Poonal Nr. 235-236

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 235/236 vom 27. März 1996

Inhalt


GUATEMALA

MEXIKO

ARGENTINIEN

KUBA

URUGUAY


GUATEMALA

Der 35jährige Guerillakampf vor dem Ende

(Mexiko-Stadt, 24. März 1996, POONAL-cerigua).- Ein Jahrzehnt verhandelten drei verschiedene guatemaltekische Regierungen und die Revolutionären Nationale Einheit Guatemals (URNG) vergeblich um ein Ende des ältesten Guerillakonfliktes in Lateinamerika. Nach dem Amtsantritt des konservativen Präsidenten Alvaro Arzú vor noch nicht einmal drei Monaten kündigt sich nun eine vergleichsweise atemberaubend schnelle Einigung an. Wenn die am Mittwoch in Mexiko-Stadt begonnenen Gespräche über „sozio-ökonomische Aspekte und die Agrarsituation“ zwischen URNG und Regierung zu einem Ergebnis führen, werden die noch ausstehenden Themen die zukünftige Rolle der guatemaltekischen Streitkräfte und die Wiedereingliederung der Guerilla in das zivile Leben nach einem endgültigen Friedensabkommen kaum größere Hindernisse darstellen. Es ist jedoch möglich, daß der eigentliche Schlußpunkt unter den inzwischen 35jährigen Konflikt bereits vor gut einer Woche gesetzt wurde.

Die URNG-Führung erklärte am 19. März, ihre Angriffe gegen Stützpunkte, Kasernen, Einrichtungen und Konvois der Streitkräfte würden „vorübergehend“ ausgesetzt. „Das Generalkommando möchte dem Fortschritt des Friedensprozesses einen entscheidenden Anstoß geben“, hieß es in dem entsprechenden Kommuniqué. Die Guerilla werde sich auf „propagandistische und politische Aktionen“ beschränken. Dem Beschluß kommt besondere Bedeutung zu, da frühere einseitige Waffenpausen der URNG zu besonderen Anlässen immer zeitlich begrenzt waren. Nach der Annäherung zwischen Rebellen und Regierung deutet diesmal nach allgemeiner Einschätzung alles auf einen endgültigen Waffenstillstand hin. Präsident Alvaro Arzú reagierte prompt auf die Guerilla-Erklärung. Er befahl dem guatemaltekischen Militär, die Aufstandsbekämpfungsoperationen zu beenden und sich allein auf die in der Verfassung zugewiesenen Aufgaben zu beschränken. Unter den zivilen Präsidenten, die seit 1985 von den Streitkräften an der Regierung geduldet wurden, hat bisher niemand so deutlich die Armee kritisiert. Gelegentlich wird das Mitglied der Partei der Nationalen Vorhug (PAN, Partido de la Avanzada Nacional) noch als ultrarechter Politiker eingestuft. Arzú hat jedoch Zeichen gesetzt, die sein Verhältnis zur Guerilla geradezu herzlich werden ließen. Als Kandidat und später als erster Präsident seines Landes war er bereit, sich direkt mit der Guerillaführung zu teffen. In Mexiko besuchte er die dort immer noch nach Zehntausenden zählenden guatemaltekischen Flüchtlinge, die Anfang der 80er Jahre vor der Massakerpolitik der Militärs flohen. Arzú nannte ihre Situation eine Schande für Guatemala. Trozt einiger Wurzeln in der reaktionären Agraroligarchie ist der Präsident eher dem modernen Unternehmerflügel des Landes zuzurechnen, der die Streitkräfte und die festgefahrenen Wirtschaftsstrukturen als Hindernis für die eigene Entwicklung sowie für die ganz Guatemalas sieht.

Die Guerilla, die vor 15 Jahren noch für einen revolutionären Sozialismus kämpfte, hat ihre Positionen in den vergangenen Jahren immer weiter zurückgenommen. Mit einer brüchigen Verankerung unter der Bevölkerungsmehrheit, den Indios, und internen Differenzen wurde zuletzt sehr deutlich, daß ein militärischer Sieg der URNG eine völlige Illusion darstellte. So bereiteten die Rebellen schon seit längerem ihren Wechsel in die zivile Politik vor. Das Demokratische Bündnis Neues Guatemala (FDNG), das im November zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen antrat, steht der Guerilla nahe. Mit den allgemeinen Forderungen nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit versucht das Bündnis, eine breite Sammlungsbewegung zu werden. Als kleine, aber dennoch drittstärkste Fraktion im Parlament, gibt es eine politische Ausgangsbasis für die kommenden Jahre. Nach mageren Erfolgen für die Guerilla am Verhandlungstisch wird ihre Führung allerdings beweisen müssen, daß sie nicht nur ein kleines Stückchen an der Macht teilhaben will, sondern die alten Ideale nicht ganz vergessen hat. Der Spielraum ist angesichts der nach wie vor starken Militärs und der wirtschaftlichen Situation des Landes eng. Da werden versprochene Gelder und sogenannte Demokratisierungshilfen der Europäischen Union wenig ändern. Ein Großteil der nach 35 Jahren kriegsmüden Bevölkerung hofft in erster Linie eins: Daß die Zahl von etwa 150.000 in dem Konflikt umgekommenen und/oder verschwundenen Menschen sich nicht weiter erhöht.

Diskussion ueber die Nachkriegszeit

(Guatemala-Stadt, 11. März 1996, cerigua-POONAL).- Die Versammlung der Zivilen Gesellschaftsgruppen (ASC) wird sich am 24. März in El Salvador mit den Kommandanten der Revolutionaeren Nationalen Einheit Guatemalas (URNG) treffen. Mitglieder des zivilen Diskussionsforums sagten, ein Gesprächsthema seien die Vorstellungen der Guerillaorganisation für die Zeit nach dem Abschluß eines endgültigen Friedensabkommens mit der Regierung. Die ASC wird nach Aussage ihrer Sprecherin Georgina Navarro die URNG speziell nach deren Entwicklungsvorschlägen in der Nachkriegszeit fragen. „Da Guatemalas Zukunft auf dem Spiel steht, wollen wir beginnen, darüber zu reden“, so sagte sie. Die ASC wird die Rebell*innen außerdem bitten, die Forderungen der zivilen Gesellschaftsgruppen in die Verhandlungen von Regierung und URNG über „sozio-ökomonische Fragen und die Agrarsituation“ einzubringen. Nach zahlreichen Gesprächen zu diesem Thema noch unter der Regierung von Ramiro De León Carpio versucht nun die neue Regierung, mit der URNG zu einer Einigung zu kommen. Der erste Verhandlungstag ist für den 27. Maerz in Mexiko vorgesehen, drei Tage nach dem Treffen von URNG und ASC. Letztere hatte bereits am 1. März ihre Vorstellungen der Regierungsseite erklärt.

Gericht gibt Frauen Recht

(Guatemala-Stadt, 8. März 1996, cerigua-POONAL).- Erst ließ das Verfassungsgericht die Frauen warten (vgl. POONAL Nr. 234), dann gab es ihnen passend zum Internationalen Frauentag Recht. Während sich etwa 500 Frauen am 8. Maerz vorbereiteten, zum Nationalpalast zu marschieren, schafften die höchsten Richter*innen die Ehebruch- Gesetze ab, die härtere Strafen für Frauen als für Männer vorsahen. Das Gericht, das eine erste Frist fuer die Entscheidung verstreichen ließ, begründete sein Urteil damit, daß die Gesetze gegen den Verfassungsartikel 4 verstoßen, der die Formulierung „alle Menschen sind frei und gleich in Würde, Verantwortungen und Rechten“ enthält. Die Ehebruch-Gesetze sind daher null und nichtig, entschied das Verfassungsgericht.

Der Beschluß ist jedoch ein kleiner Schritt in einer Welt, die die tägliche Verletzung der Frauenrechte sieht. Die Demonstrant*innen am Internationalen Frauentag riefen dazu auf, sowohl die politisch als auch die gewöhnliche Gewalt gegen Frauen zu beenden. Sie erinnerten an die Frauen, die bei ihrem Kampf für ein besseres Leben aller Guatemaltek*innen ermordet wurden: die Maya-Führerin Mama Maquin, die Schriftstellerin Alaide Foppa, die Anthropologin Myrna Mack, die Aktivistin Dinora Pérez. Die Frauen gedachten auch der zurückgekehrten Flüchtlinge, die im vergangenen Oktober von Soldaten in Xaman, Provinz Alta Verapaz, umgebracht wurden. „Diese Gewalt gegen uns, die auch eine Verletzung der Menschenrechte ist, begrenzt unser Bürgerinnenrecht, blockiert unsere Entwicklung und schädigt die Lebensqualität unserer Gesellschaft“, so eine Stellungnahme der Organisatorinnen des Marsches. Frauen aus zwölf Organisation, überwiegend aus dem Maya- und Campesinobereich richteten sich mit einem Aufruf direkt an Präsident Alvaro Arzú. Sie forderten ein Ende der Unterdrückungs- und Auslöschungspolitik gegenueber den Maya-Voelkern; eine Antwort auf die Landbedürfnisse ihrer Gemeinden; die wirkliche Rueckkehr der Flüchtlinge sowie die Erfüllung der Friedensabkommen und internationalen Vereinbarungen, besonders „der Abschaffung aller Arten von Diskriminierung gegen Frauen und den Respekt vor ihren Rechten“.

PAN bricht Wahlversprechen

(Guatemala-Stadt, 13. März 1996, cerigua-POONAL).- Die Partei der Nationalen Vorhut (PAN) blockierte mit ihrer Kongreßmehrheit die Rücknahme der Anfang des Jahres unter der Vorgängerregierung in Kraft getretenen Mehrwertsteuererhöhung. Im Wahlkampf hatte sie noch versprochen, die Steuer bei Gütern des Grundbedarfs zu reduzieren. Das Parlament stimmte mit 42 zu 32 Stimmen gegen den Vorschlag, die unpopuläre Erhoehung von sieben auf zehn Prozent ganz rückgaengig zu machen. Alle 42 Stimmen kamen vom PAN-Block. Der heutige Präsident Alvaro Arzú hatte vor den Wahlen angekündigt, er würde bei Medikamenten und Waren für den Haushaltsbedarf eine Steuersenkung auf den alten Stand durchsetzen. Jetzt argumentieren die Abgeordneten, die Regierung brauche die jährlich erwarteten Mehreinnahmen von 800 Millionen Quetzales fuer öffentliche Arbeiten.

MEXIKO

Warten auf (die) Gesellschaft – Zapatisten kämpfen gegen die Zeit

(Mexiko-Stadt, 25. März 1996, POONAL).- Wer hat den längeren Atem? Die mexikanische Regierung oder die indianischen Rebellen der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) und mit ihnen viele andere Gruppen der Opposition? Diese Frage stellt sich seit Beginn des bewaffneten Aufstandes im Bundesstaat Chiapas vor mehr als zwei Jahren. Wenige Tage, nachdem in dem kleinen Ort San Andrés Larráinzar eine weitere Verhandlungsrunde zwischen den Konfliktparteien über das Thema „Demokratie und Gerechtigkeit“ ohne greifbare Fortschritte zu Ende gegangen ist, wird die Frage jedoch wieder besonders deutlich. Die vor wenigen Wochen zumindest auf dem Papier erzielte Einigung zum Thema „Indígenarechte und – Kultur“ wurde erst nach fünf Monaten zähen Tauziehens beider Seiten erreichen. Für das neue Thema wird eher eine noch längere Verhandlungszeit erwartet. Und vier weitere umfassende Gesprächskataloge müßten geklärt werden, bevor ein endgültiges Friedensabkommen zustande kommen könnte. Bei der derzeitigen Verhandlungsgeschwindigkeit möglicherweise eine Angelegenheit von Jahren.

So wichtig weitere Vereinbarungen im einzelnen auch sein können, den grundästzlichen Punkt haben die Zapatisten noch am vergangenen Sonntag dem 24. März angesprochen, indem sie die Ablösung „der dekadenten und korrupten Politikerklasse“ forderten. Gelingt es der Opposition links von der nun knapp 70 Jahre regierenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), die mexikanische Politik entscheidend zu beeinflussen, dann werden nicht nur die Zapatisten mehr mit ihren Forderungen Gehör finden, sondern jahrzehntelang eingefahrene Machtstrukturen kommen ins Wanken. Gelingt es andererseits der Regierungsseite, die zum Widerstandssymbeol gewordenen Zapatisten nach der militärischen Einkesselung auch politisch dauerhaft zu isolieren, dann hat sie damit einen wichtige Sieg gegen die gesamte Oppositon errungen. Die EZLN hat mit ihrer Vierten Erklärung des Lacandonen-Urwaldes zu Jahresanfang erneut einen Versuch gemacht, die zivile Opposition zu einen. Die FZLN, das Zapatistische Bündnis der Nationalen Befreiung, soll das neue Dach der vielfältigen Organisationen sein, die auf den verschiedensten Wegen die Demokratisierung des mexikanischen Saates fordern. Ohne direkt an der politischen Macht zu sein, stellen sich die Zapatisten vor, mit der FZLN soviel Druck ausüben zu können, daß nur „gehorchendes Regieren“ möglich ist.

Bei vorherigen Initiativen der Zapatisten war der Funke nur begrenzt auf die Gesellschaft übergesprungen. Die Erfolgsaussichten für das offiziell noch nicht gegründete Bündnis sind schwer abzuschätzen. Immerhin hält die Serie der vorbereitenden Treffen bis heute an. Im Gegensatz zu früheren Gelegenheiten scheint bei der linken Opposition die Meinung vorzuherrschen, daß sie ihre Einigungschancen nicht unbegrenzt ignorieren kann, wenn sie wirklich etwas in ihrem Land verändern will. Einige Erfolgserlebnisse kann sie in diesem Jahr vorweisen: Die Proteste gegen die umweltzerstörende Politik des staatlichen Ölkonzerns PEMEX im Bundesstaat Tabasco überraschten in ihrem Ausmaß das ganze land. Die Regierung mußte nach einem teilweise brutalen Vorgehen gegen die Besetzer zurückstecken und alle im Zusammenhang mit der Blockade inhaftierten Personen wieder freilassen. Am 18. März, einem Werktag, protestierten in Mexiko- Stadt unerwartet viele Menschen – 150 000 – gegen Sozialabbau und die vorgesehene Privatisierung der Ölindustrie und weiterer Staatsunternehmen. Der staatstreue Gewerkschaftsverband CTM sagte im zweiten Jahr hintereinander die 1. Mai-Kundgebung vor dem Nationalpalast ab. Angst vor Provokationen ist die offizielle Begründung. Der wahre Grund dürfte die Furcht sein, aus der Jubelveranstaltung könne eine wirkliche Protestdemonstration gegen die Regierung werden. Nun werden die unabhägigen Gewerkschaften und andere Oppositionsgruppen am 1. Mai auf dem Nationalpalast Präsident Zedillo ihre Rechnung präsentieren. Ein weiterer Gradmesser für die Stärke und Einigkeit der Opposition wird das interkontinentale Treffen gegen den Neoliberalismus sein, zu dem die Zapatisten aufgerufen haben. Es soll Ende Juli, Anfang August auf dem Gebiet der EZLN in dem Ort La Realidad stattfinden. Ein Vorbereitungstreffen der Ländervertreter der beiden amerikanischen Kontinente ist bereits für den April vorgesehen. Die Herausforderung an die mexikanische Regierung ist eindeutig.

Weder den Zapatisten noch der linken Opposition bleibt viel Zeit für überzeugende Aktionen. Rechts von der PRI kommt mit der konservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) eine andere Kraft imemr stärker auf. Obwohl sie derzeit mit der Regierungspartei scheinbar auf Konfrontationskurs liegt, wird spekuliert, sie könne das neoliberale Erbe eines verausgabten PRI antreten. Die PAN, die sich mit der Wahl des 33jährigen Felipe Calderon zum Vorsitzenden gerade erst das Image einer dynamischen, erneuerungsfähigen Partei verschaffte, findet bei der Bevölkerung mehr und mehr Rückhalt. Die mexikanische wirtschafts- und Machtelite wäre sicher bereit, zur PAN überzulaufen. Die Gegner der Partei befürchten für diesen Fall die Fortsetzng der PRI mit anderen Mitteln.

Ein General im Labyrinth seiner Kollegen – Der Fall Gallardo

(Mexiko-Stadt, 14. März 1996, POONAL).- Generäle haben gelernt, gerade zu gehen. Rückgrat haben sie deswegen noch nicht. Manchmal bekommen das die eigenen Kollegen zu spüren. In Mexiko wird seit einigen Wochen wieder über den Fall des Brigadegenerals José Francisco Gallardo Rodríguez gesprochen. Eine Anhoerung vor der Interamerikanischen Menschenrechtsorganisation (CIDH) am 21. Februar 1996 in Washington weckte neues Interesse. Gallardo sitzt seit November 1993 unter fadenscheinigen Anklagen im Militärgefaengnis. Der Fall mit inzwischen siebenjähriger Vorgeschichte hat teilweise skurile Züge. Für Gallardo selbst und diejenigen, die ihre Hoffnung auf demokratische Traditionen in der mexikanischen Armee setzen, handelt es sich um ein Trauerspiel.

Bis 1989 verlief die Karriere von Gallardo makellos: mehrere Auszeichnungen und schnelle Beförderungen kennzeichneten seine damals 25 Jahre Dienst in den Streitkräften. Das mag bereits den Neid einiger Kollegen erweckt haben. Dazu kam ein anderes außergewöhnliches Merkmal: Gallardo absolvierte sein Studium nicht an einer Militärakademie, sondern extern an der Fakultät für Politik- und Sozialwissenschaften der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM). Auch dies wurde nach den Aussagen der Söhne des Brigadegenerals innerhalb der Streitkräfte nicht gerne gesehen. Der Karriereknick erfolgte 1989. Als Kommandant einer Einheit, die in dem nördlichen Bundesstaat Chihuahua Pferdezucht für das Militär betrieb, wurde ihm als Berater ein Neffe des damaligen Verteidigungsministers General Antonio Riviello Bazán zugeordnet. Nach Aussagen von Gallardo wollte der Verwandte des Ministers mit dem Geld für die Pferdezucht Privatgeschäfte machen. Der Brigadegeneral verweigerte seine Zustimmung zu dem Korruptionsversuch. Riviello Bazán hoechstpersoenlich drohte bei einem Besuch der Einheit mit Konsequenzen.

Es blieb nicht bei der Drohung. Gallardo wurde kurz darauf abgesetzt und im Mai 1990 zum ersten Mal verhaftet. Die Anklagen gegen den bisher unbescholtenen Soldaten lauteten: Betrug, Veruntreuung, Amtsmißbrauch und Beschädigung des Eigentums der Nation. Bewiesen wurde nichts, aber der Militärstaatsanwalt unternahm keine Anstrengung, die Angelegenheit endgültig zu klären. Gallardo wandte sich daraufhin an Präsident Salinas de Gortari und die zivilen Bundesgerichte. Im Mai 1991 ließen ihn die Militärs frei – nicht ohne neue Anklagen, die von einem gewissen Erfindungsreichtum zeugen. So wurde der General unter anderem der Schwerverbrechen beschuldigt, einen Sattelknopf und eine Radiobatterie verloren zu haben. Ausserdem traf ihn der Vorwurf der Desertion. Dem Kavallerie-Regiment, das er ihm Stich gelassen haben soll, hat er nach den bekannten Unterlagen niemals angehört. Fehlende Beweise und Schutz durch die Bundesgerichte führten Anfang 1993 zur Einstellung aller Verfahren.

Hätte Gallardo nicht auf seiner Soldatenehre bestanden, wäre ihm wahrscheinlich Vieles erspart geblieben. Doch er nutzte die Zeit zwischen Januar und November 1993 zur freien Meinungsäußerung. In einem Interview sprach er über Korruption, Mißtände und fehlenden Respekt vor den Menschenrechten innerhalb der Streitkräfte. Sein Sohn Marco Vinicio drückte es vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und Anfang März 1996 auf einer Pressekonferenz in Mexiko-Stadt treffend aus: „Der Fall meines Vaters ist einzigartig im Land, denn es kommt gewöhnlich nicht vor, daß ein hochrangiger General seine Kritik und Vorschläge gegenüber dem Militär öffentlich macht.“ Zum Verhängnis wurde Gallardo die Veröffentlichung von Auszügen seiner Arbeit, mit der er ein Postgraduiertenstudium (Maestría) an der UNAM abschloß. „Die Notwendigkeit eines militärischen Ombudsman in Mexiko“, so der Titel der Arbeit. Inhaltlich wird gefordert, das Militär zu modernisieren, Kontrollmechanismen gegen Mißstände zu entwickeln und dies unter anderem durch eine Verfassungsaenderung des Artikel 102 B abzusichern, der auf Menschenrechtsorganismen eingeht.

Für Militärstaatsanwalt General Guillermo Fromow und weitere Generäle ein klarer Fall von Netzbeschmutzung. „Diffamierung, Verleumdungen und Schmähungen gegen die mexikanische Armee“ hießen die offiziellen Gruende, die am 9. November 1993 zur erneuten Verhaftung führten. Dazu wurden alte Anklagen erneut aufgegriffen. Im Militärgefängnis auf dem Campo Militar Nx 1 de Lomas de Sotelo im Hauptstadtdistrikt ist Gallardo seitdem weitgehend isoliert. Drohungen – bis hin zu einem tätlichen Angriff – gegen ihn, seine Familie und seinen Anwalt sind mehrfach vorgekommen. Der Brigadegeneral wendete sich noch unter Verteidigungsminister Riviello Bazán nach den Aussagen seiner Söhne und seines Anwaltes schriftlich „achtmal an die Menschenrechtskommission, dreimal an das Innenministerium, an die Generalstaatsanwaltschaft der Republik fünfmal, an den Präsidenten der Republik bei drei Gelegenheiten, an die Abgeordnetenkammer dreimal und an das damalige Ministerium fuer Rechnungsprüfung sechsmal“. Ein ums andere Mal erklärten sich die entsprechenden Stellen für nicht zuständig und verwiesen ihn an die Militrgerichtsbarkeit zurück. Im Oktober 1994 bezeichnte ein ziviles Gericht der Hauptstadt fast alle Vorwürfe gegen Gallardo als gegenstandslos. Ausdrücklich sah es seine Vorschläge und Meinung zur Kontrolle der Menschenrechte in den Streitkräften als von der Verfassung gedeckt an.

Der Verteidigungsminister reagierte angesichts dieses „bedrohlichen“ Urteiles umgehend: Sechs Tage, bevor er sein Amt zum 1. Dezember 1994 übergab, hieß die neue Anklage, die mit einem weiteren Haftbefehl fuer den immer noch im Campo Militar Nx 1 isolierten Gallardo verbunden war, „illegale Bereicherung“. Die beiden Söhne Gallardos, die sich unermüdlich um einen Freispruch ihres Vater bemüht hatten, schöpften dennoch Hoffnung, nachdem Riviellos Nachfolger General Enrique Cervantes Aguirre sie dreimal persönlich empfing und eine Untersuchung „am Recht ausgerichtet“ zusagte, falls sie die Sache nicht mehr an die Öffentlichkeit bringen würden. Seit diesem Versprechen und dem Schweigegelübde der Söhne sind jedoch 14 Monate vergangen. Im Dezember 1995 versprachen von Cervantes geschickte Generaele Gallardo den „Perdón“ und den Rückzug der strafrechtlichen Verfolgung, falls er seine Schuld eingestehe. Dieser lehnte mit Hinweis auf Moral und Ethik ab. Nach wie vor ist ihm kein einziges Vergehen nachgewiesen. Die Familie und ihr Anwalt wenden sich seit der Anhörung vor der CIDH wieder an die öffentliche Meinung. Die Aussichten auf die Freilassung von Gallardo sind jedoch denkbar schlecht. Längst handelt es sich für das Militär um eine Prestigeangelegenheit. Bei einem Nachgeben wuerden die Streitkräfte ihre Schuld indirekt eingestehen. Zu einer grundsätzlichen Diskussion sind sie nicht bereit. Brigadegeneral José Francisco Gallardo bleibt ein einsamer Rufer: „Entweder wir setzen uns an den Verhandlungstisch und demokratisieren uns oder wir verlieren dieses Land. Wir alle haben etwas zu verlieren und der Preis ist sehr hoch.“

Superbarrio im Gespräch

– von Oswaldo Leon

(Mexiko-Stadt, März 1996, alai-POONAL).- Am 19. September 1985 erschüttert ein Erdbeben in der Stärke 7,8 Mexiko-Stadt. Mindestens 4.000 Tote, 2.000 Verschwundene (eine wohl untertriebene Zahl; die Red.) und mehr als 30.000 Obdachlose vor allem in den zentralen Zonen des Hauptstadtdistriktes sind die Folge. Die Regierung versucht die Situation auszunutzen und will die Bewohner*innen dieser Gebiete vertreiben, um große Geschäftsgebaeude zu bauen. Die Geschädigten organisieren sich, leisten Widerstand und sind am Ende die Sieger. Aus dieser Entwicklung ensteht die Asamblea de Barrios, der derzeit etwa 30.000 Bewohner*innen aus 60 Stadtvierteln angeschlossen sind. Aus der Asamblea de Barrios widerum kommt eine Persönlichkeit, die bereits zur Legende geworden ist: Superbarrio. Ein maskierter Freistilkämpfer, der den Ring verläßt, um auf sozialen Feld zu kämpfen. Um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: „Der Kämpfer, der schon gegen alle Grobiane in der Arena gewonnen hat und der sich jetzt dem sozialen Kampf widmet, um die losgelassenen Grobiane in den Büros, Ministerien und im Regierungspalast ebenfalls auf ihren Platz zu verweisen, denn sie sind die gefährlichsten Grobiane.“ Er ist „der Verteidiger der armen Mieter*innen und die Plage der gefraeßigen Hausbesitzer*innen“. Seine wichtigsten Waffen sind: die Satire, die Einfallskraft, der scharfzüngige Humor, die Überzeugung und vor allem die Entscheidung, bei den den Aktionen vorne mit dabei zu sein. ALAI sprach mit Superbarrio Gómez, damit er etwas über seine Organisation und über die städtischen Bewegungen überhaupt erzählt.

Alai: Superbarrio ist praktisch ein Synonym für die Asamblea de Barrios, die ihn geboren hat. Kannst Du uns Deine Schöpferin darstellen?

Die Asamblea de Barrios enstand aus einem Kampf, der siegreich ausging: der Kampf der Geschädigten des Erdbebens von 1985. Er erreichten den Wiederaufbau der Viertel im Stadtzentrum und den Respekt vor ihren Wurzeln. Das Auftauchen der Asamblea ist die Fortführung des Kampfes mit Gruppen der Opfer. Aber mit den Opfern von immer, nicht mit denen des Erdbebens, denn deren Forderung nach Wiederaufbau hatte sich praktisch erfüllt.

Alai: Wen meinst Du, wenn Du von den „Opfern von immer“ sprichst?

Die Opfer der Krise, die lebenslangen Opfer, die an den Rand gedrängten, die Teile der Bevölkerung, die keinen Zugang zu den Wohnungsprogrammen, den Programmen für soziale Entwicklung bekamen. Was geschieht ist, dass diese, diese von immer, sich mit den Geschädigten des Erdbebens verbündeten. Es gab keinen Unterschied, der sie auseinandertrieb. Und da der Kampf der Erdbebengeschädigten positiv ausgegangen war, waren die Leute von Begeisterung erfüllt. Sie hatten den Beweis, daß es möglich war, sich zu organisieren, zu kämpfen und zu gewinnen. Mit dieser Begeisterung und dieser Reflexion, dass es möglich war, eine Wohnung zu bekommen, entsteht die Asamblea de Barrios. Sie entwickelt sich vor allem Ende der 80er Jahre mit einer wirtschaftlichen Aussicht – der erleichterte Zugang zu Wohnungskrediten, denn die offiziellen Programme des sozialen Wohnungsbau hielten einen gewissen Finanzierungs- und Aufmerksamkeitsspielraum fuer die Organisationen aufrecht. Deswegen erreichte die Asamblea eine Reihe von Wohnungsprojekten durch Druck und Aktion, um Kredite zu bekommen.

Alai: Konnte diese Aktivität beibehalten werden?

Heute stehen wir einer anderen Situation gegenüber. Die fehlende Finanzierung fuer öffentliche Organismen, die Rezession, die wirtschaftliche Instabilitaet, usw. diese Wohnungsinstitutionen direkt getrofffen, der ganze Bewilligungsprozess ist praktisch gelähmt. Wir analysieren deswegen jetzt die neuen Wirtschaftsbedingungen des Landes, um neue Strategien zu entwerfen, die uns erlauben, uns diesen Problemen zu widmen. Es gibt heute eine sehr beschleunigte Privatisierungsentwicklung der sozialen Wohnungsbauprogramme. In der Praxis erfüllt die Mehrheit der Bevölkerung nicht die Anforderungen für einen Bankkredit für den Wohnungsbau. Beispielsweise werden Sparforderungen auferlegt, doch bei den derzeitigen Lohnbedingungen ist sparen etwasunerreichbares.

Die soziale Zusammensetzung der Asamblea de Barrios selbst hat sich verändert. Die Leute, die jetzt kommen, sind Leute, die einen gewissen wirtschaftliche Möglichkeiten haben. Andererseits hat der Staat seine eigenen Vorstellungen gegenüber dem Wohnungsproblem modifiziert. Im Hauptstadtdistrikt wird ein Wohungsbauförderungsgesetz diskutiert, das einige zutiefst neoliberale Züge traegt. Eine legale Spekulation mit der Bodenreserve, mit dem, was sie die „Verbörsung (bursatilización) des Wohnungsbaus“, das heißt des Bodens, nennen. Wer ein Grundstück kauft, muss gleichzeitig einige Finanzierungsinstrumente kaufen, die „terrabonos“ (Bodengutscheine) heissen. Das bedeutet, einen Wettberwerb der großen Immobilienkapitale, der Spekulanten, vorzuzeichnen – bei der sozialen Notwendigkeit der Bevölkerung, eine Wohnung zu haben.

Alai: Wie haben sich diese Veränderungen auf die Beziehung zwischen dem Staat und den Stadtteilorganisationen ausgewirkt?

Die Absicht der Regierung ist, mit jeder Organisation getrennt zu verhandeln. Das hat uns über die Notwendigkeit nachdenken lassen, gemeinsam auf [mögliche] Vereinbarungen zu antworten, gegenüber den Wohnungsprogrammen, dem Gesetz, den Finanzierungsangeboten, usw. Das heißt, ueber die Notwendigkeit eine Einheit und ein kollektiveres Verhalten der urbanen Bewegung zu begründen. Wir befinden uns momentan sehr feindseligen Bedingungen gegenüber, die uns zwingen, die Organisationsformen, das Projekt, die Strategien, usw., zu überprüfen. Nicht nur als Asamblea de Barrios, sondern als Gesamtheit der städtischen Bewegung, die sich in einer Entwicklung der Neubildung, der Diskussion befindet, wo die Sorgen die gleichen sind und es eine Reihe wichtiger gemeinsamer Überlegungen gibt.

Alai: Welches sind die wichtigsten Kennzeichen dieser Neubildung, welches die zentralen Themen bei der Reflexion?

Es hat vorher einen sehr zufälligen Prozess mit großer Zersplitterung gegeben. Jeder hat eher von seinem eigenen Schützengraben aus gekämpft. Wir haben nicht über unsere eigenen Organisationen und wenige andere hinausgedacht, in sehr geschlossenen Zirkeln sozialer Gruppen und Leitungen der sozialen Organisationen. Dennoch glaube ich, dass sich seit dem Ereignis des 19. September [1995], dem zehnten Jahrestag des Erdbebens, ein Klima der Toleranz geöffnet hat. Mit mehr Respekt, als ob die Organisationen muede waren, sich gegenseitig schlecht zu machen, sektiererische Einstellungen zu beziehen oder die Aufrufe anderer ins Leere laufen zu lassen. So als ob dies ein Ende erreicht haette und wir sehen würden, das der ganze gegenseitige Haß überwunden werden muß.

Am 19. September haben wir eine Demonstration mit 150.000 Menschen durchführen koennen. 80 Prozent der Organisationen der urbanen Bewegung von Mexiko-Stadt haben teilgenommen. Und das wichtige war, dass wir nicht im Streit geendet sind, denn in der Regel haben wir uns vorher immer wüst beschimpft (sacándonos la madre)… immer gab es Krach, einen Wirrwarr von Beschuldigungen, einen Tanz der Ideologien, der uns daran hinderte, einheitliche Veranstaltungen zu machen. Diese Mobilisierung hat uns die Möglichkeit geöffnet, eine vielfältigere Basis der Bewegung zu schaffen. Bestärkt wurde das auf dem Treffen des Kontinentalen Bündnisses der Kommunalen Organisationen (FCOC) in Havanna. Das FCOC verteilt Aufgaben, die als Land übernommen werden müssen und das bedeutet eine Diskussion über die Einheit der eigenen Bewegung.

Geholfen hat ebenso die Entwicklung im Hinblick auf die Weltkonferenz Habitat. Über das besondere dieses Ereignisse hinaus haben wir über die Perspektiven und Herausforderungen nachgedacht, die sich für die Bewegungen ergeben. Anfang Oktober [1995] gab es in der Stadt Guadalajara ein landesweiten Kongress über die sozialen Aspekte des Wohnens mit der Beteiligung von mehr als 70 Organisationen und Vereinigungen und einer Reihe wichtiger Annäherungen. Ich glaube, es besteht der Wille der Führungen, der sozialen Bewegungen auf diesem Weg weiter zu gehen. Außerdem ist da die eigene nationale Wirklichkeit. Es gibt in Mexiko heute einen nationalen Dialog zwischen den Parteien und der Regierung über die Staatsreform; es gibt den Dialog der Zapatistischen Armee mit der Regierung. Das heisst, es öffnen sich eine Reihe von Spielräumen und politischer Szenarien, die sehr weitgreifende Folgen haben können. Die Befürchtung der staedtischen Bewegung ist es, in diesen Szenarien nicht präsent zu sein, keine Stimme zu haben, von der Stadt aus nicht darüber nachzudenken, wie das Verhalten in diesen Diskussionsspielräumen sein sollte, die zu wichtigen Verfassungsänderungen führen können. Diese ganze Situation hat uns ermutigt, tolerant zu sein, zu sagen: Runter vom Sektenstuhl, wir werden uns zumindest zuhören, wir werden zusammen nachdenken und werden sehen, wie wir vorwärts kommen. Es gibt wirklich genug Gruende und Anlässe, diese Diskussionsanstrengung zu machen. Diesmal wird sie uns hoffentlich neuen Mut geben.

ARGENTINIEN

Die Kinder der Verschwundenen erobern die Erinnerung zurück

– von Valeria Belloro

(Buenos Aires, 27. Februar 1996, sem-POONAL).- Auf dem Gebiet der Menschenrechte ist die auffälligste Entwicklung in Argentinien die Gründung des „Landesweiten Netzes der Kinder für Identität und Gerechtigkeit gegen das Vergessen und Schweigen“, kurz „Hijos“ (Kinder). Es sind die Kinder der Verschwundenen, Ermordeten, politischen Gefangenen oder der Exilierten unter der Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 im Land herrschte. Das überwältigend schnelle Anwachsen dieses Netzes entspricht dem Gefühl der Schutzlosigkeit, den die Straffreiheit in einem großen Teil der Bevölkerung erzeugt. Die Gruppe entstand im April 1995 als Initiative zweier Kinder von Verschwundenen. Zum Jahresende gab es bereits Vertretungen in praktisch dem ganzen Land.

Die Geburtsstunde von Hijos faellt mit dem Datum zusammen, an dem die Enthüllungen des Armeechefs General Martín Balza das Land bewegten. Balza bat um damals um Entschuldigungen für die „Fehler, die die Truppen begangen haben. Die Streitkräfte glaubten fälschlicherweise, dass das Sozialwesen nicht genug Antikörper hatte, um der Gewalt entgegenzutreten und mit der Zustimmung vieler übernahmen sie einmal mehr die Macht, indem sie den Weg der institutionellen Legitimität verließen.“ Eines der Ziele von Balza – respektiert von den Streitkräften und den politischen Kräften – ist der Versuch gewesen, die Militärs mit der Zivilgesellschaft zu versöhnen. Für die betroffenen Gruppen, darunter die Mütter von der Plaza de Mayo, Hijos und andere Menschenrechtsorganisationen, läßt die Versöhnung jedoch auf sich warten.

„Juana wurde in Gefangenschaft geboren. Als Lucila zehn Jahre alt war, sagt ihr ein Herr in Uniform 'wir lassen Euch leben, damit ihr erzählt, zu was wir fähig sind'. Ramiro lebt in Mar del Plata und hat einen Bruder, der von ihm nichts weiß. Carlos leidet an Gedächtnisausfall. Dreijährig wurde er gezwungen, sich einige Leichen anzusehen, um zu bestimmen, ob es sich um seine Eltern handelte.“ So beginnt ein Dokument, das Hijos verfasst hat. In der Organisation sind die neuen Vorkämpfer*innen eines Kampfes, den die Menschenrechtseinrichtungen seit zwei Jahrzehnten führen. 20 Jahre nach dem Militärputsch – das genaue Datum war der 24. Maerz 1976 – und 13 Jahre nach dem erneuten Übergang zur Demokratie werfen die Jahre unter den Militärstiefeln einen Schatten, der immer noch einen großen Teil der nationalen Debatte bedeckt.

Die Menschenrechtsorganisationen stimmen darin überein, daß die „Versöhnung“ nicht möglich ist, solange die Verantwortlichen und die Henker der mindestens 30.000 Toten frei sind. In groben Zügen sind das die zentralen Punkte eines Konfliktes, der bis vor wenig mehr als einem Jahr vor der fast allgemeinen und scheinbaren Apathie der Bevölkerung stattfand. Die Sorge vieler Menschenrechtsaktivist*innen bestand zu dieser Zeit darin, wer den Kampf fortführen wuerde, wenn die Zeit unerbittlich das Vergessen fördern würde. Die verstreichenden Jahre ließen nicht nur die Großmütter und Mütter der Plaza de Mayo älter werden. Sie machten ebenso die Kinder der unter der Diktatur am meisten bestraften Generation zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Beim Widerstandsmarsch im vergangenen Dezember – einer jährlich von den Menschenrechtsgruppen organisierten Demonstration – kamen die jungen Leute erstmals unter dem Dach einer gerade acht Monate alten Organisation – Hijos. Mit ihrer aktiven Beteiligung an der Vorbereitung des Marsches, des größten der vergangenen Jahre, gehörten die Hijo-Mitglieder auch zu den Redner*innen beim Abschluß der Veranstaltung.

Andrés hatte die Aufgabe, sich an die tausenden von Demonstrant*innen zu richten. „Viele Jahre lang wollten sie, daß wir Niemandskinder seien. Heute sagen wir mit Stolz, daß wir Kämpfer*innen sind, Kinder von Kämpfer*innen. Kinder eines Traumes, der nicht verschwand, denn der einzige Kampf, der verloren wird, ist der, den man aufgibt. Und nicht die Mütter, nicht Ihr, nicht wir werden aufgeben, denn unsere Eltern marschieren heute lebendiger als je mit uns“, erklärte er. Hijos beruft sich auf den Kampfgeist der Eltern. Die Kinder weisen die „Theorie von den zwei Dämonen“ zurueck, die den Staatsterrrorismus mit dem zivilen Widerstand gleichsetzt. Sie wehren sich gegen die Schlußpunktgesetze, das Gesetz ueber die Gehorsamspflicht und das über die Begnadigung. Die Organisation arbeitet zur Identitätsfindung der Kinder von Verschwundenen, die unter der Militärdiktatur Adoptiveltern übergeben wurden und versucht, die Veraussetzungen für die Verurteilung der Unterdrücker zu schaffen. Anderen Anliegen im Bereich der Menschenrechte schließt sich Hijos an.

Inzwischen gibt es regionale Organisationen in den Provinzen Salta, Jujuy, Tucuman, Córdoba, Santiago del Estero, Chaco, Mendoza, Neuquén, Santa Fe und Buenos Aires. Zu dem letzten landesweiten Treffen kamen 400 Personen, aber die Angabe der Mitgliederzahl ist schwierig. Jede Woche werden es mehr. Geld von der Regierung gibt es nicht. Inzwischen rufen die Schulen Hijos, damit deren Mitglieder ueber ihre Erfahrungen und die jüngste Geschichte des Landes erzählen. Information fehlt sehr oft und das Interesse, etwas zu erfahren, wird immer stärker. „Am Anfang haben die Kinder Angst, unsere Gefühle mit ihren Fragen zu verletzen. Aber wenn jemand Mut fasst, entstehen intensive Diskussionen. Es macht einen starken Eindruck, wenn ein 'Kleiner' von 17 oder 18 Jahren die Geschichte einem Gleichaltrigen erzählt“, sagt der 23jährige Federico. Federico mußte von klein auf lernen, mit der Erinnerung an die Ermordung seiner Eltern durch die Diktatur zu leben. „Uns ist es passiert, dass wir in einer Schule gesprochen haben und auf Kinder von Verschwundenen getroffen sind, die jetzt bei uns sind“, erzählt er.

Hijos hat eine Archiv- und „Geschichtsrekonstruktionskommission“. Deren Ziel ist es, „unser Wissen zu vertiefen, um unsere interne Diskussion mit mehr Elementen zu versehen“. Für diejenigen, die während der Diktatur geboren wurden oder zur Schule gingen – wie der Mehrheit der Hijos-Mitglieder – ist die politische Aufarbeitung der 70er Jahre eine Geschichte, die über die zensierten offiziellen Wege hinaus rekonstruiert werden mußte. Hijos hat auch eine Kommission für die moralische Verurteilung. Sie ist damit beauftragt, die Unterdrücker und ihre Komplizen öffentlich zu nennen, deren Stadtviertel mit Plakaten zuzukleben oder dort Flugblätter zu verteilen und in den Kommunikationsmedien Warnungen zu verbreiten. Außer dieser Aktion werden Veranstaltungen auf dem Gelände ehemalgier Konzentrationslager durchgeführt und die Verschwundenen an ihren ehemaligen Arbeits- oder Studienorten geehrt. Wenn die fortschrittlichen Gruppen der 70er Jahre in eine Vielzahl von Fraktionen zersplittert waren, so sind die Kinder dieser Aktivist*innen bereit, zu beweisen, daß die gemeinsamen Punkte wichtiger als die ideologischen Unterschiede sind. Einige, die von ihren Freund*innen oder Studienkolleg*innen – von denen sie extreme Erfahrungen trennen – nicht verstanden wurden, fanden in dem Netz einen Ort, wo das Verständnis keine Wörter braucht.

„Es ist, wie Dich mit Deinen Geschwistern zu treffen“, sagen Mitglieder. Gezwungen, unter der Diktatur aufzuwachsen, erinnern sich die Kinder an die Grundschule. „Ich habe immer gesagt, daß ich ein Kind von Verschwundenen war“, berichtet Camilo. „Das Komplizierte war, dass ich danach alle übrige erklüren mußte, wie es passierte, warum… Du bist auf Leute getroffen, die Dir schrecklich Dinge an den Kopf warfen… wie auch andere, die solidarischer waren. Angst? Nein, nachdem, was wir durchgemacht haben, mehr Angst als das ist unmöglich.“ Veronica dagegen antwortete, dass ihre Eltern bei einem Autounfall umgekommen wären, wenn sie gefragt wurde. „Ich war schon ziemlich mitgenommen und wußte nicht, ob irgendwas passieren koennte“, rechtfertigt sie sich. Von seinen Nächsten nahm die Diktatur Camilo „meine Eltern, die getrennt lebten, den Ehemann meiner Mutter, die Frau meines Vaters, den Bruder des Mannes meiner Mutter, den Neffen meiner Großtante und dessen Lebensgefährtin“. „Sie ist lebenslanges Mitglied“ fügt Pablo sarkastisch hinzu. Dieser scharfe, schneidende Humor ist eines der Kennzeichen, der jungen Leute von Hijos, die SEM interviewte.

Federico erinnert daran, dass er es trotz all seiner Anstrengungen nicht schaffte, von der weiterführenden Schule verwiesen zu werden. „Sollte das etwa sein, weil ich Kind von Verschwundenen war…?, fragt er. Verónica fügt hinzu, daß die Situation für die Kinder „denen noch irgendein Elternteil übrigblieb“ anders ist. Mitten im Satz bricht sie ab, überrascht von dem unheilvollen Humor, der aus der Verbindung von Schrecken und Leben geboren wird. Um einen improvisierten Schreibtisch herum in einem Haus der Mütter der Plaza de Mayo sitzend, vor den Wänden, die mit den Fotos der Verschwundenen bedeckt sind, erzaehlen Pablo, Verónica und Camilo ihre Lebensgeschichte. Es sind junge Leute von etwas über zwanzig. Pablo ist Maler, Keramiker, Klempner… er addiert die Berufe, um gegen die Krise anzukämpfen. Verónica arbeitet als Assistentin an einer Schule, sucht aber eine zweite Beschäftigung, denn „mit einer einzigen reicht es nicht, ich lebe alleine und versuche, vorwärts zu kommen.“ Die jungen Leute von Hijos kämpfen um ihren Unterhalt wie alle Bürger*innen. Aber außerdem kämpfen sie, um die Erinnerung lebendig zu halten.

KUBA

Reaktionen auf das Helms-Burton-Gesetz

(Havanna, 14. März 1996, prensa latina-POONAL).- In einer Flut von Erklärungen geht die weltweite Ablehnung des jüngst in den USA verabschiedeten Helms-Burton-Gesetzes weiter. Im allgemeinen wird die Absicht, Länder zu bestrafen, die mit Kuba Handel treiben, als despotisch bezeichnet. 48 Stunden nach der Zustimmung durch Präsident William Clinton richtet sich die Kritik besonders auf die extraterritorialen Bestimmungen. Diejenigen, die von einem Attentat gegen die Souveränitaet anderer Völker sprechen, führen an, daß keine Nation der Welt berechtigt ist – und noch viel weniger durch Gewalt – politische Strategien über die eigenen Grenzen hinaus zu diktieren. Das Helms-Burton-Gesetz sieht vor, den Handel und die Investitionen mit Kuba zu blockieren. Es beabsichtigt Vergeltungsmaßnahmen gegen Drittländer, Unternehmen und Einzelpersonen, die Geschäfte mit Havanna weiterführen oder aufnehmen – beispielsweise ist die Visaverweigerung aufgeführt. In Lateinamerika sind die Botschaften, die sich gegen dieses Instrument wenden, von Argentinien bis nach Mexiko zu verzeichnen. In Argentinien wird eine Parlamentserklärung gegen das Gesetz diskutiert, in Mexiko gibt eine scharfe Kritik des Unternehmersektors gegen die nordamerikanischen Absichten. Solidaritätsgruppen mit Kuba in Buenos Aires qualifizieren die Initiative als offensichtliche Erpressung und als eine Agression, die sich zu den 35 Jahren Embargo gegen die Karibikinsel addiert.

In Honduras sagte dessen Präsident Carlos Roberto Reina, das kubanische Problem dürfe auf keinen Fall mit Druck oder durch Gewalt gelöst werden. Die bolivianische Regierung hob die allgemeine internationale Ablehnung gegen das Gesetz hervor, das nach dem Urteil des dortigen Außenministers Antonio Aranibar gegen die Interessen und die Selbstbestimmung der Nationen der Welt verstößt. Die Regierung schloss sich ebenfalls einer kürzlichen Erklärung der Rio-Gruppe an, die den US-Versuch als Verletzung der Prinzipien und Regeln des Welthandels bezeichnete. In Brasilien versicherte die Regierung von Fernando Henrique Cardoso zwar, das Gesetz werde die Beziehungen zu Washington nicht beschädigen, doch das Außenministerium erinnerte daran, daß die brasilianische Seite bei dem letzten Besuch Warren Cristophers ihre Ablehnung gegenüber der Blockade deutlich gemacht habe.

In Venezuela äußerte sich die Abgeordnetenkammer wegen der extraterritorialen Auswirkungen in gleicher Weise. In diesem Land verkündete der Gouverneur der Provinz Sucre, Ramon Martinez, nachdrücklich, er werde seine Verhandlungen mit Kuba fortführen. Dabei geht es um Verträge ueber Fluglinien und Schiffe für den Thunfischfang. „Davon werden wir nicht zurücktreten“, so Martinez. „Niemand kann uns sagen, mit wem wir Handel treiben dürfen und mit wem nicht. Die Beziehungen Venezuela bestimmen die Venezolaner*innen. Die nordamerikanischen Führer haben sich ganz einfach geirrt.“ Auch nach dem Urteil des mittelamerikanischen Parlamentes verletzt die Anwendung des Helms-Burton-Gesetzes die Unabhängigkeit aller Länder und die Ausführung wird durch keine internationale Verfügung gerechtfertigt. Die Welle der Ablehnung dehnt sich bis nach Europa aus. Der Präsident der russischen Staatsduma, Guennadi Selezniov, verurteilte das Gesetz kategorisch. Es handele sich um ein Überbleibsel des kalten Krieges. Washington beweise, so der Parlamentsvorsitzende, dass es sich zum Herrn der ganzen Welt aufschwingen wolle – und das mit einer Politik, die nur sehr geringe Bewertungen verdiene. Von einem Extrem des Planeten zum anderen sagt das Helms-Burton-Gesetz für betraechtliches Ärgernis. An seinem eigenen Ursprungsort, den Vereinigten Staaten, bereiten tausende von Menschen Protestmärsche vor.

URUGUAY

Reformen ohne Volksbefragung

(Montevideo, 15. März 1996, comcosur-POONAL).- Das uruguayische Wahlgericht sprach sich gegen ein Referendum aus, um die Bevölkerung über den Inhalt des Reformgesetzes zur Sozialversicherung abstimmen zu lassen. Verschiedene soziale und politische Organisationen hatten einige Artikel der Reform kritisiert und bekämpft und etwa 60.000 Unterschriften für die Volksbefragung gesammelt. Das Gericht ist jedoch der Auffassung ein so initiiertes Referendum verstoße gegen die Verfassung, da ausschließlich auf Initiative der Regierung dazu aufgerufen werden könne. Die Kommission „Pro Referendum“ entschloß sich nach dem Gerichtsentscheid sofort, auf eine Verfassungsänderung im Jahr 1999 hinzuarbeiten. Ab dem 1. Mai wird damit begonnen, für dieses Vorhaben Unterschriften zu sammeln. Ziel ist eine andere Zusammensetzung des Vorstandes der Bank für Sozialfürsorge sowie des Wahlgerichtes und eine teilweise Anullierung des umstrittenen Reformgesetzes. Bei einer anderen Reform wurden die Betroffenen ebenfalls nicht gefragt. In diesem Fall handelt es sich um die Bildungsreform, die der Regierungsbeauftragte Prof. Germán Rama für das Unterrichtswesen durchsetzte. In diesen Wochen beginnen die Klassen der Grundschulen und der weiterführenden Schulen. Auch bei diesem Thema hat die Interamerikanische Entwicklungsbank (BID) die Richtung der Änderungen bestimmt, die im Haushaltsplan ihren Durchschlag fanden, ohne daß es vorher eine nationale Debatte über die mittel- und langfristigen Bildungsziele des Landes gab. Die Vereinigungen der Lehrer*innen und Dozent*innen haben ihre Ablehnung gegen das Projekt erklärt.

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