Poonal Nr. 516

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen vom 2. April 2002

Inhalt


IN EIGENER SACHE:

Gewerkschafter und Betreuer einer deutschen Delegation in Barrancabermeja

KOLUMBIEN

ARGENTINIEN

CHILE

BRASILIEN


IN EIGENER SACHE:

Gewerkschafter und Betreuer einer deutschen Delegation in Barrancabermeja

Von Jan Puchstein

(Berlin, 25. März 2002, poonal).- Am 20. März wurde der Gewerkschaftsführer Rafael Jaimes Torra von einem Terrorkommando abends vor der Tür seines Hauses erschossen. Torra war Führungsmitglied der Erdölgewerkschaft USO (Unión Sindical Obrera) in der kolumbianischen Stadt Barrancabermeja. Er war zuletzt für die Koordination des Aufenthalts einer deutschen Menschenrechtsdelegation verantwortlich. Die Delegación Alemana por la Vida y la Paz (Deutsche Delegation für das Leben und den Frieden) ist im März nach Kolumbien gereist, um die Menschenrechtslage im Land zu beobachten. Die Gruppe wird von sozialen Organisationen, Wissenschaftlern und Parlamentariern aus Deutschland sowie der deutschen Botschaft in Bogotá unterstützt.

Gleich nach der Ankunft in Barrancabermeja hatte die Delegation Kontakt zur Erdölgewerkschaft USO (Unión Sindical Obrera) aufgenommen. Die Situation in der Stadt Barrancabermeja beschreibt sie als extrem angespannt. Paramilitärs würden, gedeckt von Armee und Polizei, an allen Straßenkreuzungen offene Präsenz zeigen. Verantwortlich für die Koordination des Aufenthalts der Deutschen in der Stadt war u. a. der Gewerkschaftsführer Torra.

Während eines Treffens zwischen Torra und der Delegation am 20. März wurden verschiedene Punkte des Programms geplant und die Deutschen über die Situation der Gewerkschaften in Barrancabermeja  informiert. Torra sei nach dem Gespräch direkt zu einem Treffen mit dem Erdölunternehmen Ecopetrol gefahren, um dort einen Raffineriebesuch der Delegation zu planen. Abends um 21.15 Uhr wurde Torra von einem Terrorkommando vor der Tür seines Hauses erschossen. Als sich Gewerkschaftsaktivisten 15 Minuten, nachdem der Anschlag bekannt wurde, am Raffineriegelände versammelten, um gegen den Mord zu protestieren, war das Werksgelände bereits von Militärs besetzt. Dies legt die Vermutung nahe, dass das Attentat gegen die kampfstärkste kolumbianische Einzelgewerkschaft mit Wissen der Sicherheitsorgane vonstatten ging.

Torra arbeitete seit 18 Jahren für das staatliche Erdölunternehmen, war freigestellter Betriebsrat und Mitglied der gewerkschaftlichen Verhandlungskommission bei den letzten Tarifverhandlungen. In den letzten Wochen bereitete er maßgeblich das Erdölforum in Barrancabermeja vor. Auf diesem Forum, einem von vielen im ganzen Land, debattieren derzeit verschiedene soziale und gewerkschaftliche Kräfte über die Erdöl- und Energiepolitik des Landes. Die USO widersetzt sich seit Jahren der vom IWF geforderten staatlichen Privatisierungspolitik und fordert die Sozialisierung der Einnahmen aus Erdölexport zugunsten der immer ärmer werdenden Bevölkerungsmehrheit.

Der Mord an Torra reiht sich ein in eine Kette von Mordanschlägen gegen führende Gewerkschaftsmitglieder, die an der Organisation dieser Erdölforen beteiligt waren. Bereits im Dezember 2001 wurde, einen Tag vor Beginn des Erdölforums in der Karibikstadt Cartagena/Bolivar, der USO-Gewerkschafter Aury Sara Marrugo entführt und später ermordet. Am 25. Februar 2002 traf es Gilberto Torres Martinez, Gewerkschafter auf den Erdölfeldern von British Petroleum im ostkolumbianischen Yopal/Casanare und Organisator des dortigen Erdölforums. Gilberto Torres wurde von Paramilitärs entführt und ist seitdem verschwunden.

Diese Morde werfen Fragen auf. In Anbetracht der Tatsache, dass in Kolumbien seit Jahren weltweit am meisten Gewerkschafter ermordet werden, stellt sich die Frage, warum der kolumbianische Staat immer noch keine wirksamen Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmerorganisationen, Menschenrechtsgruppen und sozialer Bewegungen ergriffen hat? Warum die von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte vorgeschlagenen Maßnahmen zum Schutz der kolumbianischen Gewerkschafter nicht umgesetzt wurden? Haben die kolumbianischen Eliten, aber auch Teile der Erdölmultis und Funktionäre des Staatsapparates kein Interesse daran, dass über die Verwendung der Erdölressourcen öffentlich debattiert wird?

Nach dem Mord an Torra ist die Gewerkschaft USO in den Streik getreten. In Barrancabermeja fand eine spontane Demonstration statt. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Leute in der Stadt haben Angst. Die Delegation fordert jetzt internationale Solidarität gegen diesen Terror und ruft dazu auf, massivem Druck auf die kolumbianische Regierung und das Militär auszuüben.

KOLUMBIEN

Katholischer Erzbischof von Cali ermordet

(Cali, 19. März 2002, ecopress-poonal).- In der Nacht zum Sonntag ist der Erzbischof von Cali, Isaías Duarte, ermordet worden. Die Polizei geht davon aus, dass der Mord vom Drogenkartell in der Region in Auftrag gegeben worden ist. Duarte hatte geäußert, dass Kampagnen kolumbianischer Politiker*innen aus diesen Kreisen finanziert würden.

Eine Täterschaft linksgerichteter Guerillas kann zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, ist aber sehr unwahrscheinlich. Sowohl der Ejército de Liberación Nacional (ELN) wie auch die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) erklärten unabhängig voneinander, dass sie nicht in den Mord verwickelt seien.

Der Vorfall, so hieß es von Seiten der FARC, nutze den "Feinden des Friedens". Ein gefangener Sprecher des ELN erklärte, der Anschlag verdunkele das Panorama des Friedens, "weil die Kirche eine der Institutionen gewesen ist, die sich sehr intensiv in die Suche nach einem politischen Ausweg eingebracht hat".

