Poonal Nr. 226

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 226 vom 17. Januar 1996

Inhalt


PARAGUAY

HAITI

GUATEMALA

EL SALVADOR

COSTA RICA

KUBA

MITTELAMERIKA

LATEINAMERIKA

HONDURAS: Tod durch Inhalationsmittel


PARAGUAY

Kriegsökonomie ohne Krieg

(Mexiko-Stadt, Januar 1996, POONAL).- „Es handelt sich nicht darum, den Staat stillzulegen, sondern ihn zu kontrollieren, um ein geordnetes und wirksames Funktionieren zu erlauben“. So lautet die Begründung des präidentiellen Wirtschaftsberaters Carlos Mersán für Einsparungsma?nahmen in diesem Jahr. Der paraguayische Präsident Juan Wasmosy spricht sogar von einer „Kriegswirtschaft“. Unter anderem will die Regierung keine Neueinstellungen im öffentlichen Sektor vornehmen und auf externe Beratung, die bezahlt werden muß, verzichten. Weitere Anordnungen betreffen den staatlichen Kaufstopp für Kapitalgüter sowie die Suspendierung von Lohnzulagen und Reisespesen für die Staatsangestellten. Finanzminister Bareiro relativierte die Aussagen dahingehend, daß die Sparmaßnahmen schrittweise eingeführt würden und zudem von der Einnahmeentwicklung im Laufe des Jahres bei den Steuern abhingen. Der Haushalt Paraguays für 1996 ist mit umgerechnet 2,1 Milliarden Dollar trotz der Einsparungen 22 Prozent höher als im Vorjahr.

HAITI

Schmutzige Geschäfte des CIA

(Port-au-Prince, Dezember 1995, hib-POONAL).- In den letzten Wochen ist die Komplizenschaft und Unterstützung der „Central Intelligence Agency“ (CIA), der US-Botschaft, des Pentagon, der US-Armee und des State Department (Außenministerium) gegenüber den Putschisten von 1991 immer deutlicher geworden. Die spektakulärste Enthüllung kam am 3. Dezember von Emmanuel Constant. Er beschrieb in der CBS-Nachrichtensendung „60 Minuten“ seine Verbindung zur CIA und deren Verwicklung und Frühkenntnisse in bezug auf die Aktivitäten der Todesschwadrone, die für hunderte von Morden auf Haiti verantwortlich sind. Constant organisierte sie in der Front für den Haitianischen Fortschritt (FRAPH), während er auf der Gehaltsliste der CIA stand. Darüber berichtete die US-Zeitschrift „The Nation“ bereits vor einem Jahr. Damals ging die übrige Presse aber kaum darauf ein.

Constant, derzeit in den USA in Haft, entschloß sich zu sprechen, „weil ich betrogen worden bin“. Er berichtete, mehrere Jahre lang monatlich 700 Dollar in bar erhalten und in engem Kontakt mit der CIA gestanden zu haben. Diese sei über alle FRAPH-Aktivitäten informiert gewesen, habe ihn aber „auf Eis“ gelegt, nachdem er im April 1994 in derselben Sendung damit geprahlt habe, sich Clinton mit dem Vorfall der Harlan County entgegengestellt zu haben. Nach Constants Verständnis hatte die CIA „ihre eigenen Pläne“, das Weiße Haus andere. Er sei Teil der Anstrengung gewesen, „Aristide von der Rückkehr abzuhalten“ und sei dabei „in der Mitte gefangen“ worden. Constant drückte sein Verhältnis mit dem US-Geheimdienst so aus: „Ich fühle mich wie die wunderschöne Frau, mit der jeder nachts ins Bett gehen will, aber nicht tagsüber. Sie wollen, daß niemand es mitbekommt… Sie waren tatsächlich oft im Bett, viele Nächte, aber niemals tagsüber.“ Es handelte sich um mehr als eine sporadische Liebesaffäre. Allain Nairn berichtet in einem jetzt veröffentlichen Artikel in „The Nation“ über Materialsendungen an die Front für den Haitianischen Fortschritt (FRAPH). In Kisten habe sie 5.000 bis 10.000 maschinengewehrähnliche Waffen, Splittergranaten, Pistolen und Revolver über Miami, Florida, bekommen. Die Kisten hätten oft die Aufschrift „Polizeimaterial: Nicht Öffnen“ enthalten. Adressaten waren haitianische Armeeoffiziere mit Verbindungen zur CIA und zur US-Armee. Die Warensendung funktionierte trotz der US-Seeblockade. Nairn schreibt: „Der haitianische Offizier, der mit der Schiffsladungen zu hatte, berichtet, die US-Behörden hätten nichts unternommen, sie zu unterbinden. Die US-Politik war auf die Rückkehr Aristides ausgerichtet, wollte aber sein populistisches Programm zum Scheitern bringen. Die FRAPH-Unterstützung diente diesen Plänen genauso wie den Plänen jener Kräfte, die die Rückkehr des Präsidenten um jeden Preis verhindern wollten.“

Das Theater um die Harlan County

Am 11. Oktober 1993 markierte die Demonstration einer Dutzend Banditen im Hafen gegen die Ankunft der USS Harlan County das „Coming Out“ der Front für den Haitianischen Fortschritt (FRAPH). Laut Constant war die CIA über die Absichten der FRAPH an diesem Tag informiert. Er habe dem Bereichschef des Geheimdienstes gesagt, der Protest würde keine US-Bürger in Gefahr bringen und wäre ein „Medienspektakel“, um den Rückzug des Bootes zu erzwingen. Auf dem Schiff kam das erste Kontingent der UNO- Truppen, die die Rückkehr Jean-Bertrand Aristides vorbereiten sollten. Der US-Sondergesandte Lawrence Pezzullo bezeichnete die Demonstration in einem Bericht als „Theater“. Die CIA und das Pentagon dagegen erklärten US-Leben für gefährdet und empfahlen dem Weißen Haus, den Rückzug des Schiffes anzuordnen. Die CIA schickte dem Sender CBS ihre Version per Fax. Der Geheimdienst „sammelt und analysiert Information“ aber „macht keine Politik“, heißt es. Die bezüglich der Harlan County bekommenen Nachrichten seien nicht falsch wiedergegeben worden. UNO-Vertreter Dante Caputo ging im Gespräch mit der US-Botschaft während des Vorfalls davon aus, das Schiff werde anlegen. Erst später am Tag, als er die Harlan County Richtung Horizont verschwinden sah, überzeugte er sich vom Gegenteil. Ärgerlich und frustriert trat er wenig später von seinem Amt zurück und kritisierte offen den Zynismus der USA. Die USA hatten ein Interesse, eine schnelle Rückkehr Aristides zu vermeiden und die Situation weiter eskalieren zu lassen. Das stärkte ihre Position gegenüber den anderen „Freunden“ (Frankreich, Kanada, Venezuela, Argentinien) und schwächte sowohl Haitis wirtschaftliche wie auch politische Macht. So schafften sie die Bedingungen, eine US- geführte Militärinvasion und eine US-dominierte „Wiederherstellung der Demokratie“ zu rechtfertigen. Die FRAPH spielte in den Folgemonaten eine Schlüsselrolle, indem sie das Land mit Terror überzog. Constant wurde nach eigener Aussage weder damals noch später zurückgepfiffen. Im Gegenteil, er wurde ermutigt: „Sie lobten stets meine Fähigkeit als Führer und die Möglichkeit für mich, ein Nachfolger Aristides zu sein.“

CIA und FRAPH immer noch zusammen im Bett

Nach der Invasion im Herbst 1994 bekam die Front für den Haitianischen Fortschritt (FRAPH) weiterhin besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die US-Soldaten verhafteten einige Helfershelfer, ließen viele aber bald wieder frei. In „The Resister“, einer rechtsgerichteten Militärpublikation aus dem Umfeld der US-Spezialkräfte – von denen mehr als 2.000 auf Haiti ausschwärmten – wurden die Soldaten aufgefordert, mit haitianischen Soldaten und FRAPH-Mitgliedern zusammenzuarbeiten und sie zu schützen. „Wir informierten sie über Pläne und Zeitpunkte von Waffenbeschlagnahmen und erklärten ihnen, wie sie ihre funktionierenden Waffen verschwinden lassen könnten während sie die zerbrochenen und auf andere Weise unbrauchbaren Waffen behalten sollten, um sie beim 'Waffen-Rückkauf-Programm' zu verkaufen“, heißt es in dem Bericht. Nairn erwähnt ein ähnliches Vorgehen nach der Invasion: „Das Nachsehen der US-Armee gegenüber der FRAPH – besonders, was die Waffen angeht, war festgelegte US- Politik. Der Autor enthüllt eine weitere erstaunliche Nachricht: Nach der Invasion schwärmten CIA-Agenten über das Land aus, um FRAPH-Mitglieder und andere für einen neuen Trupp von CIA- Geheimdienstlern zu rekrutieren.

Avril und die Rote Armee

Eine weitere Entdeckung kam vom Außenministerium auf dem Umweg über die Washington Post. In einer „durchgesickerten“ Meldung vom 26. Oktober 1995 warnt Minister Warren Christopher die US- Botschaft auf Haiti auf der Grundlage von Geheimdienstberichten. Danach plane die von Ex-Diktator General Prosper Avril angeführte „Organisation Roter Stern“ eine „Stör- und Mordkampagne gegen die Lavalas-Partei und Aristide-Unterstützer…, die im frühen Dezember 1995 anfangen soll. Es gibt Information, die nahelegt, daß Avril sich weiterhin mit rechtsgerichteten Anhängern trifft, um seine politische Basis zu erweitern.“ Die Information wurde nie an die haitianische Regierung weitergegeben. Zwei Wochen später wurden zwei Lavalas-Abgeordnete niedergeschossen. Als die Polizei am nächsten Tag in Avrils Haus nach Waffen suchte, war dieser nicht da. Zufälligerweise war 30 Minuten zuvor ein Mitarbeiter der US-Botschaft bei Avril gewesen. Sichtlich verlegen versuchte die Botschaft im Nachhinein zu erklären, der Besuch sei einer der routine-mäßigen Informationsaustausche gewesen. Bei Abschluß dieses Artikels befand sich Avril noch in der kolumbianischen Botschaft. Die Organisation „Roter Stern“ ist auf Haiti nicht bekannt. Es gibt aber in Cite Soleil eine bewaffnete Bande, die sich selbst „Rote Armee“ nennt und die Bewohner*innen und Händler*innen terrorisiert. Presseberichte sprechen von zum Teil zwölfjährigen Mitgliedern. Sie sollen in einigen Fällen ihre Waffen ohne große Probleme aus patrouillierenden UNO-Fahrzeugen gestohlen haben.

Die FRAPH-Seiten

Die Front für den Haitianischen Fortschritt (FRAPH) war noch einmal Ende November für die Titelseiten gut. Da gab das Pentagon bekannt, es habe nicht nur 150.000 Seiten Papiere in den Quartieren der FRAPH und der Armee beschlagnahmt, sondern bestand frech und arrogant darauf, daß „die Dokumente dem vertriebenen Militärregime gehörten, nicht der Regierung Aristide und sie wurden amerikanisches Eigentum, als die US-Truppen sie beschlagnahmten“ (zitiert nach der New York Times). Der Fall wurde zum Zankapfel zwischen den beiden Regierungen. Washington, schon in andere Mißtimmigkeiten mit Port-au-Prince verwickelt, gab nach. Kürzlich kündigte die US-Regierung die Rückgabe der Papiere an. Allerdings erst, nachdem US-Funktionär*innen sie durchgesehen haben, um die Namen aller US-Bürger*innen zu schwärzen und nachdem die genauen Rückgabebedingungen verhandelt sind. Die haitianischen Behörden sagen, sie können die zurückgegebenen Seiten immer noch benutzen, um FRAPH-Täter aufzuspüren und Fälle zu beweisen. Aber die Probleme sind offensichtlich, nachdem die USA die Papiere durchgekämmt hat, um Namen beispielsweise von Haiti- Amerikaner*innen in der FRAPH und von US-Agenten zu tilgen. Da weder haitianische noch unabhängige Quellen die Seiten in Augenschein nehmen konnten, ist es wahrscheinlich, daß Dokumente, die die USA belasten, keine Reise zurück machen werden.

Alle Enthüllungen, die von Constants Interview gekrönt wurden, zeigen viele heimtückische Verbindungen und die Komplizenschaft von US-Behörden mit faschistischen Gruppen auf Haiti. Sie geben eine Idee davon, wie gründlich die US-Aktivitäten damit zu tun haben, die Demokratie- und Volksbewegung hier zu vereiteln und zu unterdrücken. Ein weiteres Herumstochern im Schmutz könnte sogar noch mehr häßliche Tatsachen ans Licht bringen. Doch es kommen auch Fragen auf: Welches Interesse bestand darin, Constant eine Reihe im Grunde schon bekannter Vorkommnisse wiederholen zu hören? Wer profitiert von seinen Anklagen? Constants Version der Geschichte befleckt die US-Regierung, aber besonders eine Gruppe. Nach Constant ist das Weiße Haus der Hüter der Demokratie. Seine Enthüllungen und andere Details der US-Unterstützung bringen die Clinton-Administration, die das ganze Unternehmen überwachte, zweifellos in Verlegenheit. Aber Clinton erscheint mehr als Opfer. Die CIA und deren große Befürworter – Gegner von Aristide wie die Senatoren Robert Dole und Jesse Helms – erscheinen vor der Welt als amoralisch und anti-demokratisch. Clinton, Kopf an Kopf mit den Republikanern (im Wahlrennen), verbucht einen weiteren Punkt. Wie gewöhnlich spielt die Presse mit. Sie bringt die „Facts“, wie sie dargeboten werden, forscht wenig nach und analysiert noch weniger. Das verträgt sich trefflich mit den Interessen des US- Imperialismus und den internen Kämpfen um die Macht.

GUATEMALA

Arzú gewinnt die Präsidentschaftswahlen

(Guatemala, 9. Januar 1996, cerigua-POONAL).- Im engsten Wahlrennen der guatemaltekischen Geschichte hat Alvaro Arzú Irigoyen mit 31.350 Stimmen Vorsprung die Präsidentschaftswahlen gegen Alfonso Portillo gewonnen. Wieder einmal entschied sich jedoch fast eine Zwei-Drittel-Mehrheit für die Wahlenthaltung. Nur etwa 1,4 Millionen Guatemaltek*innen gaben am 7. Januar ihre Stimme ab, um zwischen den zwei rechtsgerichteten Präsidentschaftskandidaten zu entscheiden, die in der ersten Runde am 12. November vorne lagen. Arzú von der neoliberal ausgerichteten Partei der Nationalen Vorhut (PAN) bekam 51,22 Prozent der abgegebenen Stimmen. „Ich habe nie am Sieg gezweifelt“, äußerte er in seiner ersten Pressekonferenz. Doch eine Unterteilung nach Regionen zeigt die geringe Unterstützung, die der zukünftige Präsident auf dem Land hat. Mehr als 40 Prozent seiner Gesamtstimmen holte Arzú in der Hauptstadt. Portillo dagegen lag in 18 der 22 Provinzen Guatemalas vorne. Einige Kommentator*innen spekulieren sogar, daß der freie Personentransport in Guatemala-Stadt, für den Arzus kürzlich wiedergewählter Parteikollege, Bürgermeister Oscar Berger sorgte, den entscheidenden Stimmenausschlag gab. Internationale Beobachter*innen dagegen sprechen von weitgehend sauberen und transparenten Wahlen. Der 7. Januar selbst verlief relativ ruhig.

Erstmals in ihrer Geschichte akzeptierten die Rebell*innen der Revolutionären Nationalen Einheit Guatemalas (URNG) die Wahlergebnisse als legitim. Dennoch verdient die Enthaltung Beachtung. Sie nahm gegenüber dem 12. November gut 10 Prozent zu. In einer Provinz erreichte sie 75 Prozent. „Die Leute sind nicht daran interessiert, wer Präsident ist, sondern wer ihr Bürgermeister oder ihr Kongreßabgeordneter ist“, so ein Wahlmitarbeiter. In dem Ort Solola in der gleichnamigen Provinz wurde die niedrigere Enthaltung der Tatsache zugeschrieben, daß keiner der Kandidaten dem Demokratischen Bündnis Neues Guatemala (FDNG) angehörte. In Solola erreichte ein FDNG-Kandidat in einem Erdrutschsieg den Posten des Bürgermeisters.

Alfonso Portillo von der Guatemaltekischen Republikanischen Front (FRG) akzeptierte zwar seine Niederlage, sah durch die ungleiche Stimmenverteilung jedoch Arzús fehlende Popularität auf Landesebene bestätigt. „Ich bin der wirkliche nationale Führer“, verkündete er der Presse. „Trotz der Millionenausgaben und dem System – einschließlich der Spitze der katholischen Kirche – gegen mich, war der Sieg schwach.“ Tage vor der Wahl hatte die katholische Kirche indirekt ihre Unterstützung für Arzú zu verstehen gegeben: Sie erinnerte an die Angriffe gegen katholische Aktivist*innen in den frühen 80er Jahren unter der Dikatur von General Rios Montt, dem augenblicklichen Parteivorsitzenden der FRG. „Es gab Priester, Ordensleute, aber vor allem tausende von Katechist*innen, die ermordet wurden, weil sie Gottes Wort predigten und angeklagt wurden, subversiv zu sein“, sagte Kirchensprecher Monsignor Efraín Hernández. Er versprach, Papst Johannes Paul II. bei dessen Guatemala-Besuch im kommenden Februar eine Liste der toten Katechist*innen zu übergeben. Rios Montt entgegnete, die einzigen während seines Regimes getöteten religiösen Aktivist*innen seien in Kämpfen zwischen der Regierung und aufständischen Truppen gefallen.

Die politischen Expert*innen glauben, der knappe Sieg könne die starke Versuchung für Arzú mindern, durch Dekrete zu regieren. Die Mehrheiten der PAN im Kongreß und den Rathäusern des Landes machen dies möglich. Der politische Kommentator (und Zeitungsbesitzer; die Red.) Oscar Clemente Marroquin schreibt: „Die augenscheinliche Schwäche seines Mandats könnte die wahre Stärke einer Regierung sein, die die Weigerung der Bürger*innen versteht, den Gewählten weiterhin einen Blankocheque zu geben, damit sie am Ende das tun, was immer ihnen einfällt.“

Militär will Myrna Mack-Fall nicht abgeben

(Guatemala-Stadt, 7. Januar 1995, cerigua-POONAL).- Ein Militärrichter wies die Eingabe von Helen Mack zurück, die Anklage gegen drei Armee-Offiziere im Mordfall ihrer Schwester vor einem Zivilgericht verhandeln zu lassen. Helen Mack hatte die Zuständigkeit des Militärgerichtes angezweifelt, weil das Verbrechen ziviler Natur sei. Sie wird den Entschluß des Militärrichters anfechten. Die Schwester der Ermordeten äußerte sich zuversichtlich, Erfolg zu haben. Nachdem das Massaker von Xaman, Provinz Alta Verapaz, wo Soldaten im Oktober elf zurückgekehrte Flüchtlinge erschossen, ebenfalls vor einem Militärgericht verhandelt werden soll, wachse die Unterstützung in der Gesellschaft dafür, Militärsverbrechen gegen Zivilist*innen vor Zivilgerichte zu bringen. Helen Macks Schwester Myrna wurde am 11. September 1990 mit 30 Messerstichen umgebracht. Der Mord hat nach Meinung vieler damit zu tun, daß sie über die internen Vertriebenen in Guatemala forschte. Ein Militärgericht verurteilte den Armeeleutnant Noel de Jesus Beteta zu 30 Jahren Haft. Helen Mack, selber Anwältin, kämpft seit der Tat dafür, die Hintermänner des Mordes zu bestrafen. Diese werden in höheren Militärkreisen vermutet.

EL SALVADOR

Streikende Staatsdiener beenden Kirchenbesetzung

(Mexiko-Stadt, 14. Januar 1996, POONAL).- Nach neun Tagen Besetzung verließen mehrere hundert salvadoreanische Staatsangestellte am Samstag friedlich die Kathedrale der Hauptstadt. Sie hatten versucht, mit ihrem Protest eine zumindest teilweise Rücknahme eines Wirtschaftsgesetzes zu erzwingen, das im Oktober vom Parlament verabschiedet wurde. Es sieht die Entlassung von 15.000 Staatsbeschäftigen vor. Die Demonstrant*innen verlangen die Überprüfung in mindestens 2.500 Fällen. Die Regierung zeigte sich jedoch nicht zum Einlenken bereit. Die Besetzer*innen kündigen neue Proteste an. Gewerkschaftsführer Salvador Acuña sprach von einem „Zeichen des guten Willens“, das eine Reaktion auf die Bitte der salvadoreanischen Menschenrechtsbeauftragten Victoria Avilés sei. Avilés hatte die Protestierenden aufgefordert, ihren Kampf auf legalem Wege fortzuführen. Die Menschenrechtsbehörde organisierte zusammen mit der UNO-Mission für El Salvador (Minusal) den Abzug aus der Kathedrale. Die Situation hatte sich in den letzten Tagen zugespitzt, nachdem die Kirche von der Nationalpolizei umstellt wurde. Vermittlungsversuche von Erzbischof Fernando Lacalle waren nicht von Erfolg gekrönt. Zwischenzeitlich entstand sogar der Eindruck, das wichtige Problem sei nicht das Problem der entlassenen Staatsbediensteten, sondern der Papstbesuch am 8. Februar. Der Erzbischof forderte die Besetzer*innen auf, die Kirche zu verlassen, damit die Bauarbeiten an der Kathedrale weitergeführt werden könnten. Mit der Verzögerung von neun Tagen werden sie voraussichtlich nicht mehr rechtzeitig abgeschlossen werden können. Nach letzten Angaben wird der Papst seine Botschaft an die salvadoreanische Jugend nun in einem Fußballstadium verkünden müssen.

COSTA RICA

Keine Spur von Entführern und Geiseln

(Mexiko-Stadt, 13. Januar 1996, POONAL).- Die Entführung der Schweizerin Susanne Regula und der Deutschen Nicola Fleuschaus in Costa Rica bleibt rätselhaft. Seit einem Anruf der mutmaßlichen Entführer bei dem Fernsehsender „Canal 7“ Mitte der Woche gibt es keine neuen Kontakte. Beiden Geiseln soll es jedoch den Umständen entsprechend gut gehen. Unklar ist immer noch, ob die Entführer tatsächlich im Land lebende Nicaraguaner sind oder Costaricaner. Nachdem sie anfangs die Lösegeldforderung von 1 Million Dollar in den Vordergrund stellten, so waren die Forderungen in dem Telefonanruf politischer und wirtschaftspolitischer Art. Der Anrufer kritisierte das Wirtschaftsprogramm der Regierung Figueres, verlangte eine 18prozentige Gehaltserhöhung für die Staatsangestellten und einmal mehr die Freilassung von fünf Polizisten, die 1993 den Obersten Gerichtshof in Costa Rica besetzten. Obwohl nicaraguanische und costarikanische Einheiten die Entführer im Grenzgebiet des Flusses Río San Juan eingekreist haben wollen, können sie bisher keinen Fahndungserfolg vermelden. Die Tourismusindustrie fürchtet unterdessen um ihr Image.

KUBA

Auch Besucher aus Chile

(Havanna, 8. Januar 1996, prensa latina-POONAL).- In die Gruppe der Länder, die Wirtschaftsbeziehungen mit Kuba suchen, reihte sich jetzt Chile ein. Der chilenische Au?enminister José MigUEl Ingulza brachte neben dem Energieminister gleich 30 Unternehmer und mehrere Abgeordnete mit. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz stellten Ingulza und sein kubanischer Amtskollege Roberto Robaina mehrere Kooperationsabkommen in Aussicht.

Selbstversorgung mit „schwarzem Gold“

– von Mario Esquivel

(Havanna, Januar 1996, prensa latina-POONAL).- Die Produktionserhöhungen in den vergangenen drei Jahren sowie das Auslandskapital im Petroleumsektor lassen Kuba auf eine Selbstversorgung bei Öl in absehbarer Zeit hoffen. 1995 wurden bereits zehn Millionen Barrel (knapp 1,5 Millionen Tonnen) des „schwarzen Goldes“ gefördert, 13,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Tagesproduktion hat sich seit 1990 nahezu verdoppelt. Immer noch werden nur etwa 20 Prozent des Gesamtbedarfs gedeckt. Bei der Stromproduktion, der Nickel- und der Zementindustrie hat die Erhöhung des Eigenanteil dennoch zu spürbaren Erleichterungen geführt. Die Kosten für die Erforschung eines Ölfeldes werden auf etwa 200 Millionen Dollar geschätzt. Derzeit kann Kuba das trotz der verlockenden Aussichten nicht selber investieren. Darum richtet sich die offizielle Strategie auf ausländische Unternehmen, die zu Risikoverträgen (bei entsprechenden Aussichten auf Gewinnbeteiligung; die Red.) bereit sind. Bisher gab es zwei Ausschreibungen für das internationale Kapital: 1993 in Calgary, Kanada und 1995 in London. 22 Ölfelder auf dem Land und 10 unter dem Meeresboden wurden vorgestellt. Firmen aus Kanada, Großbritanien, