Poonal Nr. 233

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 233 vom 6. März 1996

Inhalt


HAITI

KUBA

VENEZUELA

NICARAGUA

URUGUAY


HAITI

Community-Radios (Teil 2)

(Port-au-Prince, Februar 1996, hib-POONAL).- Die Vielfalt der Community-Radiobewegung zeigt das Beispiel Radyo Vwa Klodi Mizo (RVKM) in Les Cayes. Sie folgen einem anderen Ansatz als die UNESCO. Ein Mitglied der 1987 gegründeten Volksorganisation Mouvman Inite Pep Okay (MUPAC) beschreibt die Entwicklung dieses Senders. „Während des Putschregimes hatten wir eine kleine Zeitschrift mit Information über das, was im Land passierte, besonders über die Unterdrückung. Wir merkten, daß es nicht nur teuer war, zu drucken, sondern daß viele Leute nicht lesen konnten.“ Die meisten Menschen in der Region bekamen ihre Nachrichten über den US-Regierungssender „Voice of America“. Die MUPAC und eine andere Gruppe, die Mouvman Peyizan Sid, hielten es für notwendig, etwas zu tun und faßten die Möglichkeit einer Radiostation ins Auge. „Wir wußten nicht wirklich, was ein 'Community-Radio' war“, so das Mitglied der Mouvman Inite Pep Okay. „Wir wollten ein Untergrundradio machen. Das war die Idee in unseren Köpfen. In der damaligen Zeit konntest Du kein Community- Radio machen.“

Zu den treibenden Kräften des Projektes gehörte Jean-Claude Museau, ein Lehrer und Mitglied von MUPAC. Er reiste zwischen Les Cayes und der Hauptstadt hin und her, brachte Informationen und suchte nach Unterstützung. Im Dezember 1991 wurde Museau verhaftet und so brutal geschlagen, daß er an den Verletzungen starb. Als er im Januar 1992 freigelassen wurde, lag er bereits im Sterben. Sein Tod löste große Wut aus. Menschenrechtsorganisationen und Politiker*innen haben wiederholt auf seinen Fall hingewiesen. Von den Mördern wurde niemand vor Gericht gestellt und verurteilt. Erst im vergangenen Jahr gab es einen Prozeß in Abwesenheit der Täter. Die Mitglieder der MUPAC arbeiteten trotz des Rückschlags weiter am Radioprojekt. Sie kamen mit der Sosyete Animate Kominikasyon Sosyal (SAKS) in Kontakt, besuchten Ausbildungsseminare, sammelten Material und Ausrüstung für ein Studio. Sie suchten nach Spendenmitteln, um den Sender und die Sendeantenne kaufen zu können und sprachen mit anderen Leuten in der Bewegung. Die MUPAC produzierte auch ein kleines Nachrichtenprogramm. Es wurde während des Putschregimes auf Cassette von Hand zu Hand weitergereicht. Seit einiger Zeit sendet ein kommerzieller Radiosender die Nachrichten von MUPAC.

Dabei handelt es sich nicht um die ersten Radioerfahrungen. In der 80er Jahren bekam die MUPAC jeden Sonntag eine Stunde Sendezeit bei einer katholischen Radiostation. Das Programm hieß „Rundfunk der armen Leute“. „Wir wollten die Leute zu uns einladen und sie über den Sender sprechen lassen“, erzählt das MUPAC-Mitglied. Doch bald gab es Beanstandungen, Der Priester, der Hilfe gewährte, wurde versetzt und sein Ersatz wollte das Programm schließen. „An diesem Tag kamen viele Menschen aus der Bevölkerung, denen die Sendung gefiel und machten ein Sit-in gegenüber der Station.“ Ändern tat sich dadurch nichts. Am nächsten Tag „sah ich zwei Polizisten. Sie kamen, um mich zu verhaften. Sie sagten, wir würden kommunistische Propaganda betreiben. Auch Bischof Romelus (einer der reaktionärsten Vertreter des haitianischen Klerus; die Red.) hätte uns als Kommunisten bezeichnet. Sie sagten, wir würden unser Geld aus Jugoslawien bekommen.“ Vier Tage verbrachte der Mann im Gefängnis, bis er auf Druck der Bevölkerung frei kam.

Kurz vor der Öffnung

Auch nach dem Ende des Putschregimes haben die Bewohner*innen der Les Cayes-Region immer noch wenig Informationsauswahl. Es gibt vier Radiostationen, zwei religiöse und zwei kommerzielle. Von den letzteren sendet die eine das Programm von Voice of America, die andere spielt fast nur Musik. Ein fünfter Sender, der der evangelischen Kirche nahesteht, hat gerade den Betrieb aufgenommen. Anscheinend übernimmt er Nachrichten von Radio Metropole. Dieser Sender wiederum hat Verbindungen zur Voice of America und unterstützte den Staatsstreich mehr oder weniger offen. Es gibt Zeitungen aus der Hauptstadt. Sie werden jedoch wenig gekauft. In der Nähe hat die Campesino-Organisation aus Pliche gerade den Community-Sender Radyo Vwa Peyizan Sid eröffnet. Das Projekt ist stark mit einem örtlichen katholischen Priester verbunden und gesendet wird von der Kirche aus. Die Gemeinde ist beteiligt, doch das MUPAC-Mitglied meldet Zweifel an. „Meine Befürchtung: Was wird passieren, wenn der Priester versetzt wird?“ Ein Negativbeispiel bietet Radio Soleil. Nach mehreren Jahren auf Sendung entließen die Bischöfe das Radioteam und strichen alle fortschrittlichen Programme.