Die Ermordung des Würdenträgers geschah im Anschluss an eine von ihm geleitete Hochzeitszeremonie mit 50 Paaren, die bis dato ohne den kirchlichen Segen zusammengelebt hatten.

Duarte hatte in der Vergangenheit wiederholt FARC-Guerilla und Paramilitärs kritisiert, die sich im Kampf um die Kontrolle der Region Urabá im Nordosten Kolumbiens gegenüberstanden. Damals war Duarte Bischof von Apartado in der Region von Urabá und hatte gute Beziehungen zum Gouverneur und heutigen, aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten Alvaro Uribe. Bereits 1991 war ein Bischof ermordet worden. Das Verbrechen an Jesus Jaramillo war damals der ELN-Guerilla zugeschrieben worden.

ARGENTINIEN

Ehemaliger Polizist sagt über das Verschwinden von 14 Arbeiter*innen aus

(Buenos Aires, 25. März, na-poonal) Die ständige Menschenrechtsversammlung (APDH) der Stadt La Plata in der Provinz Buenos Aires informierte, dass am 14. März der ehemalige Polizist und Werk-Sicherheitchef von Mercedes Benz, Rubén Luis Lavallén, als Zeuge vor die Wahrheitskommission, einem Tribunal der Hauptstadt, vorgeladen wurde.

Lavallén wurde 1988 im Falle der Entführung von Paula Logares freigesprochen. Paula Logares war die Tochter der Uruguayer Mónica Grispon und Claudio Logares. Das Paar wurde das Opfer des staatlichen koordinierten Terrorismus zwischen Argentinien und Uruguay, bekannt als Plan Condor.

Die Eltern von Paula Logares wurden in Montevideo entführt und danach in das geheime Haftzentrum der Polizeibrigade von San Justo im Westen des Großraums Buenos Aires gebracht. Dort wurden sie von Unterkommissar Lavallén gesehen und behandelt. Ex-Polizist Lavallén wurde damals nur der Urkundenfälschung für schuldig befunden, weil er die Geburtsurkunde von Paula Logares gefälscht hatte. Dafür wurde er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.

Lucas Miguel, Pressesprecher des APDH von La Plata, teilte mit, dass Wahrheitskommission ihr viertes Jahr mit der Erklärung von Rubén Luis Lavallén eröffnen wird. Jetzt wird der Ex-Unterkommissar Lavallén, der nach seinen "verdienstvollen" Erfolgen in diesem geheimen Zentrum zwischen 1977 und 1978 vom Unternehmen Daimler Benz mit dem Posten des Sicherheitschefs der Fabrik von Cañuelas belohnt wurde, als Zeuge zu dem Verschwinden von 14 Arbeiter aus diesem Werk während der letzten Diktatur befragt.

In diesem Fall der Wahrheitskommission, dessen Richtertribunal des Staates Buenos Aires die Geständigen nicht für die Taten, die sie offen legen, verurteilen kann, ist der Hauptzeuge der ehemalige Mitarbeiter der deutschen Firma, Juan José Martín. Martín ist Überlebender der Folter durch die bereits erwähnte Brigade von San Justo. Er wurde von seinem Arbeitsplatz am 29. April 1976 in das geheime Zentrum entführt. "Dort verbanden sie mir die Augen, banden mir die Hände auf den Rücken und gaben mir Elektroschocks, während sie mich Sachen über die Fabrik fragten," sagte Martín gegenüber den Richtern im Juli 2001 aus. Martín bezeugte auch, dass "der Chef der Brigade, als ich dort einsaß, Rubén Luis Lavallén war, der spätere Chef des Wachschutzes der Fabrik von Mercedes Benz".

CHILE

Sexarbeiterinnen in Chile haben eine Gewerkschaft gegründet. Offizielle Anerkennung des täglichen Kampfes gegen Willkür und für Arbeitsrechte

Von Andrea Gonzalez und Roberto Roa

(Santiago de Chile, 25. März 2002-npl).- Die hochgewachsene, blonde Frau, die für ihr Alter recht spärlich bekleidet ist, geht selbstsicher durch die Hauptstadt Santiago. Autoscheinwerfer und unzählige Leuchtreklamen von Geschäften und Bars erhellen die hereinbrechende Nacht. Wie jeden Abend besucht sie Saunas, Tanzlokale und die Straßenecken, an denen Prostituierte auf Kundschaft warten. Im Gespräch hört sie die alltäglichen Probleme dieses Jobs, gibt Ratschläge und motiviert die oft unerfahrenen jungen Frauen, sich für ihre Belange einzusetzen und sich zu organisieren.

Vor neun Jahren gründete Elisabeth – dies ist ihr Künstlername, laut Ausweis heißt sie Eliana Dentone – die chilenische Organisation der Sexarbeiterinnen APRODEM, wobei sie tatkräftig von der katholischen  Kirchengemeinde Sagrado Corazon und dem Padre Alfonso Baeza unterstützt  wurde. Jetzt endlich hat sie ihr großes Ziel erreicht: Am 19. März wurde die erste Gewerkschaft der Sexarbeiterinnen Chiles gegründet und vom Gewerkschaftsdachverband CUT (Central Unitaria de Trabajadores) offiziell anerkannt. Die 200 verbindlichen Unterschriften von Prostituierten, die laut CUT-Statut dafür notwendig waren, hatte sie schon längst zusammen.

Für diesen Erfolg mussten Elizabeth und ihre Mitstreiterinnen ganze 20 Jahre kämpfen. Anfang der 80er Jahre begannen sie, die grundlegenden  Arbeitsrechte für die Sexarbeiter*innen einzufordern. Dabei geht es um Rentenversicherung, um Zugang zu Kranken- und Sozialversicherung und überhaupt um die Anerkennung und Respektierung ihrer Tätigkeit.

Mangels Unterstützung des Staates kümmerte sich APRODEM auch um soziale Betreuung und Beratung: Sie bot eine Friseursausbildung an, damit sich die Frauen etwas hinzu verdienen konnten, begann eine Kampagne gegen Kinderprostitution, klärte über Aids auf und sorgte dafür, dass die Prostituierten nur noch mit Kondomen arbeiteten.

