr gut vorbereitet?

Brisa Solis: Ich finde nicht. Für Mexiko ist der Protest gegen die Globalisierung ein recht neues Thema. Es fehlt vor allem die Bereitschaft, die anderen anzuerkennen – die Gewerkschaften, die Frauen, die Jugendlichen – um gemeinsam eine Bewegung zu artikulieren. Das war auch die Ursache für viele Streitigkeiten. Zum Beispiel darüber, welche Gruppe wichtiger ist und wer ganz vorne laufen darf, eine unsinnige Diskussion, die viel Kraft gekostet hat. Schlimm waren auch die vielen Diskussionsrunden, auf denen rein gar nichts gelöst oder beschlossen wurde. Da fehlte auch eine Gruppe, die eher pragmatisch und weniger politisch agiert.

GUATEMALA

Verschwinden eines Kindes untersucht

(Montevideo, 6. September 2003, púlsar).- Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte beendete die Untersuchungen zum Fall eines Jungen, der im Jahr 1981 im Alter von 14 Jahren durch Regierungshände verschwand. Bis heute weiß man nichts über den Verbleib des Jungen oder seiner sterblichen Reste.

Die Information wurde durch eine gemeinsame Mitteilung der Gruppe Angehöriger von Verschwundenen GAM (Grupo de Apoyo Mutuo) und des Büros für Menschenrechte des Erzbischofs von Guatemala bekannt gemacht. Marco Antonio Molina Theissen wurde im Oktober 1981 von Militärs aus seinem Haus entführt. Man vermutete eine Vergeltungstat, da die Schwester des Entführten ein paar Tage zuvor aus einer Militäranstalt geflohen war.

Im Laufe des von der Regierung Guatemalas unter dem Vorwand der Guerilla-Bekämpfung begonnenen schmutzigen Krieges verschwanden 45.000 Menschen. Viele davon fanden bei Exekutionen in den Städten oder bei Massakern ganzer Dörfer auf dem Lande den Tod.

PANAMA

26 Prozent der Bevölkerung lebt in extremer Armut

(Montevideo, 6.September 2003, púlsar).- Nach Angaben eines Berichtes des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen hat Panama vier mal so viele Ressourcen wie nötig wären, um seine Bevölkerung zu ernähren. Dennoch leben 42 Prozent der Panamesen in Armut und können ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die “ panamesische Armut mehr aus der schlechten Verteilung der Ressourcen herrührt als aus der Knappheit der Ressourcen“. Das Land hat 2,8 Millionen Einwohner und alle könnten in Würde leben, aber es leben nicht weniger als eine Million Menschen in Armut.

Von diesen sind 26 Prozent extrem arm, das heißt, sie können ihre Grundversorgung an Ernährung nicht sicherstellen. Die Einkünfte der etwa ein Prozent Reichen des Landes entspricht den gesamten Einkünften der Hälfte der ärmsten Bevölkerungsanteile.

ARGENTINIEN

Für ein anderes Kommunikationsrecht

(Buenos Aires, 8. September 2003, púlsar). Der Verband der Medienarbeiter*innen Argentiniens (Federacion de los Trabajadores de la Comunicacion de Argentina), der verschiedene JournalistInnenorganisatione des Landes umfasst, hat ein wichtiges Dokument zum Radiodiffusions-Gesetz veröffentlicht.

Das Schreiben schlägt die Revision des Gesetzes vor. Außerdem fordert es, dass anstatt der „Freiheit der Firmen“ die freie Berufsausübung der Journalist*innen geschützt wird. Der Verband fordert von der Regierung auch die Beteiligung der Organisationen von Medienarbeiter*innen und Kulturschaffenden an der Debatte über die Art von Kommunikation, die im Land gebraucht wird.

Außerdem wird darauf aufmerksam gemacht, dass das zur Zeit gültige Gesetz durch die Militärdiktatur in Kraft gesetzt worden war. Der Verband der Medienarbeiter*innen spricht sich zudem für die Vergabe von Lizenzen für über 5.000 Radios (Mittel- und Kurzwelle) im gesamten Land aus, in denen 50.000 professionelle Medienarbeiter*innen tätig sind.

In Erinnerung an ein jüngst gefasstes Gerichtsurteil, das den Artikel 45 des Radiodiffusionsgesetzes für verfassungswidrig erklärt hat, bestärkt der Verband seine Unterstützung für die kleinen Kommunikationsmedien auf lokaler und regionaler Ebene, zumal diese eine reiche kulturelle und soziale Vielfalt zum Ausdruck brächten und täglich eine Kommunikation jenseits der monopolisierten Massenmedien aufbauten.

URUGUAY

Operation Karotte

(Montevideo, 6. September 2003, púlsar).- Vergangenen Freitag (05.09.03) veröffentlichte eine Zeitung aus Uruguay das erste offizielle Dokument, in dem Beweise über die „Operation Karotte“ erbracht werden. Bei dieser Operation ging es um die Beseitigung der Leichen von Verschwundenen gegen Ende der Diktatur. Die Toten waren auf dem Gelände des Bataillons 13 der uruguayischen Infanterie begraben worden.

Das Dokument handelt von einem Übereinkommen zwischen dem Arbeitsministerium und dem Amt für Nachschub und Bewaffnung, um Arbeiten auf dem Gelände des Bataillons anzuweisen. Das Dokument wurde dem Richter übergeben, der die Untersuchungen über den Verbleib der Überreste von Maria Claudia Irureta Goyena führt. Irureta Goyena ist die Schwiegertochter des argentinischen Poeten Juan Gelman. Sie wurde, so nimmt man an, an irgendeinem Ort auf dem Kasernengelände begraben. Ebenso geht es um den Fall der Lehrerin Elena Quinteros, die ermordet und möglicherweise ebenfalls dort beerdigt wurde.

Bis jetzt gab es keine Hinweise in offiziellen Dokumenten, die die Existenz solcher Tätigkeiten auf dem Gebiet des 13. Bataillons Ende 1984 belegt haben. Man nimmt jedoch an, dass auf dem Gelände mindestens acht Leichen von Verschwundenen aus Uruguay begraben sind und wahrscheinlich zwei weitere mit argentinischer Nationalität.

BRASILEN

Panará-Indigenas werden entschädigt

(Lima, 27.August 2003, na-poonal).- Das Volk der Panará hat allen Grund zu feiern: Am 29. Juli hat die brasilianische Regierung ihnen eine Entschädigung in Höhe von 261.153 Real (420.000 US-Dollar) gezahlt. Bei der Zahlung handelt es sich um eine Wiedergutmachung für den Schaden, den das Indígenavolk durch die Vertreibung von ihrem Land und die Zwangsumsiedlung erlitten hat, die durch den Bau der Fernstraße BR-163 verursacht wurde. Die BR-163 verbindet die Cuiabá im Bundesstaat Mato Grosso mit dem am Amazonas gelegenen Satarém im Bundesstaat Pará.

Im Zuge der Vorbereitungen dieses Straßenbaus wurde in den Siebzigerjahren der Kontakt zu den Panará hergestellt. In der Folge wurde die gesamte Gemeinschaft gegen ihren Willen ins Indianerreservat Xingu in Mato Grosso gebracht. Dort starben die meisten von ihnen an Krankheiten wie Grippe oder Durchfall.

Die Entschädigung ist das Ergebnis einer Klage, die 1994 von den Vertriebenen selbst angeregt und von Anwälten des Instituts für Gesellschaft und Umwelt (Instituto Socioambiental ISA) geführt wurde. Erstmalig hat die brasilianische Justiz in diesem Fall von moralischer Schädigung durch staatliche Politik den Schadensersatzansprüchen eines Indígenavolkes stattgegeben.

Auf einer Versammlung besprachen die Indígenas die Verwaltung der Mittel und beschlossen, die Summe für eine Investition beisammen zu halten und lediglich auf die Zinsen zuzugreifen, um die Alltagsausgaben der Gemeinschaft zu bestreiten.

Das Geld ist nun der Grundstein des neu eingerichteten Unterstützungsfonds der Panará, den sie Kypakre – das Loch, in das die Schildkröte ihre Eier legt – getauft haben. In diesen Fonds können Einzelpersonen und Organisationen Gelder zur Unterstützung der Panará einzahlen. Der erste Beitrag stammt von den Anwälten der Panará, die ihre gesamten Honorare in Höhe von 125,636 Real (41.800 US-Dollar) zurück schenkten.

Nachdem die Panará über 20 Jahre lang ein wechselvolles Leben unter widrigen Umständen im Reservat führen mussten, war es ihnen 1996 gelungen, einen Teil ihres Landes, das am oberen Flusslauf des Iriri in Pará liegt, zurückzugewinnen. Dort ließen wo sie sich endgültig nieder und gründeten die Siedlung Nasepotiti. Das ist der erste historische Sieg der so genannten „Riesenindianer“, wie man ihrer Körpergröße wegen dieses erste Indígenavolk nannte, mit dem man in den Siebzigerjahren in Verbindung trat.

Dass nun der brasilianische Staat mit einer Ausgleichszahlung für moralische Schädigung aufkommt, ist ein wahrer Markstein in der Widerstandsgeschichte dieses mutigen Volkes, das trotz seiner fast vollständigen Auslöschung 1973 in der Lage war, sich zu erholen und seine alte Identität wieder herzustellen.

BOLIVIEN

Bauernprotest geht weiter

(Montevideo, 8. September 2003, púlsar).- Tausende Bauern wenden sich mit Protestmärschen und anderen Mobilisierungen gegen den Verkauf von Gas an die USA und gegen die sozioökonomischen Maßnahmen der Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada. Am vergangenen Wochenende versammelten sich Bauernvertreter und beschlossen, aus der Hochebene im Norden, aus der Mitte und aus dem Süden zu mobilisieren.

Rodolfo Calle, Geschäftsführer der Gewerkschaft Federación Síndical Única de Trabajadores Campesinos, bestätigte, dass die geplanten Protestmaßnahmen zur Beachtung ihrer Forderungen von der Sperrung bis hin zur Besetzung der Strassen reichen könnten. Die Regierungsverantwortlichen haben ihrerseits eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Proteste auszuhebeln. So haben sie beispielsweise eine verstärkte Patrouille am Sitz der Regierung in La Paz verfügt.

CHILE

Protest von Jugendlichen geht weiter

(Montevideo, 5. September 2003).- Einer der drei Jugendlichen, die mit einem Hungerstreik gegen den Menschenrechts-Entwurf der Regierung protestieren, ist wegen Hepatitis ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die beiden anderen – Kinder der während der Diktatur Augusto Pinochets Ermordeten – führen ihren Hungerstreik fort.

Bei Protesten gegen die staatliche Menschenrechtspolitik wurden 20 Jugendliche im Regierungsgebäude festgenommen. Sie wollten mit ihrer Aktion die Hungerstreikenden unterstützen. Die Demonstranten lasen eine Deklaration vor, in der sie sich gegen das Amnestiegesetz aussprechen. Dieses Gesetz war von Pinochet selbst verfügt worden, um die Täter der Diktatur vor Strafverfolgung zu schützen.

Auch forderten sie den Rückzug von Militärs, die in Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren. Zudem klagen sie eine höhere Anzahl von Richtern ein, die sich ausschließlich mit der Untersuchung von Verbrechen während der Pinochet-Diktatur zwischen 1973 und 1990 befassen sollen. Präsident Ricardo Lagos erklärte, seit dem Militärputsch vor 30 Jahren habe sich Chile von einem polarisierten Staat zu einem Land des Konsens verwandelt. „Aber die Wunden durch die Verletzung der Menschenrechte sind weiter offen,“ räumte der trotzdem ein.

ECUADOR

Gutiérrez sucht Unterstützung der Militärs

Von Luis Angel Saavedra

(Quito, 27. August 2003, na).- Der ecuadorianische Präsident Lucio Gutiérrez vollzog eine politische Kehrtwende. Er bildete ein neues Bündnis mit genau den traditionellen rechten Parteien, die er während seiner Wahlkampagne kritisiert hatte. Der Richtungswechsel wurde nach dem Bruch mit der Indígenabewegung Pachakutik, dem bis dahin wichtigsten Koalitionspartner der Regierung, vollzogen.

Seit dem Antritt der Regierung Gutiérrez vor neun Monaten gab es Anzeichen für eine Spaltung innerhalb der Regierungskoalition. Das Bündnis, das ihn an die Macht gebracht hatte, stützte sich auf die Indígenabewegung Pachakutik, die wichtigste politische Kraft Ecuadors, und auf die demokratische Volksbewegung (Movimiento Popular Democrático), die größte linke Partei der Andenrepublik.

Aufgrund der Entschlossenheit der Regierung, allen Vorschlägen des internationalen Währungsfonds (IWF) zu folgen, entfremdeten sich beide Seiten bereits in den ersten Wochen von Gutiérrez' Machtübernahme. Daran konnten auch Verhandlungen der wichtigsten Köpfe von Pachakutik nichts ändern. Pachakutik ist der politische Arm des Bundes der Indígenen Völker Ecuadors CONAIE (Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador). „Er hörte uns nicht zu“ sagte die bisherige Außenministerin Nina Pacari lapidar, als sie das Ministerium verließ. Ihre Aussage spiegelte deutlich die politische Lage innerhalb der Allianz wider.

Gleichzeitig entwickelte sich seit Ende Februar eine offensichtliche Annäherung von Gutiérrez an die extrem rechte christlich-soziale Partei PSC (Partido Social Cristiano). Am Anfang handelte es sich um mehrere Gespräche zwischen dem Staatschef und den wichtigsten Sprechern der Partei. Danach kam zu einem privaten Dialog mit dem umstrittenen ehemaligen Präsidenten und PSC-Politiker León Febres Cordero, der zwischen 1984 und 1988 Ecuador regiert hat.

Patricio Acosta, der starke Mann der Regierung Gutiérrez, rechtfertigte die Manöver und erklärte, dass „der Präsident alle politischen Organisationen angesprochen habe, die das öffentliche Wohl suchen. Natürlich kann die PSC nicht ausgeschlossen bleiben“.

Während des Jubiläums der Gründung der Kommune Guayaquil am 25. Juli verpflichtete sich Gutiérrez, die Übergabe der Sozialversicherung an die Gemeindeverwaltung zu unterstützen. Das Projekt wird von dem Bürgermeister Guayaquils Jaime Nebot gefordert. Die Durchführung dieses Projekts würde sowohl politische als auch ökonomische Gewinne für die PSC bringen, da 40 Prozent der Fonds in die Gemeindeverwaltung fließen würden.

Trotz der Weigerung von Pascual del Cioppo, einer der wichtigsten Figuren der PSC, ein langfristiges politisches Abkommen zwischen Gutiérrez und seiner Partei zu schließen, kündigte die Regierung die Existenz einer so genannte „verschiebbaren Mehrheit“ im Parlament an. Dabei wäre die PSC auch mitbeteiligt und dank dieser Mehrheit könnte der Präsident gesetzliche Vereinbarungen mit der Unterstützung verschiedener Parteien erreichen. Dies würde politische Verhandlungen über Ämter oder die Verteilung von Haushaltsgeldern erleichtern. Der indigene Abgeordnete von Pichincha, Ricardo Ulcuango, bezeichnete die verschiebbare Mehrheit als einen Kauf und Verkauf von Stimmen.

Der Bruch der Regierung mit der Indigenenbewegung kommt bei der ecuadorianischen Gesellschaft nicht gut an. Eine Umfrage von „Informe Confidencial“ fand heraus, dass 56 Prozent der Befragten denken, dass die Regierung mit dem Ende der Allianz verloren habe. Des weiteren zeigt eine Umfrage von „Market“, dass die Popularität Gutiérrez nach dem Scheitern des Bündnis um bis zu 27 Prozent gesunken ist.

Ohne die politische Unterstützung der zivilen Organisationen muss Gutiérrez jetzt die Hilfe der Streitkräfte suchen. Allerdings vertreten die Militärs verschiedene Meinungen. Seitdem der Präsident die obersten militärischen Befehlshaber entmachtet hat, um ein loyales Oberkommando für sich zu gewinnen, gibt es für ihn kein Vertrauen mehr. Des weiteren ist es ihm auch nicht gelungen, eine Amnestie für die Militärs durchzusetzen, die am Putschsversuch vom 21. Januar 2002 teilgenommen hatten.

Die Beförderung seiner politischen Alliierten in höchste Ränge der Streitkräften war ebenso erfolglos. Aus diesem Grund konnte Gutiérrez einige Ämter von hochrangigen Militärs nicht besetzen. Jetzt versucht er, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass der Bruch weder mit den indigenen Gemeinden noch mit dem Volk erfolgt sei, sondern mit den „Ponchos dorados“. Damit meint der Präsident die Führer der Indigenenbewegung. Um diese Behauptung zu vermitteln, hat er Besuche mit verschiedenen Gemeinden organisiert, bei denen er Reis, Milch, Schaufeln und Spitzhacken mitbringt. Dafür erhält er die Unterstützung einer kleinen Organisation, die sich die Front zur Verteidigung der Indigenenvölker, Bauern und Schwarzen Ecuadors nennt.

Immerhin hat der Präsident die Spaltung des Bundes der Indigenen des ecuadorianischen Amazonien CONFENAIE (Confederación de Nacionalidades Indígenas de la Amazonía Ecuatoriana) erreicht. Der Präsident der CONFENAIE, Rafael Pandam, gab Gutiérrez seine Unterstützung.

Pandam war während der Regierung Abdalá Bucarams (1996-1997) Minister für ethnisch-kulturelle Angelegenheiten. Dieses Amt wurde geschaffen, um die Macht der CONAIE in Frage zu stellen. Allerdings wurde Pandam nach der Entmachtung Bucarams wegen Kinderhandel ins Gefängnis gebracht.

Die Zukunft der Regierung hängt jetzt von der Handlungsfähigkeit von Gutiérrez und der Verstärkung seines Kampfes gegen die Korruption ab. Dafür bestätigte er Wilma Salgado, die näher an Pachakutik steht, als Chefin der Agentur für Depotgarantien. Dieses Amt soll für die Bezahlung der Schulden sorgen, welche die Bankiers vor einigen Jahren gemacht hatten und die die Finanzkrise im Jahr 2000 ausgelöst hatte.

Sein Kampf gegen die Korruption ist das einzige, was Gutiérrez' sinkende Popularität aufhalten könnte. Aber nach einer Studie von Probidad (Redlichkeit) steht Gutiérrez zusammen mit den ehemaligen Präsidenten Jamil Mahuad (1998-2000), Abdalá Bucaram (1996-1997) und Gustavo Noboa (2000-2003) an der Spitze der korruptesten Staatsoberhäupter Lateinamerikas. Schließlich wimmele es in seiner Regierung nur so von Vetternwirtschaft. Probidad ist eine Organisation, die das Korruptionsniveau der lateinamerikanischen Länder überwacht.

 

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