Die Mouvman Inite Pep Okay hat jetzt endlich ihre Frequenz zugewiesen bekommen. Die Ausrüstung befindet sich im Land. Der Name des Senders wird Radyo Vwa Klodi Mizo (RVKM, Stimme von Claude Museau) sein. Vorgesehen sind Informations-, Kultur- und Musiksendungen. Der geplante Start ist in diesem Frühjahr. „Wir hoffen, daß das Radio gute Information bringt, den Leuten hilft und ein Instrument zur Kommunikation ist. Wir meinen damit wirkliche Kommunikation, bei der es zwischen denen, die sprechen und denen, die zuhören, einen Austausch gibt. Wir wollen nicht nur einfach sprechen, damit die Leute zuhören, sondern wir wollen ebenso den Leuten zuhören. Wir sagen nicht, daß wir die Stimme derer ohne Stimme sind. Wir werden nicht anstelle der Leute sprechen. Wir wollen das Megaphon für die Leute sein.“

Community- oder Volksradios eröffnen eine Vielzahl von Möglichkeiten für die haitianische Demokratie- und Volksbewegung. Wie Sony Esteus von SAKS sagt, „kannst Du in 15 Minuten tausende und abertausende Menschen erreichen und die demokratische Bewegung vorwärts stoßen“. Aber dieser „Stoß“ wird nur gelingen, wenn die Information und die Analyse fortschrittlich sind. Programme über Landwirtschaft und Gesundheit sind wichtig. Doch letztendlich sollten die Community-Radios eine Rolle spielen, die zu strukturellen Veränderungen führt, die die Ursache der Landwirtschafts- und Gesundheitsprobleme löst. In diesem Sinne können die Sender – besonders in einem Land, das keine Schreibkultur hat und in dem 80 Prozent der Menschen Analphabeten sind – eine Bedeutung für die Bildung und Bewußtseinshebung haben. Sie können die Haitianer*innen mobilisieren, für ein besseres Leben zu kämpfen.

KUBA

Was bleibt vom Sozialismus? (Teil 2)

– von Orlando Perez

(Havanna, 22. Februar 1996, alai-POONAL).- Im ersten Teil des Beitrags (siehe Poonal 232) berichteten wir über die Kritik, die Wissenschaftler während eines Seminars vom 12. bis 14. Februar in Havanna an den Versuchen der kubanischen Regierung übten, die wirtschaftliche Krise in dem Land in den Griff zu bekommen. In dieser Ausgabe steht die Haltung Kubas im Mittelpunkt. In eine Debatte verwickelt, die weder in den Medien noch im Parlament der Karibikinsel zum Ausdruck kommt, analysieren die Kubaner*innen doch tagtäglich die Auswirkungen der Krise und die Wege, sie zu überwinden. Im Zentrum der Diskussion steht zweifellos die Möglichkeit, das Gute des Sozialismus zu „retten“. Julio Carranza vom Forschungszentrum für Amerika (CEA), der kubanischen Institution, die das Seminar in Havanna organisierte, meint: „Die Ökonomie hat in diesem Zeitraum eine sehr große Rolle gespielt. Aber man darf die Diskussion nicht allein auf die wirtschaftliche Seite reduzieren. In dieser ganzen Dikussion gibt es einen wesentlichen politischen Inhalt, der außerordentlich wichtig ist.“ Ein großes Problem in der derzeitigen Situation sei, daß eine langfristige Planung kaum möglich sei. „Die Straße ist sehr windungsreich. Wenn wir daher an eine Biegung kommen, blicken wir bis zur nächsten und so legen wir einen Weg fest, damit die Entwicklung der grundsätzlichen Faktoren garantiert ist.“

Der Forscher des CEA besteht auf dem Primat der Politik. „Denn in dem Maße, in dem es Entwicklungen außerhalb der Kontrolle der Wirtschaftspolitik gegeben hat, haben sich starke Konzentrationserscheinungen des Reichtums gezeigt. Heute stellen sie noch kein Hauptelement bei der sozialen Differenzierung dar, doch wenn das nicht rechtzeitig korrigiert wird, kann sich das in einen politisch komplizierten Faktor wandeln.“ Carranza schlägt deshalb vor, die Parallelwährung von Peso und Dollar aufzuheben, um „das Auseinanderfallen der Gesellschaft zu verhindern“. Die Unternehmensreform müsse vorangetrieben werden. Unter den derzeitigen Bedingungen könne der Staatsanteil nicht so hoch bleiben. Dieser sei früher die Garantie des politischen und wirtschaftlichen Systems gewesen und habe viele Jahre lang die Vollbeschäftigung gesichert, „aber auf der Grundlage einer hohen Unterbeschäftigung“. Diese, so Carranza, war wirtschaftlich tragbar, weil die Außenbilanz für Kuba vorteilhaft war. Der Bruch der wirtschaftlichen Beziehungen mit den Ländern Osteuropas verbiete, „ein Ziel wie die Vollbeschäftigung weiterhin aufrecht zu erhalten. Wir müssen zugeben, daß es in dieser Wirtschaft zu den momentanen Bedingungen keine Beschäftigung für alle gibt.“ Eine nicht-kapitalistische Antwort auf das Problem müsse „über eine Unternehmensreform gehen, die den Staatsanteil an der Wirtschaft und deren Funktionsweise verändert“. Als Ergebnis sieht der Wissenschaftler „neue Eigentumsformen, um in diesem Kontext die Vorherrschaft des gesellschaftlichen Eigentums zu sichern“.

Haroldo Villa, ebenfalls Mitarbeiter des CEA, sieht die Notwendigkeit sehr behutsamer Veränderungen: eine wirtschaftliche Anpassung, ohne die sozialen Leistungen der Revolution (Gesundheit, Bildung, soziale Sicherheit) abzuschaffen; eine Entstaatlichung des Bodens, ohne zum Privateigentum zu gelangen (Produktionskooperativen mit zugewiesenem Land); eine Dezentralisierung der Unternehmensführung, ohne der Staatsmacht als Leiterin und Haupteigentümerin der nationalen Reichtümer eine Absage zu erteilen. Villa wendet sich gegen ein Mehrparteien- Systyem, „das in anderen Ländern das Problem der Demokratie nicht gelöst hat“. Er kritisiert jedoch gleichzeitig das Verhalten der Kommunistischen Partei Kubas (PCC), der einzigen Partei auf der Insel. „Die PCC muß sich demokratisieren und die verschiedenen sozialen Interessen der Nation präsentieren. Sie muß wieder die Avantgarde sein, dieses natürliche Talent haben, Politik gemeinsam mit dem Volk zu machen.“

Für Juan Valdez vom CEA hängt die Lösung der Probleme unweigerlich davon ab, wie die Meinungsverschiedenheit mit den USA gelöst wird. Dabei sei die Diskussion über Kubas Zukunft jedoch von zwei Faktoren bestimmt: Der Entscheidung der Regierung Fidel Castros, ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit auch in Zukunft zu garantieren und das politische System so lange nicht zu reformieren, so lange die US-Drohung bestehen bleibt, die Insel wirtschaftlich zu blockieren und die innere Stabilität zu gefährden. Was den ersten Punkt angeht, sind sich die Expert*innen einig, daß ohne ein klares Programm die Auswirkungen einer größeren Beteiligung des Privatsektors sowie der Auslandsinvestitionen für Kapitalzufuhr, Technologie und Marktzugang nicht abzuschätzen sind. Bei einem möglichen Ende des nordamerikanischen Embargos oder entsprechendem Druck der Europäischen Union auf die internationalen Finanzorganisationen werden auch Kredite des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank nicht ausgeschlossen. Der zweite Punkt wird nach Ansicht vieler nicht so stark diskutiert. Das Wort haben die Revolutionsführer. Präsident Fidel Castro hat wiederholt geäußert, mit dem Einparteien-System „ist es uns gut gegangen und wir haben keine Gründe, es zu ändern“. Dennoch ist noch nicht darüber gesprochen worden, wie die politische Debatte und Beteiligung „vergesellschaftet“ werden können, ohne zum Mehrparteien-System zu greifen.

VENEZUELA

Zwei Jahre ohne klare Linie

– von Andres Canhizalez

(Caracas, 15. Februar 1996, alai-POONAL).- Wenn in den gut zwei Jahren der Regierung Rafael Caldera in Venezuela etwas herausgestellt werden kann, dann ist es die Fähigkeit zur Inkohärenz, die enorme Fähigkeit zur Unbestimmtheit. Noch überraschender ist die wiederholte Ankündigung der Regierung, diese Politik – oder besser gesagt diese Abwesenheit von Politik – nicht zu ändern. Caldera übernahm das Präsidentenamt im Februar 1994, zwei Jahre nach dem Putschversuch gegen Carlos Andrés Pérez. Das brachte praktisch die „Wiederauferstehung“ der venezolanischen Männer der ersten Stunde mit sich, die seit über fünzig Jahren die Politik in dem Land bestimmen. Der inzuwischen achtzigjährige Caldera kam mit einem Minderheitenvotum – 30 Prozent der Stimmen bei 40 Prozent Wahlenthaltung – an die Regierung. Er vereinigte jedoch bestimmte Charakteristika, um Venezuela aus der politischen Krise herauszuführen. Diese beruhigende Wirkung auf das erregte politisch-soziale Leben wird ihm heute durchaus zugestanden.

Dennoch ist die Regierungsführung genau von dem abhängig, was Caldera verurteilte, um an die Macht zu kommen: Dem traditionellen politischen Establishment von der Demokratischen Aktion (AD) und der sozialchristlichen COPEI. Caldera hatte die COPEI mit dem Ziel verlassen, ein Projekt über diese Allianz hinaus zu entwickeln. Er nahm dabei die Anti-Parteienstimmung auf, die im Venezuela der 90er Jahre präsent ist. Seine Kandidatur stelle er als „Convergencia Nacional“ (Nationale Zusammenkunft) vor. Diesen Namen benutzt heute Calderas Sohn Juan José für die Partei, die er und die Anhänger*innen seines Vaters in der tradioneller Weise leiten. Dies könnte als eine erste schwerwiegende Inkohärenz verzeichnet werden. Aber im politischen Bereich war Calderas größter „Verrat“ gegenüber seinen Ankündigungen der Pakt, den seine Regierung in der Praxis mit der AD abgeschlossen hat. Diese Organisation, der Sozialistischen Internationale angeschlossen, stellte die Präsidenten Jaime Lushinshi (1984-1989) und Carlos Andrés Pérez. Gegen beide sind immer noch wegen Korruptionsfällen Prozesse vor dem Obersten Gerichtshof anhängig.

Dank der Unterstützung durch die Demokratische Aktion bekam Caldera Sondervollmachten im Parlament. Im vergangenen Juli ließ er das Gesetz über die Verstaatlichung der Ölindustrie ändern. Im Januar dieses Jahre führte dies zur Rückkehr der transnationalen Ölkonzerne nach Venezuela (vgl. frühere POONAL-Ausgaben). Jetzt wird die Reform des Sozialversicherungssystems der Arbeiter*innen erwartet – in Übereinstimmung mit den Forderungen des Privatsektors. Die größten Unstimmigkeiten haben sich im Wirtschaftsplan gezeigt. Dem Land wurden insgesamt sieben solcher Pläne präsentiert, die nach den Namen einiger Minister getauft wurden (Plan Sosa, Plan Baptista, Plan Corrales, Plan Matos). Konkrete Wirkungen blieben aus. So ging der Plan Sosa von 1994 angesichts der Realität völlig unter. 1994 war das Jahr des finanziellen Zusammenbruchs und die Regierung entschloß sich, unter wenig vertrauenswürdigen Garantiebedingungen sieben Milliarden Dollar an die Banken zu zahlen, damit sie „den Sparern haften können“. Zwei Jahre später, Julio Sosa ist nicht mehr Kabinettsmitglied, fehlen dem Land für 1995 etwa fünf Milliarden Dollar. Trotz Exporterlösen (hauptsächlich durch das Öl) von 18 Milliarden Dollar, höher als die Prognosen der Behörden es erwarteten.

„Meine Absichtserklärung an das venezolanische Volk“, hieß pompös das Programm Calderas, mit dem er zu den Wahlen im Dezember 1993 antrat. Die Anspielung auf die Absichtserklärung, die Andrés Pérez mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) für ein traumatisches makro-ökonomisches Anpassungsprogramm unterschrieb, war nicht zufällig. Zu der bekanntesten Folge dieses Programmes gehörte der „Caracazo“, der Putschversuch vom Februar 1989. Es ist nur ein Jahr her, da sagte Caldera: „Wir werden nicht vor dem IWF auf die Knie fallen.“ Jetzt, d.h. seit Oktober 1995 hat sein Finanzminister Luis Raúl Matos ständige Treffen mit Funktionären des Internationalen Währungsfonds. Es geht dabei darum, die Leitlinien für das festzulegen, was die Regierung die „Agenda Venezuela“ nennt. In Wirklichkeit wird ein neues Anpassungsprogramm ausgearbeitet, das Privatisierungen, eine Verkleinerung des Staatssektors, Subventionskürzungen (wie beim Benzin) und die Wechselkursfreigabe (seit Juni 1994 existiert eine entsprechende Kontrolle) umfaßt.

Es muß erwähnt werden, daß mehr Sozialprogramme als 1989 vorgesehen sind. Doch in realen Werten ausgedrückt ist die Pro- Kopf-Zuweisung geringer, obwohl die Armut und die Arbeitslosigkeit bedeutend gewachsen sind. Die Regierung will dies nicht zugestehen und hat entsprechende Äußerungen von UNICEF und der Arbeitervereinigung Venezuelas (CTV) zurückgewiesen. „Caldera ist in seinem Wahldiskurs gefangen“ kommentiert der ehemalige Planungsminister Miguel Rodríguez, ein entschiedener Verfechter des Neoliberalismus'. Andere Expert*innen der Verwaltungshochschule IESA, aus der verschiedene Minister*innen der Pérez-Regierung hervorgingen, verlangen von Caldera ein kohärentes Wirtschaftsprogramm – mit oder ohne Internationalen Währungsfonds. Dies könne erlauben, das Steuerdefizit und die Inflation (70,8 Prozent 1994 und 56,6 Prozent 1995) zu reduzieren. Sie fordern ebenso, der Verzerrung des Devisenmarktes, hervorgerufen durch die Kontrolle seit Juni 1994, ein Ende zu setzen.

Das Fehlen eines globalen Planes, um die Wirtschaft in schwierigen Zeiten zu führen, zeigt sich nach zwei Jahren Amtszeit noch deutlicher. Der Präsident verbringt dennoch viel Zeit damit, den vorherigen Regierungen einen Großteil der aktuellen Probleme in die Schuhe zu schieben. Doch damit hat er immer weniger Erfolg, der Unmut über den konzeptlosen Präsidenten wächst. Sogar die katholische Kirche, die dem Staatschef in der Vergangenheit sehr nahe stand, spart nicht mit ätzender Kritik. Deren Hierachie bezeichnete die Regierung jüngst als „autistisch“ (Monseñor Roberto Lucker) und sprach von „Inkohärenz, Unbestimmtheit und Unbeständigkeit der Wirtschaftspolitik“ (Monseñor Ovidio Pérez Morales).

NICARAGUA

Sergio Ramírez kandidiert

(Mexiko-Stadt, 3. März 1996, POONAL).- Die Mitglieder der Sandinistischen Erneuerungsbewegung (MRS) wählten Ex-Vizepräsident Sergio Ramírez zu ihrem Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen am 20. Oktober 1996. Rámirez führt die MRS an, seit er und seine Anhänger*innen sich im vergangenen Jahr von der Nationalen Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) abspalteten. Für die FSLN wird voraussichtlich der frühere nicaraguanische Präsident Daniel Ortega als Spitzenkandidat antreten. Entgegen zwischenzeitlichen Gerüchten scheinen eine Versöhnung und ein gemeinsamer Präsidentschaftskandidat der beiden sandinistischen Strömungen derzeit ausgeschlossen.

URUGUAY

Radios Comunitarias: Der Angriff auf die Skala

– von Oscar Orcajo

(Montevideo, Januar 1996, Tierra Amiga/Comcosur-POONAL).- Seit vergangenem Jahr erleben wir in Montevideo, was in fast allen lateinamerikanischen Großstädten längst alltäglich ist: daß neben den Werberadios Sender mit geringer Leistung auftauchen, die sich Piraten-, Gemeinschafts- oder Stadtteilradios, freie oder alternative Radios nennen. Vorläufig beschränkt sich deren Präsenz auf den Westen von Montevideo: Sie können ungefähr vom Cerro bis Sayago empfangen werden. Wenn sich dieses neue Kommunikationsmedium auch noch – wie sich ein Mitarbeiter eines der Radios ausdrückte – auf prähistorischer Stufe befindet, kommt ihm doch Beispielcharakter zu, und es würde nicht erstaunen, wenn sich in kurzer Zeit mehr Sender zu Wort meldeten. Noch ist es zu früh, sind die Erfahrungen zu spärlich, um etwas zu ihrer sozialen Bedeutung zu sagen; ihre bloße Existenz deutet jedoch bereits auf eine Veränderung der Kommunikationsformen in der Gemeinschaft hin. Diese Stadtteilmedien haben mit zahlreichen Schwierigkeiten zu kämpfen, von technischen Problemen bis hin zu rechtlichen. Durch den Enthusiasmus und das Engagement der Macher*innen gelingt es ihnen, sich im Äther zu halten.

Radio Puente ging im Quartier La Teja auf Sendung, im Kielwasser einer Stadtteilzeitung, die seit mehreren Jahren die Quartierbewohner*innen mit Information von unten versorgt. Der Sender sieht sich als Gemeinschaftsradio „aus dem Quartier und für das Quartier“, als „Brücke der Kommunikation zwischen den Anwohnerinnen und Anwohnern“. Seine Sendeleistung betrug seit dem 16. Juli 1994, dem ersten Sendetag, bis vor kurzem 0,5 Watt, was einem Senderadius von etwa zwanzig Häuserblocks entspricht. Doch jetzt soll mit 25 Watt gesendet werden, der Sender ist damit über 25 Kilometer zu empfangen. Die neue Anlage wurde im Dezember 1995 dem StudentInnenverband im – bis anhin vergeblichen – Kampf für ein Budget, das den Bedürfnissen der höchsten Lehranstalt im Land entspricht, als Werkzeug zur Verfügung gestellt. Die Leute von Radio Puente hatten mit einer Auflistung der Ziele begonnen, denen der neue Sender gerecht werden sollte. Diese wurden von einem Kommunikationsbeirat formuliert, in dem über zwanzig Quartierbewohner*innen die Interessen von Stadtteilkommissionen, Schulen, Volkskliniken, Quartierrat, verschiedenen Vereinen, Klubs und Institutionen einbringen. Was zählte, war, daß mann/frau „etwas zu sagen“ hatte, die technischen Fragen waren bloß Nebensache.

„Wir versuchen hier, die Leute in den Quartierkommissionen, den Kneipen um die Ecke, den Frauengruppen genauso zu erreichen wie die Nachbar*innen, die sportlich oder kulturell tätig sind, etwa in einer Theatergruppe. Andere Stadtteilradios wenden sich beispielsweise an Jugendliche, die neue Formen der Kommunikation und andere Inhalte möchten, als ihnen die Kommerzsender bieten.“ Das Radio geht an Freitagen, Samstagen und Sonntagen mit insgesamt elf Gefäßen auf Sendung. Getragen wird es von etwa 60 Leuten, die am Mikrofon oder in der Technik mithelfen und alle sehr jung sind (unter zwanzig, von einigen „Veteranen“ abgesehen, die es auf dreißig Lebensjahre bringen). Sie sind Schüler*innen, Arbeiter*innen, Student*innen der Kommunikationswissenschaft und Arbeitslose, und sie leben praktisch alle im Stadtteil. „Eine Professionalisierung wird von niemandem als Bedingung angesehen“, gibt einer unsrer Gesprächspartner zu Protokoll.

„Mittelfristig können wir uns im Äther auch mit geringer oder gar ohne jede Professionalität halten. Denn wir sind hier viele Macherinnen und Macher und recht wenige Hörerinnen und Hörer. Anders liegen die Dinge in Buenos Aires, denn dort ist auch bei einem sehr beschränkten Senderadius das Publikum sehr zahlreich. Dies bedingt, daß die Übermittlungsqualität – und damit die Professionalität – so hoch wie immer möglich anzusetzen ist. Der technischen Qualität, der Spezialisierung kommt mehr Bedeutung zu, eine lose Mitarbeit wird schwieriger. Dies macht eine Koordinationsgruppe zur Betreuung der Sendegefäße nötig und dergleichen mehr.“

Basteln mit Draht und Lötkolben

„Mag auch die Technik am wenigsten Bedeutung haben, so erschwert uns doch das Fehlen von Mitteln die Arbeit sehr“, wendet ein anderer Radiomacher ein. „Das bedeutet, daß die Ausrüstung selbst gebaut werden und aus ihr das Aüßerste herausgeholt werden muß. Wir senden im UKW- Bereich, was beinahe zwingend ist; die Tonqualität ist da recht gut, die Ausstrahlung einfacher zu bewerkstelligen, und wenn nicht ein großer Senderadius angestrebt wird – etwas, was uns nicht intressiert -, kommt die Ausrüstung recht billig zu stehen. Auf FM/UKW zu senden, ist auch problemloser, weil der AM-Bereich übernutzt ist. Um die Ausrüstung zusammenzubasteln, muß natürlich jemand mit Elektronikkenntnissen mithelfen. Dazu ist noch zu sagen, daß es in Uruguay gar keine Sendeausrüstungen zu kaufen gibt.

Die Mindestausrüstung besteht aus einem Kassettengerät oder einem Deck, einem Mischpult, einem oder zwei Mikrofonen überdurchschnittlicher Qualität, dem UKW Sender und der Antenne; auch die muß selbst gebaut werden. Die Auslagen für den Bau von Sendegerät und Antenne bewegen sich in der Größenordnung von 400 Dollars. Unser Hauptproblem ist, daß unser Sender schwer zu empfangen ist. Dafür gibt es zwei Lösungen, entweder muß eine bessere Ausrüstung her, oder wir müßen mehr Zeit aufwenden, um die bestehende zu verbessern. Und diese Zeit können wir uns nicht nehmen, weil wir alle arbeiten oder anderes zu tun haben. Wir haben ein halbes Watt Sendeleistung, das Rundfunkübertragungsgesetz bezeichnet als Sender mit geringer Leistung solche unter 200 Watt. Wir verfügen also über den vierhundertsten Teil eines niedrigleistigen Senders. Wir bezeichnen uns daher als Radio mit niedrigster Leistung. Diese Schwierigkeiten haben andere Radiowillige bisher daran gehindert, auf Sendung zu gehen. Darum ist es unser Anliegen, die wenigen verfügbaren Kenntnisse zu kollektivisieren: Damit die Hoffnungen, die in dieses neue Medium gelegt werden, nicht an einem Apparätchen scheitern, das an sich problemlos ist, durch den Mangel an Geldmitteln aber zum großen Problem wird.“

Gesetzlos

Rechtlich gesehen sei ein Stadtteilradio inexistent, findet ein Anwohner. Und er führt aus: „Es ist völlig klar, daß ein kommerzielles Radio mit einer Leistung von weniger als 200 Watt nicht senden kann, da der Kreis seiner potentiellen Hörer*innen für eine gewinnbringende Aktivität zu klein wäre. Das Gesetz erfaßt all jene Tatbestände nicht, die darin nicht erwähnt werden. Wir stellen uns auf den Standpunkt, daß unser Fall nicht vorgesehen ist. Im Augenblick steckt die Sache noch tief in den Kinderschuhen, und es lohnt nicht, sich groß um solche Fragen zu kümmern. Erst wenn weitere Projekte nachziehen und womöglich eine gewisse soziale Wirksamkeit erlangen sollten, werden wir wohl sehen müssen, was zu tun ist.“

Die Stimmen aus Belvedere

Der Sender dieses Namens geht auf die Initiative dreier Freunde und Musikfreaks zurück, die beim Zappen durch die großen Stationen der Hauptstadt immer weniger auf ihre Kosten kamen. Das Team besteht inzwischen aus etwa 15 Jugendlichen und einem Kreis von Freund*innen, die gelegentlich mit Hand anlegen. Alle sind sie – mit Ausnahme eines „Alten, der schon 26 ist“ – unter zwanzig. Sie sind Punks und senden seit dem Februar 1995 aus einem Zimmerchen von drei auf drei Metern in einem Haus in Belvedere. Mit einer Leistung von 3 Watt sind sie über 6 km zu hören: Dies jeden Abend von 7 bis 11 Uhr. Ihr Anliegen war ein rein musikalisches, „bis uns klar wurde, daß wir da ein Kommunikationsmittel hatten und anfingen, es auch für Gegeninformation zu nutzen“. Programmschwerpunkte sind die verschiedenen Musikbereiche: Volksmusik, Volkslieder, Rock aller Stilrichtungen. „Das läuft mehr oder weniger so: Wir stellen die Themen vor, geben Infos zu den Bands und andern Themen durch. Gelegentlich stellen wir ein Diskussionsthema in den Raum, oder eine Hörerin, ein Hörer, reißt es an. Ein paar Beispiele für Themen, die hier behandelt wurden: Die Demo gegen die Auslieferung der Basken in Jacinto Vera, der Boykottag gegen McDonalds, Empfängnisverhütung… Ab und zu informieren Anwohner*innen das Quartier über Scherereien mit den Bullen. Es werden auch reichlich Politthemen angeschnitten, vor allem wenn sie den Frente Amplio oder die Stadtverwaltung betreffen. Alles in allem ist unser Radio also ganz schön interaktiv. Wir sind sehr spontan, die Programme flexibel. Es gibt natürlich Leute, die uns nicht mögen, wegen unsrer Art zu reden, die sie für unflätig halten. Wir wollen niemandem etwas vormachen und geben uns so, wie wir eben sind.

Wir müssen uns an gar nichts halten, weder an kommerzielle noch an politische Verpflichtungen. Außerdem sehen wir uns nicht als Stimme des Quartiers, es gibt keine Kontakte zu den Institutionen im Stadtteil. Andere Leute machen das anders, und das ist richtig so, aber unsre Wellenlänge ist eine andere.“ Im Selbstverständnis dieser jungen Macher*innen ist ihr Sender alternativ. „Was ist das Alternative dabei? Das ist simpel, etwas ersetzt etwas anderes, etwas, was es bis jetzt gab. Natürlich wollen wir, daß es mehr Piratensender gibt, die Sache ist leider nur die, daß es irgendwem einfallen kann, eine Sendeanlage aufzustellen und am Mikrofon irgendwelchen Blödsinn zu quatschen und den gleichen Musikbrei zu bringen wie alle andern. Wenn das dann so Mode wird, ist es auch ein echter Beschiß: Alles gleich wie bei den Kommerzsendern, nur viel kleiner, so wie es ja in Buenos Aires läuft.“

Die Grenzen der Technik

„Den Sender haben wir von einem Freund, der ihn in dreijähriger Arbeit zusammenbaute“, erinnern sie sich. „Der ging für fünf Tage auf Sendung, dann brannte die Anlage durch, und es war Funkstille. Da verlor er alles Interesse an der Sache. Wir baten ihn um den Sender, dessen Ausgangstransistor im Eimer war (der für die Reichweite und Leistung verantwortlich ist). Wir suchten drei Monate lang nach Ersatz, bis uns jemand das Teil herschaffte, das es hier gar nicht gab (der Elektronikmarkt ist hier sehr klein). Die Antenne ist selbstgebastelt mit Hilfe eines Alurohrs. Wenn alles in Ordnung ist – sowohl die Anlage wie das Wetter – sind wir zu hören bis in die Stadtteile Cerro, Sayago, Prado, Paso de la Arena, Santa Catalina und Pajas Blancas.“

Die Hauptschwierigkeit sehen auch sie im finanziellen Bereich. „Wir bemühen uns, die Auslagen so klein wie immer möglich zu halten: die eine oder andere Platte müßen wir aber kaufen, ein neues Mik, eine Konsole. Die Lösung technischer Probleme scheitert stets an der Kohle. So müßten wir beispielsweise das Ausgangskabel, das mehrmals durchgeschnitten wurde, ersetzen, konnten es aber nur verspleißen. Das Sendegerät ist unstabil, läuft immer aus der Frequenz und müßte auch verbessert werden. Das Kabel wurde von jemandem sabotiert, dem wir wohl den Fernsehempfang gestört hatten. Hätte er uns sein Leid geklagt, hätten wir das Problem mit einem Frequenzwechsel lösen können, aber eben. Ein anderes Problem ist, daß wir ausgelaugt sind, jetzt werden wir nur noch am Wochenende senden, bis das Sommerloch vorbei ist“ (das Quartal von Januar bis März).

Integriert in die Szene von Stadtteilzeitungen, Untergrundblättern und Jugendtheater, sind solche Radios von grundlegender Bedeutung für die Kommunikation von Mensch zu Mensch. Einer der anonymen Macher findet denn auch: „Das Ziel ist, daß die Leute sagen, was sie zur Verbesserung ihres Zusammenlebens zu sagen haben, beginnend mit der Bewußtwerdung über den Wert ihres alltäglichen – also ihres wirklichen – Lebens.“ Vorläufig sind die Sender, die sich auf Quartierebene in die Skala einmischen, nicht mehr als ein paar Schwalben, die Zukunft wird zeigen, ob daraus ein kommunikativer Frühling wird, ob sie sich im Äther zu halten und auszubreiten vermögen.

Radiomacher*innen

Das Radio von unten wird bereits zu Beginn des nächsten Jahrhunderts das wirkungsvollste Kommunikationsmittel Lateinamerikas sein, meinen die Teilnehmer*innen am ersten Festival der Radio- und Fernsehbegeisterten (Radioapasionados y Televisionarios), das im November vergangenen Jahres in Quito, Ecuador, über die Bühne ging. Das Festival wurde organisiert vom Internationalen Studienzentrum der Kommunikation in Lateinamerika, dem Lateinamerikanischen Verband für Rundfunkerziehung, der Lateinamerikanischen Vereinigung der Fakultäten für soziale Kommunikation und anderen Gruppierungen; an ihm beteiligten sich um die 400 Sachverständige aus 31 Staaten, die ihre Erfahrungen an Konferenzen und Debatten über eine Demokratisierung der Medien, neue Technologien, Publikum und Botschaft, Medien von unten und kommerzielle Medien, Legiferierung im Kommunikationsbereich und Zensur einbrachten. „Das Radiomachen hat sich verändert, zum großen Teil gerade durch das Auftauchen der Sender von unten. Es ist erwiesen, daß unsere Arbeit die Art und Weise, in Argentinien Radio zu machen, erneuert, das Radio näher zu den Hörer*innen von der Straße gerückt und die großen Medien gezwungen hat, sich mehr um die Bedürfnisse der Leute zu kümmern“, erklärt Nestor Busso, Leiter von Radio Encuentro in Viedma, Argentinien. Und weiter: „Die lateinamerikanischen Völker sind ausgeraubte Völker: man stahl ihnen die Sprache genauso wie das Verschweigen und die Stille. Aber das Wissen vermochte man den Menschen nicht zu rauben, und da wir ihnen materiell nicht helfen können, geben wir ihnen das Wort zurück, damit das Volk mitteilen kann, was es weiß.“ Die Radios von unten seien in Argentinien, so Busso, Garanten für Demokratie, dies im Unterschied zum Fernsehen, „wo es um ein Ausblenden der alltäglichen Wirklichkeit im Stadtteil und in der Familie geht, um eine mit den Mitteln des Bildes hergestellte Scheinrealität. Wir dagegen zwingen unsere Wirklichkeit niemandem auf. Wir sind bloß die technische Brücke für die Anliegen der Leute. Diese kommen nicht, um uns zu bitten, diese oder jene Botschaft zu übermitteln, sondern sie kommen her und tun das selbst. Dies werten wir als Auswirkung unsrer sechsjährigen Arbeit mit Radio Encuentro.“ Im Namen der acht lateinamerikanischen Organisationen, die das Festival in Quito auf die Beine stellten, stellte Jose Ignacio Vigil fest, die Gemeinschaftsradios hätten bereits ihren festen Platz: „Wir sind weder im Untergrund noch illegal. in 50jähriger Arbeit haben wir uns die Anerkennung der Öffentlichkeit erworben. Wir sind sozusagen ein Postamt ohne Stempel.“ Ronald Grebe, der Direktionssekretär der Bolivianischen Rundfunkerziehung (Erbol), bestätigt dies; das Gemeinschaftsradio sei andern Medien gegenüber im Vorteil, weil es seit einem halben Jahrhundert auf dem Kontinent präsent und verwurzelt sei. „Es geht nicht um den Wettbewerb mit Fernsehen und Presse: Sie alle sind Kommunikationsmittel mit ihren je eigenen technischen Besonderheiten. Aber in bezug auf die partizipative, wissensbildende und persönliche Kommunikation hat das Radio seine Überlegenheit bewiesen.“ Die Sendestationen von Erbol – 27 Volksbildungsradios (von denen acht Sendungen produzieren) und eine Nachrichtenagentur, die sie (wie viele weitere Sender) mit Infos versorgt, arbeiten auf dem Land, in den Minenregionen und der Umgegend der Departementshauptorte. Viele von ihnen senden in Indigena-Sprachen, so etwa Radio San Gabriel mit täglichen 18 Stunden in Aymara, Radio Acro in Quechua und das mehrsprachige Radio Paiteti. In Bolivien deckt – wie in vielen lateinamerikanischen Gegenden – „das Radio alles ab. Es dient als Telefon, zur Verbreitung guter und schlechter Nachrichten, und am Wochenende versammeln sich die Menschen um das Radio herum, um zu singen und ihre Kompositionen zu spielen. Diese Eigendynamik bewirkt, daß alle Leute zu einer direkten Mitarbeit bereit sind“,berichtet Grebe. „Das Lokal von Radio San Gabriel wird jährlich von 60 000 Bäuerinnen und Bauern besucht, und auf deren Ersuchen hin ist dort ein Postbüro eingerichtet worden, damit sie für ihre Angehörigen eine Ansichtskarte aufgeben können.“

Die Erfahrungen kollektivieren

„Wenn du die Leistung erhöhst, kannst du in die Fernsehantennen der Anwohner*innen reingehen“, erläuterte einer der Organisatoren der Zweiten Arbeitstagung der Alternativradios seinen Zuhörer*innen. Diese, etwa zwanzig – Mitglieder von Stadtteilgruppen, Studierende der Kommunikationswissenschaft, Jugendliche aus den Stadtteilen Maronas, Parque Rodo, La Teja, aus den Departementen Canelones und Durazno – füllten den kleinen Versammlungsraum von Mundo Afro in Monteviedeo an einem Wochenende im Oktober 1995. Thema: „Die Kollektivierung der verfügbaren Kenntnisse, um eine Mindestausrüstung zusammenzustellen und auf Sendung zu gehen.“ Diskutiert wurde über soziale Auswirkungen, Bedürfnisse und Zielvorstellungen von Stadtteilradios. Solche Treffen widerspiegeln die Strategien der Macher*innen, „denn am besten ist es allemal, die Erfahrungen und das technische Wissen zu vermitteln, das es zum Flug in den Äther braucht, um die Kommunikation zu demokratisieren und unsre Initiativen zu vervielfachen.“

Eine Machtfrage

Der ganze Bereich der elektronischen Ausstrahlung von Botschaften untersteht in Uruguay immer noch dem Verteidigungsministerium. Hector Bude, Chef des Rundfunkdepartementes in diesem Ministerium, erläutert den offiziellen Standpunkt wie folgt: „Das Ministerium stützt sich zur Koordination und Regulierung der Lokalsender auf die international gültigen technischen Normen. Die Zulassungen werden den Intressierten aufgrund einer Prioritätenliste und gestützt auf eindeutige Normen erteilt oder verweigert. Diese müßen vorgängig die verlangten Unterlagen meiner Direktion vorlegen, wo sie geprüft werden, worauf die Exekutive entscheidet.

Da die Leistungskategorien und das Entscheidungsverfahren gesetzlich geregelt sind, Radios von niedrigster Leistung dagegen vom Gesetz nicht erfaßt werden, ist ihre Einrichtung eindeutig illegal. Beim Vorliegen einer Anzeige oder durch eigene Bemühungen meiner Direktion ermittelte Sendeausrüstungen sind daher umgehend zu beschlagnahmen.“ Immerhin gibt der Funktionär zu, das Thema sei diskussionsbedürftig: „Die Technologie entwickelt sich fort und ihre sozialen Auswirkungen ebenso, was der Gesetzgeber nicht immer voraussehen kann. Es gibt in der heutigen Kommunikationswirklichkeit Kräfte des Marktes, der Politik und Gesellschaft, die nicht allein mit technischen Parametern zu erfassen sind. Dies sorgt heute für Gesprächsstoff in der Gesellschaft, denn es ist eine grundlegend politische Frage.“

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