Elizabeth hat sich keine einfache Aufgabe gewählt. Immer wieder trifft sie auf Unverständnis, auch bei Kolleginnen und vor allem deren Arbeitgebern. Erst vor kurzem geriet sie mit dem Chef einer Sauna in einem Außenbezirk von Santiago aneinander: "Sexgewerkschaft in Gründung, was soll denn das sein?" Der kleine, muskulöse Mann lächelte pikiert, nahm die Info-Blätter entgegen, ließ sie aber nicht eintreten.

Doch Elizabeth ließ sich nicht beirren, zumal es Monatsende war und viele potentielle Kunden gerade ihren Lohn bekommen hatten: Ein guter Tag für die Sexarbeiterinnen und für Elizabeth, da das Geschäft floriert und sie mit vielen ihrer Kolleginnen ins Gespräch kommt. Da sie aber selbst noch anschaffen wollte, musste sie ihre gewerkschaftliche Arbeit auf wenige Stunden begrenzen.

Elisabeth stammt aus einer armen Familie, wie die Mehrheit der Sexarbeiterinnen in Chile. Als einzige Tochter der Familie ging sie auf eine Nonnenschule, arbeitete später in einer Tourismusagentur und als Sprechstundenhilfe bei einem Arzt. Ihren Ehemann verliess sie nach sieben Jahren, als sie feststellte, dass er sie betrog. Sie hat zwei Söhne, beide Mitte Zwanzig. "Sie und meine ganze Familie wissen, dass ich mein Auskommen durch Sexarbeit verdiene," sagt Elizabeth. "Und es ist niemandem peinlich."

Anfänglich habe sie gesagt, sie arbeite als Putzfrau in einem Hotel. "Doch als ich begann, mich für die Sache der Prostituierten zu engagieren, habe ich das Versteckspiel beendet und fühle mich so viel wohler," sagt Elizabeth.

Als Elizabeth begann, die 200 Unterschriften für die Gewerkschaft zu sammeln, kam sie gut voran. Doch immer wieder wurde sie mit den leider täglichen Missständen der Prostitution konfrontiert: Zum Beispiel Pamela, die gerade von einem Klienten geschlagen wurde, der sich zudem weigerte, zu bezahlen. Als Elizabeth eingreifen wollte, sagte der Mann, er werde die Polizei rufen. Daraufhin zogen sich die Frauen an und verliessen sofort die Sauna, weil sie wussten, dass möglicherweise eine Razzia bevorstehen hätte können, wenn der Mann seine Drohung ernst gemacht hätte. Erst vergangene Woche hatte die Polizei 20 Frauen willkürlich festgenommen, und angesichts ihres rechtlich unsicheren Status und ihrer Stigmatisierung als Prostituierte können sie sich kaum wehren.

Ganz bewusst vermeidet Elizabeth jegliche Bindung an eine politische Partei. Es geht ihr um Unterstützung für ihre Sache, egal von welcher Seite. Dennoch erinnert sie sich, dass ihr Anliegen bei der  Kommunistischen Partei Chiles und ihrer Vorsitzenden Gladys Marin am ehesten auf offene Ohren gestoßen war. Die Finanzierung hingegen kommt vollständig aus dem Ausland.

Derzeit sind Institutionen wie "Global" aus Holland und "Mama Cash" aus den USA die wichtigsten Geldgeber. Dabei ist der Etat der Prostituiertenorganisation von Elizabeth eher bescheiden: Rund 15.000 US-Dollar jährlich gibt sie für psychologische Hilfen und Rechtsberatung, die Öffentlichkeitsarbeit sowie die Einrichtung von Filialen in bislang sieben weiteren Städten Chiles aus.

Schätzungen zufolge gibt es in Chile 15.700 Sexarbeiterinnen. "Dies bedeutet, dass wir ein großer Sektor sind, und wenn wir uns organisieren, ist dies ein Erfolg für uns und für den Gewerkschaftsdachverband," erklärt Elizabeth. Wie schon so oft zählt sie die so elementaren wie selbstverständlichen Forderungen auf: Gleiche Rechte wie jeder andere Arbeitende und Arbeitsverträge für diejenigen, die in Saunas oder anderen Geschäften beschäftigt sind. Als Selbständige seien sie bereit, Steuern zu zahlen, wollten aber Anrecht auf eine Krankenversicherung haben, ohne ihre Tätigkeit verleugnen zu müssen. "Und wir wollen an einer Straßenecke stehen können, ohne dass uns die Polizei einfach festnehmen darf."

"Mit meinen 54 Jahren bin ich eine erfahrene Sexarbeiterin und weiss, wovon ich rede, wenn ich fordere, dass die ständigen straflosen Übergriffe von einigen Kunden, einigen Barbesitzern und insbesondere von der Polizei auf uns Prostituierte endlich ein Ende haben müssen," erklärt Elizabeth bestimmt und schließt: "Die Leute müssen verstehen, dass unsere Arbeit ein Job wie jeder andere ist."

BRASILIEN

Regierung räumt den Stromversorgern Privilegien ein

(Rio de Janeiro, 22. März, oficina de informacoe). Die Regulierungsbehörde für den Elektrizitätssektor (Aneel) und die Kommission, die zur Bekämpfung der Energiekrise eingesetzt wurde (GCE) – im Volksmund "Ministerium für Stromausfall" genannt -, Mitte März den Energiekonzernen gestattet, einen Teil der Zuwendungen der Nationalen Entwicklungsbank (BNDES) als Verkaufseinnahmen zu verbuchen.

So sollen die Verluste des vergangenen Jahres ausgeglichen werden, die durch die Rationierung und den Fall des Real entstanden waren. Mit einem anderen Teil der Gelder sollen Kosten gedeckt werden. So z.B. die Kosten zum Kauf elektrischer Energie der Wasserkraftwerke in Itaipu, Aufwendungen für den Betrieb des Stromnetzes und Steuern. Auf diese wundersame Weise verwandeln die Firmen ihre Verluste und Gewinne.

So im Fall Eletropaolo. Die Firma hätte ohne das BNDES-Darlehen über 577 Mio R$ einen Verkaufsverlust in Höhe von 231 Mio R$ verbuchen müssen. Zur Deckung anderer Kosten stehen ihnen weitere 260 Mio R$ zur Verfügung. Und so – abrakadabra – werden aus einem Verlust von 231 R$ ein Gewinn von 500R$.

Nach Berechnungen der "Sudameris Corretora" werden alle Energiefirmen im Rechnungsabschluss von 2001 Gewinne verbuchen können, abgesehen von den Firmen "Cesp" und "Light". Letztere wird immerhin ihre Verluste von 696 Mio R$ auf 180 MioR$ senken können.

Des weiteren wird in der Studie festgestellt, dass sich die Vergabe von Geldern des BNDES nicht auf das Jahr 2002 erstrecken wird, da die Bankdarlehen nicht länger als Einnahmen verbucht werden könnten. Außerdem werden die Unternehmen in Folge des zu erwartenden Konsumrückganges um ca. sieben Prozent Gewinneinbußen haben. Um sicherzustellen, dass die Stromversorgungsunternehmen auch weiterhin angemessene Gewinne erzielen, hat die Regierung bereits zwei weitere Tricks in petto.

Der erste hängt mit der mit den Stromversorgungsunternehmen getroffenen Absprache über die so genannte fünfte Zusatzvereinbarung mit den Kraftwerken zusammen. Bisher mussten die Kraftwerke den Strom, der aufgrund der Rationierung nicht geliefert werden konnte, als Rückkauf zu den Preisen des Großhandelsmarktes für Strom, MAE, zu 150 R$ die Megawattstunde verbucht werden. Dem neuen Verständnis nach geben die Kraftwerke in der Kontrolle über die Einhaltung der in der fünften Zusatzvereinbarung festgelegten Bedingungen nach, um im Gegenzug dafür "nur" noch 73 R$ pro Megawattstunde zu bezahlen.

Der zweite Trick besteht darin, die außerordentliche Tariferhöhung um 2,9 Prozent für Privathaushalte und 7,9 Prozent für die Industrie, der im Dezember vergangenen Jahres für Ende 2004 beschlossen worden war, auf Ende 2005 zu verschieben. Den Erläuterungen Octavio Castello Brancos vom BNDES und Leiter des Komitees zur Normalisierung des Energiesektors zufolge dient dieser Aufschub den Versorgungsunternehmen zur Deckung von Verlusten in der Höhe von 1,5 Milliarden R$.

So versucht Cardosos Regierung nach einer verfehlten Privatisierungspolitik im Energiesektor Ausgleich zu schaffen, indem sie staatliche Gelder in die Finanzierung der Gewinne der Stromversorgungsunternehmen steckt.

Gefängnisrevolten, Korruption und Drogenhandel in Brasilien

Von Lia Imanishi Rodriguez und Roberto Roa

(Rio de Janeiro, Januar 2002, oficina informacoe-poonal).- Anstatt dem Verbrechen vorzubeugen, sind die Gefängnisse in Brasilien mittlerweile zum Zentrum des organisierten Verbrechens geworden. Selbstorganisierung der Insassen, Rebellionen und Geiselnahmen sind zur Regel geworden, sie sind nicht mehr spontan, sondern gut geplant und organisiert.

Dahinter stehen zumeist große Häftlingsorganisationen wie das Primeiro Comando de la Capital (PCC), das sogenannte Erste Hauptstadtkommando, das in den südbrasilianischen Metropolen inzwischen das Sagen hat. Rund 5.000 Gefangene sollen dem Kommando angehören. Es schmuggelt Waffen in die Anstalten, organisiert der Drogenhandel und arbeitet mit einer Vielzahl korrupter Aufseher und Polizisten zusammen.

Das PCC ist ebenso mächtig wie sein Pendant außerhalb der Gefängnismauern, aus dem es hervorgegangen ist: Ein Netzwerk von teilweise konkurrierenden Banden, die in den Slums von Sao Paolo und Rio de Janeiro de facto regieren und das Drogengeschäft kontrollieren.

Das Ausmaß der Organisation wurde deutlich, als das PCC im Februar dieses Jahren den größten Gefängnisaufstand der brasilianischen Geschichte anzettelte. In 29 Haftanstalten im Bundesstaat Sao Paolo erhoben sich 22.000 der insgesamt 92.000 Häftlinge, um bessere Haftbedingungen zu fordern. Erst nach Tagen und vielen Gefechten mit über 20 Toten gelang es der Staatsmacht, die Rebellion niederzuschlagen. Die Sicht der PCC ist eine andere: Mehrere Beteiligte sagten zu Journalisten, die teilweise live aus den Anstalten berichteten, dass der Aufstand nur ausgesetzt wurde. "Wir werden weitermachen, und wir haben nichts zu verlieren."

Seitdem wird in Brasilien die Frage nach den eigentlichen Ursachen der Gewaltausbrüche gestellt. Die gängige Erklärung, dass die Haftanstalten einfach überfüllt sind – in ganz Brasilien sitzen 190.000 Häftlinge in Gefängnissen, die für 70.000 Insassen gebaut wurden – greift offenbar zu kurz. Jetzt richtet sich das Augenmerk auf die Zustände "draußen", auf die Wirklichkeit derer, die fast zwangsläufig über kurz oder lang im Knast landen.

Kontinuierlich steigt die Zahl der Gewaltverbrechen in Brasilien an. Allein in den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Morde in Sao Paolo und Rio de Janeiro verdreifacht. Die Täter sind Statistiken zufolge zumeist junge Männer, Arme sowie Arbeitslose. Dementsprechend sind Diebe und Mörder im Alter von 14 bis 28 Jahren die größte Gruppe der Neuzugänge in den Gefängnissen beispielsweise im Bundesstaat Rio de Janeiro. Dicht gefolgt von denjenigen, die wegen Drogendelikten verurteilt wurden.

Überraschend ist hierbei, dass Brasilien im Gegensatz zu den Andenländern nicht zu den Drogenanbaustaaten gehört. Allerdings gilt das größte Land Lateinamerikas spätestens seit 1997 aus Sicht der USA als sogenanntes Durchgangsland – ein großer Teil des Kokain aus Kolumbien und Bolivien wird über Brasilien Richtung USA und Europa transportiert. Nur geschätzte zehn Prozent der Drogen verbleiben im Land. Die Antropologin Alba Zaluar von der Staatlichen Unversität Rio de Janeiros (UERJ) wies nach, dass in den Bundesstaaten, durch die die Drogentransportwege führen, die Zahl der Gewaltverbrechen überdurchschnittlich angestiegen sind.

Alba Zaluar kommt in einer Studie zu dem Schluss, das die sogenannten Drogentäter, die inzwischen die Gefängnisse bevölkern, keineswegs die Verantwortlichen oder eigentlich Schuldigen sind. Sie sind vielmehr Opfer der sozialen Hierarchie im Drogengeschäft. Das Kokain wird zumeist in der Mittel- oder Oberschicht konsumiert, gekauft wird es in den Favelas. Die Hintermänner werden jedoch – im Gegensatz zu Kolumbien – kaum behelligt, während die kleinen Verkäufer unnachgiebig verfolgt werden.

In ihrer Studie, die inzwischen dem Justizministerium vorliegt, ging Alba Zaluar diesem Missverhältnis auf den Grund, was ihr eine Anzeige seitens des Kommandeurs der Militärpolizei in Rio de Janeiro einbrachte. Nicht ohne Grund: Insbesondere in gutbewachten Gegenden wie dem weltberühmten Strand Copacabana wird "der Drogenhandel von Militärpolizisten toleriert und unterstützt," stellt Zaluar fest. "Der kleine Verkäufer ist eine Randfigur im Geschäft. Er holt die Drogen in der Favela und verkauft sie woanders für den vielleicht 20-fachen Preis. Für ihn ist es nur ein kleiner Zugewinn, aber mit großen Risiko," schreibt Zaluar.

Anders ist es in der Favela selbst. Hier herrscht ein militärisches Regime. Nur wer die Erlaubnis der Favela-Chefs, die Geld für Waffen und den Großeinkauf von Drogen haben, besitzt, kann am eigentlichen Geschäft mitverdienen. Einmal dabei, gibt es allerdings kein zurück mehr. Wer "dazugehört", muss Waffen tragen, Mitglieder anderer Drogenbanden als Feinde betrachten und sich vor Polizeirazzien in acht nehmen. Doch auch hier droht nicht unbedingt die Festnahme seitens der Staatsgewalt: "Oft zwingen korrupten Polizisten die Drogenhändler, ihnen einen Teil des Gewinns zu überlassen," so Zaluar.

Anstatt zu versuchen, den Drogenhandel zu unterbinden, agieren korrupte Polizisten inzwischen wie Überfallkommandos. Und wenn die "Zusammenarbeit" von Banden und Polizisten mal nicht funktioniert, dann sind die jungen Bandenmitglieder die ersten, die durch Polizeikugeln sterben. "Die Ermittlungen zu den jüngsten Massakern in Favelas von Rio de Janeiro haben gezeigt, dass die Toten von genau den Polizisten exekutiert wurden, die im Verdacht stehen, am Drogenhandel mitzuverdienen."

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Untersuchung der Fordstiftung in Brasilien. Bezüglich der Teilhabe von Polizisten am Drogenhandel stellt die Autorin Elizabeth Leeds fest, das Polizisten vor allem den Transport von Drogen und Waffen in die Favelas organisieren. Außerdem werden Polizisten für Morde an Favela-Bewohnern und anderen korrupten Polizisten verantwortlich gemacht, die danach den Drogenbanden in die Schuhe geschoben wurden. "Erst spätere Ermittlungen haben nachgewiesen, dass beispielsweise das "Massker von Vigario Geral" an 21 Favela-Bewohnern nicht auf das Konto von Drogenhändlern ging, sondern ein Racheakt von Polizisten gewesen ist, schreibt Leeds.

Korrupte Polizisten gelten als die besten Kuriere für Drogen aus anderen Bundesstaaten oder Nachbarländern. Inzwischen handeln sie auch mit Waffen, die sie in Militärarsenalen rauben oder mit Hilfe bestechlicher Zollbeamten direkt in Häfen oder Flughäfen erstehen. Nach Ansicht mehrerer Polizeifunktionäre in Rio sei der Waffenhandel bereits weit gravierender als der Kokainverkauf, berichtet Leeds.

Laut Zeitungsberichten wurden in Favelas von Rio de Janeiro jüngst Bomben der Bauart gefunden, die Argentinien im Falkland-Krieg eingesetzt hatte. Auch Waffen aus Ex-Jugoslawien sind im Angebot. Einem Journalisten der renommierten Tageszeitung "Journal do Brasil" gelang es im Februar, drei Bomben aus Armeebeständen für umgerechten 900,- Mark zu erwerben. Verkäufer X erklärte bei den Preisverhandlungen, er sei Mitglied der berüchtigten Vereinigung "Comando Vermelho" (Rotes Kommando). Seine Ware habe er von Polizisten, denn nur die könnten sie über die Grenze schaffen. Zwei bis vier Jahre Haft sieht das Strafgesetzbuch für Waffenhandel vor. Drogenhandel wird mit drei bis 15 Jahre geahndet.

Kein Zufall, dass gerade die Faveles in Hafennähe sich jetzt darauf spezialisiert haben, Waffen an andere Favelas zu verkaufen. Es sind genau die Waffen, die in Rio fast jede Nacht zu hören sind, wenn in Favelas rivalisierende Banden oder Polizisten aneinander geraten. Täglich berichten die Zeitungen in der Rubrik "Kriminelle" über die Zahl der Toten und stempeln Rio de Janeiro zu einer der gefährlichsten Städte der Welt. Der Ursprung dieser Gewalt interessiert nicht mehr.

Das Offensichtliche ist jetzt zur beunruhigenden Gewissheit geworden. "In den Favelas herrscht mehr Angst vor der Polizei als vor den Drogenhändlern," besagt eine Studie der brasilianischen Regierung vom März dieses Jahres. Die Aktionen von Polizisten verbreiten demzufolge mehr Panik unter den Bewohnern als die Parallelmacht der Drogenbanden, die von der Mehrheit als eigentliche Autorität betrachtet wird. Und niemand glaubt, dass Polizeirazzien gegen die Drogenbanden gerichtet seien, da Polizisten als Komplizen der Kriminellen gelten.

"Alle haben Angst, wenn die Polizei kommt. Statt brutale Händler zu verhaften, prügeln sie auf Unbeteiligte, auf Frauen und Kinder ein. Wenn du schwarz bist, haste schon verloren," erzählt ein junger Favela- Bewohner. "Besorgniserregend," kommentierte Brasiliens Justizminister das Ergebnis der Untersuchung.

Die Besorgnis mutet heuchlerisch an. Schon 1996 stufte ein interner Bericht der Zivilpolizei 80 Prozent der 12.000 Polizisten in Rio de Janeiro als "unehrlich" ein. Jeden Monat sollen sie mindestens zwei Millionen Mark an den Geschäften und Überfällen der Drogenbanden mitverdienen. "Nur wenige Verbrechen finden ohne Wissen oder Mittäterschaft von Polizisten statt. Wenn wir vom organisierten Verbrechen reden, sprechen wir in Wirklichkeit von der Polizei," zitiert Elizabeth Leeds den Ex-Generalstaatsanwalt von Rio de Janeiro, Antonio Carlos Biscaia.

Die Leidtragenden der Drogenkriminalität, seitens der Polizei wie der organisierten Banden, sind die Bewohner der Favelas. Gegen die staatliche Gewalt können sie zumindest protestieren, eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Interessen darstellen. Doch die Parallelmacht, die die Drogenbanden in allen großen Slumvierteln aufgebaut haben, zerstört jede Kollektivität. Wer die Verbrechen der informellen Machthaber benennt, begibt sich in Lebensgefahr. Zumal die Banden ihre Vormacht geschickt absichern. Als Belohnung für das Schweigen gewähren sie den Favela-Bewohnern Schutz vor Razzien und "Sozialleistungen": Sie kaufen Medikamente und bezahlen Verletzten die Taxifahrt ins Krankenhaus, den Ärmsten teilen sie Essen aus, organisieren Kinderbetreuung und veranstalten Feste. Nicht zuletzt sind sie auch der wichtigste Arbeitgeber, denn für viele Jugendliche ist Drogenverkauf die einzige wirkliche Einnahmequellen.

"Viele Linke nicht nur in Brasilien glauben irrtümlich, dass die Zunahme der Eigentumsdelikte Ausdruck eines aktiven Kampfes der Armen gegen die Reichen und den repressiven Staat sind," analysiert die Anthropologin Alba Zaluar. Eine These ohne Grundlage: Die Verbrechen und Gewaltausbrüche fänden fast ausschließlich in den von Armen bevölkerten Gegenden statt, widerlegt sie. Die Opfer der Gewalt seien wieder einmal nur die Armen.

Armut und Gewalt, ein Teufelskreis, dem die Favela-Bewohner kaum entkommen können. In der Traumstadt Rio de Janeiro sind dies inzwischen ein Drittel der Bevölkerung. Schuld daran sind nicht nur soziale Probleme, sondern auch eine verfehlte Stadtpolitik. "Nachdem die Politiker in den 80er Jahren begannen, den Einsatz von Gewalt in Favelas mit dem Kampf gegen Drogenbanden zu rechtfertigen, bereiteten sie den Boden für das Entstehen einer Parallelmacht," stellt Ford-Forscherin Elizabeth Leeds fest. "Seitdem die Staatsgewalt in Misskredit gefallen ist, haben die Drogenbanden das Sagen." Das Misstrauen sei so groß, dass die Mehrheit in den Favelas bei Streits informelle Gerichte der offiziellen Justiz vorzögen, schließt Leeds.

"Schau, da drüben, das sind die "vapores", die kleinen Händler, die in den Favelas das Kokain verkaufen. Immer sind es Gruppen von jungen Leuten. Die kleinste Menge kostet vielleicht eine Mark – für jeden Geldbeutel gibt es hier was." Moacir ist einer von Tausenden Gelegenheitsarbeitern, die in der Favela "Morro do Alemao (Hügel des Deutschen) wohnt. Von seinem Fenster aus kann er bis zum Eingang der Favela alles überblicken. "Oft kommen auch schicke Mädchen, Reiche aus der "zona sul" (Südzone: Ipanema, Leblon). Die ganze Nacht sitzen sie hier, auf Treppen vor den kleinen Läden, mit diesen glasigen Augen. Traurig!"

Wenn es dunkel wird, nehmen sie ihre Posten ein, vielleicht 15 junge Männer, die Pistolen oder Maschinengewehre gut sichtbar umgehängt. Die "Soldaten des Drogenhandels". Bewaffnet sind sie nicht wegen der Polizei: "Sie verteidigen ihr Gebiet gegen die Leute vom 'Morro do Adeus', der Hügel gleich nebenan, der vom 'Terceiro Comando' kontrolliert wird," erklärt Moacir. Mit der Hand zieht er eine unsichtbare Grenze. "Hier ist alles genau abgesteckt: Bis zu dem Pfad geht das Territorium des 'Comando Vermelho', ab da herscht das 'Terceiro Comando'. Nicht einmal wir Bewohner dürfen diese Grenze überqueren."

Chaos gebe es nur, wenn die Polizei kommt. Wie letzten Sonntag. Alles rannte kopflos weg, die schicken Autos unten am Eingang waren als erste weg. Die Polizei schoss nur in die Luft und sammelte Geldscheine und Drogen ein, die auf dem Fluchtweg verstreut lagen. "Festnehmen wollten die niemanden."

Erschöpft lehnt sich der 59-jährige Elektriker zurück. "Nur gut, dass sie mich und meine Kinder in Ruhe lassen," murmelt er. Seine ganze Familie ist streng gläubig, sie gehören zur "Assembleia de Deus" (Gottesversammlung), einer der evangelikalen Sekten, die in Brasilien enormen Zulauf haben. Alkohol und Drogen sind absolut Tabu, nicht einmal Baden im Bikini erlaubt die strenge Sittenlehre. Er erzählt von Ronaldo, dem Sohn seines Freundes, der nach einem bewaffneten Überfall verhaftet wurde. "Ein Dummkopf wie so viele, der Ronaldo. Seine beiden Kumpel sind schon wieder draussen, habe einen von ihnen schon wieder beim Drogenverkauf gesehen. Da verdient er vielleicht 600 Mark die Woche, soviel wie ich im Monat, wenn ich Glück habe."

Ronaldos Mutter hat ihren Sohn im Gefängnis besucht. Er wird wohl noch lange dort bleiben, seine Familie hat kein Geld für einen Anwalt. Es sei die Hölle, erzählte ihr Sohn. Drinnen gebe es keine echten Männer mehr, dort würden alle zu Frauen, umschreibt er den rohen Umgang. In seinem Trakt, "Bangu III", seien fast nur Leute von "Comando Vermelho", viele kenne er aus seiner Favela. Die Comando-Leute hätten das sagen, und natürlich kontrollierten sie auch den Drogenhandel im Knast.

"Es ist einfacher, ein Kamel durch ein Nadelöhr zu fädeln als einen Reichen ins Gefängnis zu bringen." Kein Grafitti – dieser Spruch, in Kupfer gestanzt, schmückt das Zimmer das Direktors der Haftanstalt Carandiru. Gefängnispsychologin Olga Teixeira bestätigt: "In meinen elf Arbeitsjahren sind mit drei Betuchte Häftlinge untergekommen. Ein Abtreibungsarzt, ein Juwelier und ein Immobilienmakler." Die drei waren es offenbar leid, die Polizei für die Tolerierung ihrer illegalen Geschäfte zu bestechen, glaubt die 52-jährige.

Eines Tages ging Olga Teixeira in die Favela "Morro dos Cabritos", aus Neugier, erzählt sie. "Ich traf lauter Mütter, die sich um ihre Söhne sorgen. Die keinen Job haben, nachts tanzen gehen und womöglich was mit Drogen zu tun haben. Und meine Klienten im Knast sind genau diese Söhne, deren Mütter vor lauter Arbeit sich nicht um die Kinder kümmern können, deren Väter meist abgehauen sind. Was sind die Gefgängnisse in unserem Land wirklich?," fragt die Psychologin. Aufbewahrungsanstalten, antwortet sie sich selbst, Orte, die keine Probleme lösen, sondern nur die Realität draussen widerspiegeln.

Wie das Leben der Favela-Bewohner verändert sich der Alltag im Gefängnis. Täter wie Insassen werden immer jünger, Jungen zwischen 12 und 17 Jahren sind inzwischen die größte Gruppe. Sieben der 36 Haftanstalten in Rio de Janeiro sind Krankenhäuser. "Die meisten Verhafteten sind verletzt, bei Razzien oder Schiessereien zwischen den Banden," erklärt ein Gefängnisbeamter. Auch eine Folge der zunehmenden Bewaffnung aller Seiten.

Wurde früher mit Pistolen aufeinander geschossen, sind es heute gleich Maschinengewehre. Und seitdem die Drogenbanden die Favelas und das organisierte Verbrechen kontrollieren, dominieren sie die Gefängnisse der großen Städte. Dabei bewahren sie ihre Bandenstruktur und Rivalitäten, die sich draussen entwickelt haben. Natürlich fehlt unter den Häftlingen – neben kriminellen Reichen und den Hintermännern des Drogengeschäfts – die Gruppe der korrupten Polizisten und Militärs. Doch die Konfrontation bleibt: Nicht als Konkurrenz oder Abhängigkeit im Geschäft, sondern als Feindschaft oder Komplizenschaft zwischen Wärtern und Insassen.

Ein 24-jähriger Häftling berichtet in einem Zeitungsinterview freimütig von seinem Geschäft im Carandiru-Gefängnis: An einem Tag verkauft er Drogen im Wert von bis zu 2000 Mark an seine Mitgefangenen. Marihuana, Crack, Kokain, alles zum Doppelten des Straßenpreises. Den Großteil der Einnahmen gibt er dem Primeiro Comando de la Capital (PCC), der Häftlingsorganisation, der er angehört. Sollte er verlegt werden, steht ein Ersatzmann schon bereit, weiss er. Die in Säcken verpackten Drogen werden zumeist von Kindern über die Gefängnismauern geworfen – ein lukrativer Einsteigerjob. In diesem Moment haben Gefängnisbeamte schon zehn Prozent Kommission fürs Wegschauen kassiert, weiss der junge Mann.

Die Korruption unter den Beamten leugnet niemand mehr. Allein in Sao Paolo sind in den letzten fünf Jahren 185 Gefängnisangestellte deswegen entlassen worden. Zumeist werden die niedrigen Gehälter dafür verantwortlich gemacht.

Ein hoher Gefängnisbeamter aus Rio, der seinen Namen nicht nennen will, macht Polizei und Justiz für das organisierte Verbrechen in den Haftanstalten verantwortlich. "Wenn jemand eingeliefert wird, kommt er automatisch zu 'seinen Leuten': Ist er vom berüchtigten "Comando Vermelho" (Rotes Kommando), kommt er in den Comando-Trakt. Die Gefängnisleitungen leugnen dies, weil sie diese Gruppen nicht als solche anerkennen. Doch alle wissen, dass sie existieren und richten sich danach. Andererseits, wenn sich ein neuer Gefangener als 'neutral' bezeichnet und in den Trakt der Unorganisierten kommt, läuft er Gefahr, von seinen Leuten als Verräter oder von einer anderen Gruppe als Spitzel ermordet zu werden."

Trotz der Leugnung von offizieller Seite berichten sogar die Medien über die Konzentration der Bandenmitglieder in bestimmten Trakten oder Anstalten. Die bekanntesten, die drinnen wie draussen operieren, sind das "Comando Vermelho", "Terceiro Comando" (Drittes Kommando) und "Amigos dos Amigos" (Freunde der Freunde). Dabei handelt es sich nicht um festgefügte Gruppen. Es sind lose, oft informelle Verbindungen, die den Beteiligten zum Schutz und zur Abgrenzung im Kampf um Geld und Macht dienen, erklärt der frühere Sicherheitsbeauftragte von Rio de Janeiro, Luiz Eduardo Soarez.

Die Entstehungsgeschichte des "Comando Vermelho" erklärt die Schlagkraft, die diese Parallelmacht in den brasilianischen Metropolen besitzt. Ende der 60er Jahre, die Militärs regierten das Land, entstand eine brisante Mischung im berüchtigten Gefängnis "Candido Mendez" auf der Ilha Grande – heute ein beliebtes Ausflugziel der Großstädter. Gewöhnliche Schwerkriminelle und politische Gefangene, zumeist Mitglieder bewaffneter Oppositionsgruppen aus der Mittelschicht, wurden im gleichen Hochsicherheitstrakt untergebracht. Die linken Kader überzeugten ihre Leidensgenossen – alle wurden unterschiedslos gefoltert und misshandelt – vom Sinn kollektiver Strukturen, die gewöhnlichen Bankräuber lernten den Vorteil guter Organisation und Solidarität schätzen.

So entstand das "Gefangenenkollektiv", das die Sicherheitsbehörden selbst "Comando Vermelho" (Rotes Kommando) tauften und das in den 70er Jahren als Symbol für gefährliche Subversive durch die Presse geisterte. Detailliert beschreibt Comando-Gründer William de Silva Lima, berühmt für seine Banküberfälle und ständige Fluchtversuche, seine Sicht der Entwicklung in einem 1991 erschienenen Buch. "Natürlich gab es viel Streit zwischen beiden Gruppen, aber der Kampf gegen die Haftbedingungen hatte uns zusammengeschweisst," schrieb der heute 59-jährige, der nach fast 40 Haftjahren immer noch einsitzt, inzwischen in Bangu.

Es wurden Gesetze aufgestellt, die wirklich befolgt wurden: Keine Gewalt gegen Mitgefangene, Waffengebraucht nur zur Flucht, Streits werden draussen, auf der Strasse ausgetragen. Wer sich nicht daran hielt, wurde mangels anderer Sanktionsmöglichkeiten umgebracht. "So verschafften wir uns den Respekt der meisten Gefangenen. Schon bald wurden unsere Regeln auch in anderen Trakten übernommen."

Das System wurde als "Lei de Segurance" (Sicherheitsgesetz) bekannt. Um den Zusammenhalt der Gefangenen zu zerstören, wurden führende Mitglieder der Gruppe auf verschiedene Gefängnisse aufgeteilt. Eine weitere Fehlentscheidung der Militärs, denn das "Sicherheitsgesetz" breitete sich nur weiter aus. "Das, was sie 'Comando Vermelho' nannten, konnte nicht einfach zerschlagen werden. Es war keine Organisation, eher eine Lebensweise, ein Weg, in harten Zeiten zu überleben, führt William in seinem Buch aus.

Nachzulesen ist auch, wie das "Comando Vermelho" schon in den 70er Jahren auch außerhalb der Gefängnisse an Einfluss gewann. "Die Entlassenen oder Geflohenen gingen in die Favelas, aus Sicherheitsgründen. Wir respektierten die Gemeinschaft und waren willkommen. 20 Jahre später schrieb die Tageszeitung "O Globo", dass 90 Prozent der 480 Favelas in Rio de Janeiro von Verbrecherorganisationen dominiert werden, die aus dem "Comando Vermelho" hervorgingen.

Die Forscherin Elizabeth Leeds bestätigt: "Die Drogenbanden in den Favelas haben sich den organisierten Gefängnisgruppen angeschlossen." Diese haben sich inzwischen gespalten: Es entstand das "Terceiro Comando", vor allem junge Kriminelle, die den meist 40jährigen Führern des "Comado Vermelho" den Rücken kehrten. Im Gegensatz zu den gut organisierten "Roten" sind deren Mitglieder undiszipliniert, ihnen geht es nur um das Verbrechen. Später entstand noch die Gruppe "Amigos dos Amigos" (ADA), die sich als weniger autoritär und gewalttätig bezeichnen, aber wie alle anderen sich in erster Linie dem Drogenhandel widmen.

Die brisante Mischung: Politisch organisierte Häftlinge im Gefängnis, organisierte Kriminelle in den riesigen Elendsvierten von Rio und Sao Paolo, Drogenhandel und mitten drin korrupte Polizisten, Militärs und Wachmannschaften. Schon 1997 listete Erzbischof Paulo Evaristo Arns nach einem Seminar der Kirchenpfarrer diese Faktoren auf und warnte angesichts zunehmender Aufstände in den Haftanstalten, dass "das Strafsystem ausser Kontrolle geraten ist. Es kann jeden Moment explodieren."

Fast vier Jahre danach, am 18. Februar 2001, war es soweit. Ein Viertel aller Häftlinge in 29 der 75 Haftanstalten des Bundesstaates Sao Paolo rebellierte. Sie nahmen 10.000 Geiseln und lieferten sich erbitterte Kämpfe mit den Sicherheitskräften. Der Aufstand kostete 20 Gefangenen das Leben und führte dem ganzen Land vor Augen, dass der gängige Weg der Verbrechensbekämpfung am Ende der Sackgasse angelangt war.

Eine neue Häftlingsorganisation, das Primeiro Comando da Capital (PCC), hatte die Rebellion angezettelt und eroberte die Medien. "Wir sind keine Verbrecher-Partei, sondern die Gewerkschaft der Ausgeschlossenen und verurteilten," stand in dem Manifest, dass das PCC kurz nach Niederschlagung des Rebellion veröffentlichte. Wie einst beim "Comando Vermelho" geht es in dem Dokument um Haftbedingungen: Die Aufstände seien Versuche, mit dem Staat über die Einhaltung der Haftgesetze in Dialog zu treten. Es fragt die Regierenden: "Die brasilianischen Haftgesetze sind fast perfekt. Warum werden sie nicht respektiert?" Das Manifest schließt mit Che Guevara: "Man muss hart sein, aber ohne die Zärtlichkeit zu verlieren."

Im Interview mit der Tageszeitung "Folha de Sao Paolo" erklärte ein PCC-Gründer, dass die Organisation seit 1993 existiert und seit 1994 wegen der Haftbedingungen Kontakt mit den Behörden unterhält. Mangels Erfolg organisiert das PCC seit 1995 kleine Revolten. Der anomyne PCC-Mann gab als erster zu, dass Verbindungen mit den "Comando Vermelho" bestehen. Dies war vermutet worden, nachdem während der Rebellion der Comando-Leitspruch "Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden" in mehreren Haftanstalten gesprüht worden war. Freimütig gibt der Mann zu, dass seine Organisation ihr Geld durch Drogenhandel und Überfälle bekommt, "aber nicht mehr als 50 Millionen". Der angebliche PCC-Gründer spricht auch von einem Statut: Es sei ihr Gesetz, wer es breche, stirbt.

Armando Tambelli, Koordinator der Gefängnispfarrei in Sao Paolo, bestätigt die Version weitgehend. Doch es gab seither viele Spaltungen, es gibt also nicht nur ein PCC, sondern viele in mindestens 50 Haftanstalten, fügt der Kirchenmann hinzu. Laut Aussagen weiterer PCC-Mitglieder hat die Organisatio über 12.000 Mitglieder in den Gefängnissen und nochmal halb so viele draussen. Und sie kündigen an, den Kampf weiter zu führen. Im jüngsten Kommunique wird auch explizit die Zusammenarbeit mit dem "Comando Vermelho benannt: "Unser bewaffneter Arm wird der Schrecken der Mächtigen und Unterdrücker sein, die die Gefängnisse als Racheinstrument einsetzen."

 

 

   

  Über uns   Quienes somos

 

Sobre nós  About us  

Sur nous 

CC BY-SA 4.0 Poonal Nr. 516 von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert