Poonal Nr. 416

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 416 vom 21. Januar 2000

Inhalt


ECUADOR

CHILE

ARGENTINIEN

GUYANA

BRASILIEN

MEXIKO

EL SALVADOR

PANAMA

NICARAGUA

KUBA

LATEINAMERIKA


ECUADOR

Breite Protestwelle lähmt das Land –

indianische Bewegung will Staatsmacht übernehmen

Von Dario Azzellini

(Berlin/Quito, 18. Januar 2000, npl). – In Ecuador geht fast nichts mehr. Eine breite Streik- und Protestwelle legt das gesamte südamerikanische Land lahm. Unmittelbarer Auslöser war ein Protestaufruf der „Konföderation der Indigena-Nationen Ecuadors“ (CONAIE). Die Vereinigung gilt als die stärkste politische Organisation des Landes. Nach Schätzungen gehören ihr 25 bis 40 Prozent der 12,5 Millionen indianischen Einwohner des Landes an. Die CONAIE hat angekündigt, sie werde in den nächsten Wochen gemeinsam mit anderen sozialen Organisationen und Gewerkschaften die Macht übernehmen. Unterstützt wird die indianische Erhebung bereits von über 500 Basisorganisationen und Gewerkschaften.

So haben die meisten Kleinhändler seit dem Wochenende ihre Geschäfte nicht mehr geöffnet, die Angestellten der Sozialversicherungsanstalt halten seit einer Woche das nationale Sozialversicherungsinstitut besetzt. Ein Streik im Gesundheitssektor hat zur Schließung der staatlichen Krankenhäuser geführt.

Als Ursache der Proteste gilt die von Präsident Jamil Mahuad geplante Abschaffung der nationalen Währung Sucre als offizielles Zahlungsmittel – zugunsten der Einführung des US-Dollars. Unter dem Rechtspopulisten spitzte sich die wirtschaftliche Krisensituation in den vergangenen Monaten mehr und mehr zu. 1999 stieg die Inflation auf 60,7 Prozent, es kam zu einer massiven Wirtschaftsrezession und einer Abwertung des Sucre um 67 Prozent. Fast die Hälfte der Bevölkerung Ecuadors lebt in Armut, über 15 Prozent sogar in extremer Armut.

Bereits im März und im Juli 1999 hatten breite Protestbewegungen das Land an den Rand des Kollaps geführt. Die von der Regierung angekündigte „Dollarisierung“ könnte die ecuadorianische Wirtschaft zwar stabilisieren – allerdings auf Kosten der verarmten Bevölkerung und zunehmend auch der Mittelklasse. Umfragen zufolge befürworteten daraufhin über 70% der Bevölkerung den Rücktritts Mahuads. Im Zuge der Einführung des Dollars als offizielle Landeswährung sollen unter anderem der Erdölsektor, die Gesundheitsversorgung und das Erziehungswesen privatisiert werden. Allein die Ankündigung der Einführung des Dollars als Zahlungsmittel führte Ende vergangener Woche zu einer Verdreifachung der Preise und zu drastischen Versorgungsengpässen.

In der Nacht von Sonntag auf Montag errichteten mehrere zehntausend der in CONAIE und Bauernverbänden organisierten Indigenas und Landarbeiter Barrikaden auf den wichtigsten Überlandstraßen. Der Armee gelang es trotz wiederholter Versuche bisher nicht, die Straßen zu räumen. Der Verkehr ist fast vollständig zusammengebrochen. Der am vergangenen Mittwoch zurückgetretene Verteidigungsminister General José Gallardo, erklärte, der indianische Aufstand sei „eines der dramatischsten Ereignisse der vergangenen Jahre“. Die Armee hat inzwischen alle Polizeifunktionen übernommen.

Mahuad rief den nationalen Notstand aus, Regierungspalast und Kongress sind von Panzern umgeben. Am Samstag wurden die Vorsitzenden der linken Großorganisationen Demokratische Volksbewegung (MPD) und Frente Popular, Ciro Guzmán und Luis Villacís, sowie der Vorsitzende der Equatorianischen Konföderation Freier Gewerkschaftsorganisationen (Ceols), José Cháves, von vermummten Sondereinsatzkommandos mit dem Vorwurf „Verbrechen gegen die nationale Sicherheit“ begangen zu haben, verhaftet.

Doch die Einschüchterungsversuche zeigen keine Wirkung. Mehrere gewerkschaftliche Verbände, unter anderem im Bildungssektor, kündigten zusätzliche Proteste gegen die Verhaftungen an. Am Montag schlossen sich die Arbeiter der staatlichen Erdölfirma Petröcuador dem Streik an. Erdöl ist die wichtigste Devisenquelle des Landes und Petröcuador stellt fast 80 Prozent der täglich in Ecuador geförderten 375.000 Barrels. Auch die Beschäftigten der drei Raffinerien des Landes haben die Arbeit niedergelegt. Es wird erwartet, dass die Treibstoffversorgung in wenigen Tagen zusammenbrechen wird.

Der CONAIE-Vorsitzende Antonio Vargas erklärte, der indianische Aufstand werde unbefristet und landesweit fortgesetzt. Nach der schrittweisen Ausweitung von Straßenblockaden im gesamten Land sei die Besetzung von öffentlichen Gebäuden, Banken sowie ganzer Ortschaften vorgesehen. Die Proteste sollen schließlich in einer überraschenden Besetzung der Hauptstadt Quito gipfeln. Auf die Ankündigung von Regierungsvertretern „hart gegen die Protestierenden vorzugehen“, verkündete die CONAIE, den Aufstand bis zum Rücktritt der Regierung fort zu führen.

So gelang es am Montag bereits einigen zehntausend Indigenas, trotz strenger Militärkontrollen an den Zufahrtsstraßen, in die Hauptstadt einzusickern. Die CONAIE unterstrich ihre Entschlossenheit durch die Gründung eines „Volksparlaments“. Darin sind neben den Vertretern der indianischen Gemeinden auch Repräsentanten der schwarzen Bevölkerung, der Gewrkschaften, von Frauenorganisationen, Menschenrechtsgruppen, Kleinhändlern und Rentnern vertreten. Das alternative Parlament beschloss, die Macht in den Bereichen der Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Justiz zu übernehmen und rief das gesamte Land zum zivilen Ungehorsam auf.

Schließung von Freiem Radio angedroht

(Quito, 18. Januar 2000, pulsar-Poonal).- Dem Freien Sender „Radio Latacunga“ wurde von Seiten des Militärs mit der Schließung gedroht. Dem Radio wird vorgeworfen, über die aktuellen Proteste der indigenen Bevölkerung zu berichten. Nach Meinung der Militärs unterstützt die Berichterstattung den Aufstand. Mit einer ähnlichen Argumentation war das Radio schon einmal, damals unter der Regierung von Präsident Sixto Durán Ballén, geschlossen worden.

Erfolge der Indigena-Bewegung am Ende des Jahrtausends

Von Luis Angel Saavedra

(Quito, 18. Januar 2000, na-Poonal).- In ihrem Widerstand gegen die Umweltzerstörungen, die die Erdölfirmen im Amazonasgebiet verursachen, haben die indigenen Einwohner im letzten Drittel des vergangenen Jahres durchschlagende Erfolge erzielt. Zum einen erhielt das Bündnis für die Verteidigung des Amazonas in der Klage gegen den Texaco-Konzern Recht. In dem Verfahren, das seit 1993 vor einem Gericht in New York stattgefunden hatte, forderte die Organisation eine Entschädigung für die schweren Zerstörungen durch 20 Jahre Erdölausbeutung auf dem Territorium der indigenen Bevölkerung .

Texaco hat nach Angaben der Kläger zwischen 1964 und 1992 fast 65 Millionen Liter Rohöl und 80.000 Millionen Liter vergiftetes Wasser in der Amazonasregion hinterlassen. Die Folgen waren steigende Krebsraten, Todgeburten und Infektionen der Atemwege. Die Verachtung, die Texaco jahrelang den Forderungen der Indigenas entgegenbrachte, änderte sich Mitte November 1999. Der Konzernchef Peter Bijur sandte einen Brief an das Bündnis zur Verteidigung des Amazonas und schlug einen außergerichtlichen Kompromiß vor. Dieser sollte der Ölgesellschaft die Hälfte der auf voraussichtlich eine Milliarde Dollar geschätzten Entschädigungssumme ersparen.

Für Luis Yanza, Präsident des indigenen Zusammenschlusses, stellt sich „die Situation von Texaco so dar, dass sie sich in ihrem eigenen Land, den Vereinigten Staaten, eingekreist fühlen. Durch die nordamerikanischen Medien ist der Öffentlichkeit klar geworden, dass Texaco billiges Werkzeug verwendet hat, das dem Ökosystem im Nordosten Ecuadors schweren Schaden zugefügt hat. Wenn die Erdölförderung in einem Land mit weißer Bevölkerung stattgefunden hätte, wäre das nie vorgekommen.“

Die Organisation der Indigenas hatte mit Hilfe von Umweltschützern in den größten nordamerikanischen Zeitungen Anzeigen veröffentlicht. Darüber hinaus lief ein Spot in der Fernsehkette von CNN: Darin wird eine weiße Familie von einem Texaco-Arbeiter mit Erdöl überschüttet. Der zugehörige Kommentar lautet: „Für Texaco ist die Hautfarbe wichtig. Texaco würde so etwas niemals mit Menschen tun, die so aussehen wie die Gezeigten. Aber das ist das, was Texaco im Tropischen Urwald in Ecuador getan hat.“

„Die Kampagne übte Druck auf Texaco aus,“ sagt Luis Yanza. Aber er zeigt großes Misstrauen gegenüber dem von Texaco unterbreiteten Vorschlag: „Eine außergerichtliche Übereinkunft ist nicht so gut. Wir brauchen in diesem Fall einen Gerichtshof, der die Entschädigung durchsetzt und die Zahlungsart festlegt. Anderenfalls könnten wir uns in den Händen der Korruption wieder finden, die das Land beherrscht. Dann könnte es sein, dass die Entschädigung die betroffenen Gemeinden gar nicht erreicht.“

Auch die Untsuri Shuar, das „Volk der heiligen Wasserfälle“ im Südosten Ecuadors, entschieden sich gegen eine Erdölfirma vorzugehen – in diesem Fall den ARCO-Konzern. Die Firma hatte von der Regierung eine Konzession zur Erdölgewinnung erhalten, ohne dass die Bewohner*innen der betroffenen Provinz, nach ihrer Meinung gefragt worden wären.

ARCO ging folgendermaßen vor: die Firma säte Zwietracht in der indigenen Organisation der Provinz und unterschrieb mit angeblichen Lokalkomitees der Indigenas, deren Gründung sie selbste betrieb, Einzelabkommen. „ARCO hat sich dafür entschieden, verstärkt auf lokalem Niveau tätig zu werden, weil die großen Organisationen der Indigenas heute nicht mehr das gesamte Volk repräsentieren“, erklärt Herb Vickers, der Fimenchef von ARCO in Ecuador, dieses Vorgehen.

Der „Unabhängige Zusammenschluß der Shuar“ (FIPSE) und der „Zusammenschluß des Volkes Achuar“, die 40.000 Einwohner des Amazonasgebietes vertreten, beschlossen, auf dem juristischen Ege ihre Rechte zu verteidigen. Sie beriefen sich auf die neue Verfassung Ecuadors von 1998 sowie die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (OIT), die die Rechte der indigenen Völker besonders hervorhebt.

Die Shuar und Achuar bewiesen, dass ARCO die Rechte und die Integrität der spirituellen, sozialen und politischen Praktiken der indigenen Bevölkerung verletzt sowie das Hausrecht und das Recht, über die eigene Entwicklung zu entscheiden, ignoriert hatte. Deswegen forderten die Indigenas von ARCO, keine Verhandlungen abseits der Indigena-Dachverbände und ihrer Repräsentanten zu beginnen.

Die Klage wurde vor Gericht anerkannt. Der erste Zivilrichter von Morona Santiago bestätigte, dass ARCO „eine Reihe von Aktionen unternommen hat, die gegen die Ordnung, die das Verhältnis der FIPSE zu ihren Organisationen und Mitgliedern entspricht, verstoßen.“ Dies habe zu einer „Atmosphäre des Misstrauens geführt.“

Wie Tito Peunchir, Präsident von FIPSE feststellt, hat die Indigena-Organisation einen Erfolg errungen: „Die Legitimation unserer Klage gibt uns die Möglichkeit, unser Territorium zu verteidigen. Und wir können, wenn wir wollen, die Bedingungen für die Erdölgewinnung aushandeln, damit uns nicht das Gleiche passiert wie im Falle Texaco.“

Auf die gleiche Art erreichten die Secoya aus dem nordöstlichen Amazonasgebiet eine Vorvereinbarung mit der Erdölfirma ÖPC. Das Abkommen beinhaltet Bedingungen, die für Verhandlungen über die Gewinnung von Erdöl erfüllt werden müssen. So unterschrieben die Dachorganisation der Indigenas (OISE) und die ÖPC „Verhaltensregeln für einen Dialog“.

Die Verhaltensregeln besagen, dass die OISE der einzig anerkannte Verhandlungspartner für die ÖPC ist. Humberto Piaguaje, Präsident der OISE, hebt die Bedeutung des Drucks auf Texaco und ARCO hervor: „Es war schwierig, aber jetzt wissen sie, dass sie uns und unser Land respektieren müssen, wie es die Verfassung vorsieht. Und wenn sie das nicht tun, müssen sie davon ausgehen, dass sie vor Gericht gestellt werden.“

CHILE

„Ich will der Präsident aller Chilenen sein“ – Ricardo Lagos im Portrait

Von Sandra Corona

(Berlin, 17. Januar 2000, npl).- 27 Jahre nach dem Militärputsch und blutigen Sturz Salvador Allendes 1973 zieht mit Ricardo Lagos Escobar wieder ein sozialistischer Präsident in den chilensichen Regierungspalast „La Moneda“ ein. Lagos kennt jedoch auch den Geschmack der Niederlage. Sein Weg zum Präsidenten war nicht einfach, bereits zweimal zuvor nahm er Anlauf für das höchste Amt im Staate. 1988 trat er als Präsidentschaftskandidat der „Konzertation für die Demokratie“ zugunsten des christdemokratischen Anwärters und Partners der „Konzertation“ aus Sozialisten und Christdemokraten, Patricio Aylwin zurück, der im Dezember 1989 die ersten demokratischen Wahlen nach 17 Jahren Militärdiktatur gewann. 1993 verlor Lagos die interne Kandidatenauswahl des Regierungsbündnisses gegen Eduardo Frei, den nun scheidenden zweiten christdemokratischen Präsidenten der „Konzertation“.

Ricardo Lagos wurde am zweiten März 1938 in der Hauptstadt Santiago de Chile geboren. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität von Santiago. In diesen Jahren war er in der linksgerichteten „Radikalen Universitären Gruppe“ aktiv. An der Universität von Duke in den USA erwarb er seinen Doktortitel als Wirtschaftswissenschaftler. Nach seiner Rückkehr nach Chile wurde Lagos zum Direktor des Instituts für Wirtschaft an der Universität in Santiago sowie der renommierten Schule für politische Wissenschaften und Verwaltung ernannt.

Als die Militärs die Macht ergriffen, war Lagos, ein enger Vertrauter Allendes, Generalsekretär der lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (Flacso) und enger Berater des charismatisch-tragischen Präsidenten. 1974 flüchtete Lagos nach Argentinien und später in die USA, wo er als Gast-Professor an der Universität von Nord-Carolina Recht und Wirtschaft unterrichtete.

1978 kehrte er nach Chile zurück und setzte alle Anstrengungen in den Wiederaufbau und die politische Reformierung der sozialistischen Partei sowie in die Beendigung der Militärdiktatur auf dem Wege von Wahlen. Am siebten September 1986, kurz nach dem Attentat auf Pinochet, wurde Lagos von den staatlichen Sicherheitskräften festgenommen. Einer der Polizei-Inspektoren erkannte in ihm seinen ehemaligen Wirtschaftsprofessor und setzte sich für seine Freilassung ein. Dies habe ihm, so Lagos, „das Leben gerettet“.

1987 gründete Lagos die Partei für die Demokratie (PPD), die für die Gründung der heutigen „Konzertation“ eine wichtige Rolle spielte. Lagos ist sowohl Mitglied der PPD als auch der Sozialistischen Partei. Doch es war der 25. April 1988, der den überzeugten Sozialisten nachhaltig ins Gedächtnis aller Chilenen brachte. Damals erhob er anklagend seinen Zeigefinger vor laufenden Kameras und forderte Diktator Pinochet auf, die Macht abzugeben. Im Oktober desselben Jahres stimmten die Chilenen gegen eine weitere Amtszeit des Despoten. Als „Lagos' Fingerzeig“ ging der couragierte Vorstoß des designierten Präsidenten in die politische Geschichte Chiles ein.

Der Vater von fünf Kindern ist bereits zum zweiten Mal verheiratet, ein nicht unwichtiges Detail im katholischen Chile, einem der wenigen Länder, die kein Scheidungsrecht kennen. Lagos, der ein erklärter Befürworter der Trennung von Staat und Kirche ist, hat versprochen, diesbezüglich ein neues Gesetz zu verabschieden.

Der frühere glühende Anhänger der kubanischen Revolution vertritt heute einen moderaten sozialdemokratischen Kurs nach europäischem Vorbild. Im Wahlkampf gab er sich weltmännisch und betonte die starke Präsenz von Frauen in seiner Kampagne. Er reiste zum Wirtschaftsgipfel nach Davos und flog mit liberalen Wirtschaftsthesen nach New York. Bei seiner ersten Ansprache am Sonntag-Abend umarmte Lagos Hortensia Allende, die Witwe Salvador Allendes und versprach die Aufarbeitung der Vergangenheit, aber auch den „Blick in die Zukunft“.

Gegner nennen den zurückhaltenden Allende-Anhänger arrogant, er selbst bezeichnet sich als schüchtern und ernst. Persönlich begleitete er als einziger Sohn einer Mittelklasse-Familie am Wahlsonntag seine Mutter zur Wahlurne. Nach eigenen Angaben besucht er die 103-jährige ehemalige Lehrerin jeden Tag. Am 11. März wird Lagos sein Amt als Staatschef Chiles antreten. Obwohl er in weiten Teilen der Bevölkerung hoch angesehen ist, wird seine größte Herausforderung das Zusammenführen einer politisch polarisierten Gesellschaft sein. „Hier ist Platz für alle“ sagt Lagos dazu.

ARGENTINIEN

Mütter von der Plaza de Mayo reichen Transparente weiter

(Buenos Aires, 17. Januar 2000, na-Poonal).- Die Mütter von der Plaza de Mayo in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires haben ihre Transparente und Fahnen an jüngere weitergegeben. Damit übergaben sie gleichzeitig die Veranwortung, die Erinnerung an die Schrecken der Militärdiktatur (1976-1983) wachzuhalten. Über 22 Jahre hinweg hatten die Frauen jeden Donnerstag vor dem Regierungssitz Stunden lang dafür demonstriert, zu erfahren, wohin ihre während der Diktatur verschleppten Familienmitglieder gebracht worden waren. Wie eine der Mütter erklärte, wollten die Frauen in ihrem Kampf für Erinnerung und gegen Vergessen und Vergeben nicht nachlassen, sondern das Wissen um die Wichtigkeit der Erhaltung der Menschenrechte jüngeren Generationen mit auf den Weg geben.

GUYANA

Neue Politik

(18. Januar 2000, na-Poonal).- Als die guyanische Präsidentin Janet Jagan im August vergangenen Jahres offiziell aus Gesundheitsgründen ihr Amt abgab, wurde sie von vielen weiterhin als graue Eminenz hinter dem Thron angesehen. Doch unerwartet konsequent setzt ihr junger Nachfolger Bharrat Jagdeo die Punkte seines politischen Programms durch. Dazu zählen der Kampf gegen Geldwäsche und Drogenhandel sowie die Neustrukturierung des öffentlichen Sektors.

Jagdeo, mit 35 Jahren der jüngste Regierungschef Amerikas, hat zu diesem Zweck das Kabinett völlig umgestellt. Zwei Ministerämter werden von Frauen bekleidet, darunter Handel, Industrie und Tourismus. In der Frage des „ethnischen Gleichgewichts“ und der Einbindung der Opposition bezeichnen Beobachter die neue Zusammenstellung der Regierung als ausgewogener. Jagdeo hat angekündigt, die Korruption in den überkommenen Regierungsstrukturen bekämpfen zu wollen. Die mit dieser Aufgabe betraute Kommission wird das Recht erhalten, von Regierungsmitgliedern, hohen Funktionären und Parlamentariern Erklärungen zu Einkommen und Besitz verlangen zu können. Die Strafen für unrechtmäßiges Eigentum reichen von Geldbußen bis zu sechs Monaten Gefängnis.

Die größte Herausforderung dürfte darin bestehen, Geld für die Lohnerhöhungen der öffentlichen Angestellten aufzubringen. Die Steigerung um 26 Prozent für das Jahr 2000 war durch einen 55- tägigen Streik Mitte letzten Jahres durchgesetzt worden. Dabei hatten weite Teile der Regierung gegen eine Anhebung der Löhne votiert und in ihrer Argumentation die Kriterien von Weltbank und Weltwährungsfonds angeführt, für deren Kredite klare Lohngrenzen gesetzt sind. Nun jedoch sagte Jagdeo die Zahlung der Beträge, die von einer Schiedskommision festgelegt wurden, zu.

BRASILIEN

Fray Beto für den Rücktritt des Papstes

(Rio de Janeiro, 19. Januar 2000, alc-Poonal).- Der Priester und bekannte Journalist Fray Beto hat sich in einem Zeitungskommentar zustimmend zu dem indirekten Vorschlag des deutschen Bischofs Karl Lehmann geäußert, der Papst solle aus Gesundheitsgründen zurücktreten. Beto wies darauf hin, die Bibel spreche nirgendwo von einer Amtsperiode des Papstes auf Lebenszeit. Es handele sich nur um eine Tradition der katholischen Kirche. Im überwiegend katholischen Brasilien und anderen lateinamerikanischen Ländern hat der Vorstoß Lehmanns eine lebhafte Diskussion zwischen Gegnern und Befürwortern des Papstrücktrittes ausgelöst.

MEXIKO

Restriktionen gegen Ausländer

Von Winnie Enderlein

(Mexiko-Stadt, 20. Januar 2000, Poonal).- Die mexikanischen Einwanderungsbehörden haben in jüngster Zeit mit restriktiver Ausländerpolititik wiederholt von sich reden gemacht. Zu den umstrittenen Aktionen des Nationalen Instituts für Migration (INM) zählt die Festnahme von vier Basken am vergangenen Wochenende in Mexiko-Stadt und deren Auslieferung an den spanischen Staat. Nach der offiziellen mexikanischen Version wurden Miguel Santiago Izpura García, Josu Gotzon Larrea Elorriaga, José Angel Ochoa de Eribe und Mikel Arrieta Yopiz, denen von spanischer Seite Mitgliedschaft in der ETA vorgeworfen wird, wegen illegalen Aufenthaltes festgenommen und ausgewiesen. Das Außenministerium in der Hauptstadt stritt ab, mit der Auslieferung aktiv in den Konflikt zwischen dem spanischen Staat und der ETA einzugreifen.

Dem gegenüber stehen jedoch die Einschätzungen verschiedener Menschenrechtsorganisationen: allein die Tatsache, dass seit der Amtsübernahme von Präsident Ernesto Zedillo 1996 zehn Bürger baskischer Herkunft an Spanien übergeben wurden, spricht nach Meinung des Menschenrechtszentrums Miguel Agustin Pro Juarez eindeutig für eine Zusammenarbeit zwischen der mexikanischen Seite und der spanischen Regierung unter José María Aznar. Und: Bei Unregelmäßigkeiten, die den Aufenthaltsstatus von Ausländer*innen in Mexiko betreffen, sehen die Einwanderungsgesetze als letzte Maßnahme die Ausweisung in ein Drittland, keinesfalls aber die Abschiebung in das Herkunftsland vor, geschweige denn eine Auslieferung. Den Deportierten stehen Gerichtsverfahren wegen der angeblichen Teilnahme an verschiedenen Aktionen der ETA in den achtziger Jahren bevor.

Zeitgleich mit diesen Geschehnissen gab die mexikanische Einwanderungsbehörde (INM) bekannt, die Migrationspolitik nun „humanitärer“ gestalten zu wollen. In einer Pressemitteilung der Behörde heißt es, dass diejenigen Personen, die keinen gesicherten Aufenthaltsstatus vorweisen, mit Unterstützung bei der „Klärung“ ihrer Situation rechnen könnten. „Sämtliche Amtsleiter der Distrikte haben bereits entsprechende Anweisungen erhalten“, so das INM.

Anders als angekündigt bewies die Behörde jedoch Härte, als sie Anfang des Monats 50 Ausländer*innen, die im Umfeld von Menschenrechtsorganisationen im Bundesstaat Chiapas tätig waren, in die chiapanekische Hauptstadt Tuxtla Gutierrez zitierte. Sie sollten zu dem Vorwurf Stellung nehmen, an der Jahresfeier der aufständischen EZLN (Nationale Zapatistische Befreiungsarmee) teilgenommen zu haben. Zu den Anhörungen erschien nur ein geringer Teil der Vorgeladenen, die Mehrzahl reiste nach eigenen Aussagen aus Angst vor den mexikanischen Behörden direkt ab. Der US- Amerikaner Kerry Andrew Apple, in Chiapas Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Global Exchange, wurde nach der Befragung durch die INM zur Ausreise aufgefordert. Zudem verhängte die Behörde ein dreijähriges Einreiseverbot gegen ihn (vgl. Poonal 414).

Pro Juarez bezeichnete das Vorgehen der INM als „ausländerfeindliche Politik und legalisierte Repression“. Zahlreiche frühere Fälle, in denen Menschenrechtsaktivist*innen ausgewiesen wurden, sind bekannt. An die Öffentlichkeit kam in diesem Zusammenhang auch, dass einem anderen Amerikaner namens Tedford Lewis, der ebenfalls in den Diensten von Global Exchange steht, jüngst von der mexikanischen Botschaft in Washington das Einreisevisum verweigert wurde.

Die rechtlichen Grundlagen für das Vorgehen der mexikanischen Einwanderungsbehörde sind zweifelhaft. Der vielzitierte Artikel 33 der Verfassung – Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes – wird oftmals gegen unliebsame Ausländer*innen angewandt. Er gehört jedoch eigentlich nicht in das Instrumentarium der INM. Seine Anwendung ist dem Innenministerium selbst vorbehalten. Vielleicht aufgrund dieser Koordinierungsschwierigkeiten der Behörden gelang es Kerry Apple mit Unterstützung verschiedener humanitärer Organisationen schließlich, erfolgreich Widerspruch gegen seine Ausweisung einzulegen.

Die Aktivitäten der Einwanderungsehörde erklärt Alejandro Carrillo Castro, Leiter der INM, in einem Interview mit der Tageszeitung La Jornada: „Die Regierung hat generell größtes Interesse an der Überwachung. Die Aktivitäten von Ausländern werden nicht verboten, aber kontrolliert.“ Auch die Regulierung des Aufenthaltsstatus für Ausländer dient, unter diesem Aspekt betrachtet, in erster Linie der Erfassung möglicher Störenfriede. Ein willkommener Nebeneffekt dieser Politik könnte für die Regierung eintreten, wenn aufgrund der Restriktionen weniger Beobachter*innen zu den im Juli stattfindenden Präsidentschaftswahlen anreisen. Eine geringere Anzahl von Menschenrechtsaktivisten wäre leichter zu kontrollieren.

EL SALVADOR

Mörderische Vergangenheit befördert Ernennung zum General

(San Salvador, 14. Januar 2000, comcosur-Poonal).- Menschenrechtsorganisationen haben die Beförderung des Militärs Gustavo Perdomo zum General scharf kritisiert. Perdomo wird von der französischen Justiz beschuldigt, 1989 an der Ermordung der französischen Krankenschwester Madeleine Lagadec beteiligt gewesen zu sein. Gegen den Armeeangehörigen liegt in Frankreich ein Haftbefehl vor. Eine Vertreterin des Menschenrechtszentrums „Madeleine Lagadec“ bezeichnete die von der Regierung vorgenommene Beförderung als „eine Verspottung der salvadorianischen Gesellschaft“. Die französische Krankenschwester war am 15. April 1989 von einer Spezialeinheit der Luftwaffe zusammen mit einem argentinischen Arzt und vier Salvadorianern umgebracht worden.

PANAMA

Bürgermeister verlangt Schutz vor radioaktiven Transporten

(Panama, 18. Januar 2000, pulsar-Poonal).- Der Bürgermeister der Stadt Panama, Juan Navarro, hat sich gegen den Transport von radioaktiver Ladung durch den Panamakanal ausgesprochen. Er bezog sich dabei explizit auf das englische Schiff Pacific Swan, das mit radioaktivem Müll beladen den Kanal durchqueren wird. Ziel des Schiffes ist Japan, wo der „strahlende“ Müll französischer und englischer Herkunft entladen werden soll. Die Forderung, Schiffen mit gefährlicher Fracht die Durchfahrt durch den Kanal zu verwehren, wird von verschiedenen Umweltschutzorganisationen unterstützt.

NICARAGUA

Arbeiter von Energieunternehmen drohen mit Streik

(Managua, 18. Januar 2000, pulsar-Poonal).- Vor dem Hintergrund der geplanten Privatisierung der staatlichen Energieversorgungsunternehmen in Nicaragua haben die betroffenen Beschäftigten mit Streik gedroht. Die Gewerkschaften werfen der Regierung vor, mit dem Verkauf der Unternehmen einen Verfassungsbruch zu begehen. Im Gegenzug ist von den Arbeitern eine Demonstration zum Parlament in der Haupstadt Managua geplant, um dort den Vorschlag eines Gesetzes zum Schutze der Arbeiterschaft und der Bürger einzureichen. Für den Fall der Privatisierung müssen die Beschäftigen mit Massenentlassungen rechnen.

KUBA

Slowakische Handelsdelegation in Havanna

(Havanna, 18. Januar 2000, pl-Poonal).- Eine zehnköpfige Handelsdelegation aus der Slowakei traf auf der kubanischen Insel ein, um die Zusammenarbeit der beiden Länder zu verbessern. Dabei fanden Gespräche mit der kubanischen Handelskammer statt, in denen es um den Ausbau des Im- und Exportes von Nahrungsmitteln, sowie eine umfangreichere Koordination in den Bereichen Agrochemie, Metallindustrie, Bekleidungshandel sowie dem Bausektor ging. Im vergangenen Jahr hat die slowakische Regierung eine Übereinkunft unterschrieben, in der sie die Modernisierung eines Wärmekraftwerkes im 500 km von Havanna entfernten Neuvitas unterstützen will. In diesem Rahmen gewährte die Slowakische Bank Cuba einen Kredit von einer Million US-Dollar.

Maradona vertraut auf kubanische Medizin

(Havanna, 18. Januar 2000, pl-Poonal).- Der einstige Stern am lateinamerikansichen Fußballhimmel, Diego Armando Maradona, hat sich in eine kubanische Klinik begeben. Einem Rundfunksender sagte der argentinische Kicker-Star, der seit langer Zeit drogenabhängig ist, dass er an die kubanische Medizin glaube und hoffe, auf der Insel seine Kokainabhängigkeit überwinden zu können. Vor zwei Wochen war Maradona mit akuten Herzproblemen in ein argentinisches Krankenhaus eingeliefert worden. Danach wollte er seine Behandlung in einer Klinik in Florida fortsetzen, hatte jedoch kein „humanitäres Visum“ von der us-amerikanischen Botschaft in Buenos Aires erhalten, da diese wegen eines Feiertags geschlossen war.

LATEINAMERIKA

Schuldenkrise, Teil I – Für wirtschaftliche Gerechtigkeit

Von Barbara Fraser

(Lima, Januar 2000, na-Poonal).- 100 Jahre ist es her, da setzte Brasilien die Zahlung seiner Auslandsschulden aus. Damit begann ein Kreislauf, der sich über das gesamte Jahrhundert hinzog und während der „Depression“ der 30er Jahre sowie erneut in den Achtzigern verschiedene Länder betraf. Die internationalen Gläubiger vergaben Kredite an Regierungen, die alles andere als vertrauenswürdig waren und oft fragwürdige Projekte finanzieren wollten.

Die Resultate waren in der gesamten Region gleich schlecht. Viele Projekte scheiterten oder blieben unvollendet. Ein Teil des Geldes verschwand in den Taschen der Diktatoren. Immer mehr Regierungen sahen sich in der Zinsfalle gefangen. Schuldenzahlungen wurden mit Geld geleistet, das aus anderen Haushaltsrubriken – vorrangig dem Sozialbereich – abgezogen wurde.

Einige Statistiken scheinen nahe zu legen, dass viele lateinamerikanische Länder besser da stehen als vor der letzten großen Schuldenkrise. Lebenserwartung und Alphabetisierungsquote sind gestiegen, die Kindersterblichkeit ist geringer geworden. Das Armutsniveau, das während der „verlorenen“ Dekade der 80er Jahre in die Höhe schnellte, als die Regierungen die von den internationalen Finanzorganisationen – besonders dem Internationalen Währendfond und der Weltbank – geforderten Sparmaßnahmen anwandten, um ihre Schulden bezahlen zu können, nimmt langsam wieder ab.

Nun befinden sich die Armutstraten wieder auf dem Niveau der 70er Jahre, wie die Wirtschaftkommission der UNO für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) feststellt. Für einen Großteil der lateinamerikanischen Bevölkerung ist dies aber kein Trost. Wenn sich auch der Anteil der in Armut lebenden Personen nicht erhöhte, so doch ihre absolute Zahl. 1980 galten 35 Prozent oder knapp 136 Millionen Lateinamerikaner*innen als arm und 15 Prozent – fast 62,5 Millionen – lebten im Elend. 1997 wurden fast dieselben Prozentangaben nachgewiesen, in absoluten Zahlen handelte es sich aber um 204 bzw. 90 Millionen Personen.

Jetzt hört man immer häufiger den Ruf „Es reicht!“. Ein Großteil des Elans, den Teufelskreis von zweifelhaften Krediten und erdrückenden Abzahlungen zu durchbrechen, kommt vom „Erlassjahr 2000“. Im Rahmen dieser internationalen Kampagne verlangen Nicht- Regierungsorganisationen, Kirchen- und Berufsverbände, die unbezahlbare, inhumane und illegitime Schuld zu streichen. Die Kampagne argumentiert mit dem biblichen Konzept des Jubiläums (Erlassjahres). Demnach wurden nach einer 50jährigen Periode die Schulden erlassen, das Land neu verteilt, die Sklaven freigelassen und die Menschen versöhnten sich untereinander.

Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends, so die Initiatoren der Kampagne, braucht die Welt ein Erlassjahr für die Schuldnerländer. Insgesamt 17 Millionen Unterschriften sind dafür in 120 Ländern gesammelt worden. Die Kampagne geht mit ihren Forderungen jedoch über die reine Schuldenstreichung hinaus. Nicht nur die erdrückende Schuld müsse verschwinden, sondern das Finanzsystem auf internationaler wie nationaler Ebene bedürfe der Veränderungen, damit sich der Schuldenkreislauf nicht wiederhole.

Einen wichtigen Schritt gab es in Köln, als die G7-Gruppe im Juni 1999 vereinbarte, 41 als „arme hochverschuldete Länder“ eingestufte Nationen insgesamt 100 Milliarden Dollar Schulden zu erlassen. Vier dieser Länder befinden sich in Lateinamerika: Nicaragua, Honduras, Guyana und Bolivien. „Währungsfonds und Weltbank haben anerkannt, dass wir diese Haltungsänderung bewirkt haben, die die Führer der G7-Staaten zur Schuldenstreichung gebracht hat“, sagt Ann Pettifor, die Mitbegründerin der Kampagne „Erlassjahr 2000“. Aber: „Wir denken, die G7-Gruppe muss darüber hinaus gehen. Wir schlagen vor, sie sollen sich in einem kleinen Ort in Afrika treffen, wo sie direkt die Wirkung des Schuldenkreislaufs sehen können.“

Die Organisatoren der Kampagne üben Druck aus, damit die Staatschefs der G7-Gruppe bis Ende 2000 zusätzliche Maßnahmen beschließen. Obwohl die vereinbarte Streichung eine enorme Summe Geld zu sein scheint, so ist sie doch teilweise reine Fassade. Die Schulden der armen hochverschuldeten Länder haben auf dem internationalen Markt längst viel an Wert verloren, die Gläubiger hatten die Hoffnung auf Rückzahlung mehrheitlich schon vorher aufgegeben.

Ein zweites Hoffnungszeichen kam am 29. September 1999. Für die ärmsten hochverschuldeten Länder beantragte US-Präsident Clinton vor dem Kongress einen hundertprozentigen Schuldenerlass. Monate zuvor hatten die USA in Köln einem 90-prozentigen Erlass zugestimmt. Der Unterschied von 10 Prozent sieht unbedeutend aus, könnten nach Pettifors Meinung aber besonders wichtig sein. Denn dies ist der Anteil, auf dessen Rückzahlung die Gläubiger sich noch Hoffnung machten. Der US-Kongress hat für das Jahr 2000 vorerst der Streichung von 123 Millionen Dollar akzeptiert.

Selbst die internationalen Gläubiger geben inzwischen zu, dass die während der 90er Jahre praktizierte Politik – die den bereits in der Schuldenfalle sitzenden Ländern harte, mit massiven rezessionen verbundene, Strukturanpassungsmaßnahmen abverlangten – nicht funktionierte. Auch wenn die in Köln versammelten Funktionäre als Ziel der Schuldenstreichung den Rückgang der Armut akzeptierten, ist noch unklar, ob es einen substantiellen Wechsel in der internationalen Kreditpolitik geben wird.

Selbst die in Köln versprochene Streichung ist nicht sicher. „Die Frage ist, ob die G7-Länder mit einer kohärenten und klaren Politik agieren oder ob andere politische Fragen hinein spielen werden“, meint beispielsweise Bischof Diarmuid Martin, Leiter der Kommission für Gerechtigkeit und Frieden beim Vatikan. Wenn der politische Wille in Frage gestellt ist, bleibt auch die Veränderung ungewiss.

Die Kritiker bezeichnen die Schritte der internationalen Gläubiger als sehr klein und sehr langsam. Für ein wirkliches Erlassjahr in den verschuldeten Ländern Lateinamerikas müssten sich Politik und Einstellung ändern. „Die Entwicklungshilfe (der reichen Länder) ist auf ihrem niedrigsten Niveau angelangt. In einigen Ländern oder Gesellschaftsgruppen herrscht ein feindliches Klima gegenüber der Auslandshilfe. Es ist wichtig, ein neues Klima internationaler Solidarität zu schaffen“, führt Martin aus.

Viele Kritiker fordern von den Gläubigern das Eingeständnis, mitverantwortlich an der Schuldenkrise zu sein. Bei den internationalen Finanzverhandlungen sollten Indikatoren für menschliche Entwicklung, nicht nur Wirtschaftsstatistiken heran gezogen werden.

Pettifor tritt für eine unabhängige Kommission ein, die die Schuldenlast jedes Landes bewertet. Nach Weltbank und Währungsfonds ist die Schuld eines Landes „tragbar“, wenn ihr Wert nicht 150 Prozent des Exportwertes übersteigt oder der Schuldendienst weniger als 20 Prozent der Exporteinnahme ausmacht. In Ecuador liegt der Schuldendienst bei 34 Prozent der Exporteinnahmen, in Bolivien bei 35 Prozent und in Nicaragua bei 43 Prozent. Die nicht als arm eingestuften, hochverschuldeten Länder erreichen einen noch höheren Anteil: 49 Prozent in Argentinien und 58 Prozent in Brasilien.

Zum Vergleich: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Londoner Abkommen von 1953 eine Schuldenvereinbarung getroffen, die den Wiederaufbau Deutschlands fördern sollte. Für Deutschland wurde der Schuldendienst auf 3,5 Prozent der Exporterlöse und 0,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes begrenzt. Zudem legten die Alliierten fest, dass die Schulden nur bei einem deutschen Überschuss in der Handelsbilanz abgezahlt werden müssten.

Die derzeitigen Kriterien, eine Schuld für „tragbar“ zu erklären, sind nach Meinung der Kritiker willkürlich und irrational hoch. Dazu kommt, dass die Regierungen die offiziellen Zahlen aufblasen. Diese Anstrengung, ein attraktives Bild für ausländische Investoren zu zeichnen, erwies sich als kontraproduktiv, als die Liste der armen hochverschuldeten Länder ausgearbeitet wurde. Die Kampagne „Erlassjahr 2000“ versuchte während des G7- Gipfels vergeblich, elf weitere Länder auf der Liste zu plazieren, darunter Haiti, Jamaica und Peru.

Ein anderer Vorschlag besteht in der Schaffung eines internationales Bankrottrechts. Auf nationaler Ebene schließt ein solches Recht im allgemeinen Verfahren zur Umstrukturierung der Schuld und zur Begrenzung der Schuldenverpflichtungen ein. Doch ohne ein international gültiges Insolvenzrecht konnten die Gläubiger die Art der Schuldenumschichtung diktieren. Den mittellosen Schuldnerländern blieb so nichts anderes übrig, als die erzwungenen harten Sparmaßnahmen zu akzeptieren. Die ohnehin mit geringem Budget ausgestatteten Sozialprogramme werden dadurch weiter eingeschränkt.

„In keinem der Gläubigerländer würde ein Schuldner – sei es eine Einzelperson oder ein Unternehmen – der Gnade der Gläubiger ausgesetzt“, so der ecuadorianische Ökonom Alberto Acosta. „Den bankrotten Schuldnern wird ein legales Verfahren vor einem unparteiischen Gericht garantiert, mit dem Schutz der notwendigen Mittel, um zu überleben.“

Da viele Kredite jahrelang Projekte von zweifelhaftem Wert finanzierten oder von korrupten Führern aufgesogen wurden, ist ein weiterer notwendiger Schritt für einen strukturellen Wandel die strengere Kontrollpolitik bezüglich der Kreditverwendung. Dazu gehören größere Transparenz und ein Rechenschaftsbericht seitens der Regierung.

„Das bedeutet, die demokratischen Institutionen, größere Transparenz und eine gute Regierungsführugn, zu stärken. Die Art und Weise wird je Land unterschiedlich sein, aber wir glauben, dass die wirtschaftliche Gesundheit von der demokratischen Gesundheit abhängt“, erläutert Bischof Martin. Er weist auf die Tendenz hin, dass Regierungen, denen Schulden erlassen wurden, oft die Rüstungsausgaben steigerten.

Martin erklärt weiter: „Sozialer Fortschritt wird nie ohne nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum erreicht werden. Aber es ist immer offensichtlicher, dass nachhaltiges Wirtschaftswachstum eine grundlegende soziale Infrastruktur benötigt. Ein Wirtschaftssystem, das weite Teile der Bevölkerung an den Rand drängt, wird immer instabil sein. Ein System der globalen Wirtschaft, das große Teile der Welt an den Rand drängt, wird niemals global noch stabil sein.“

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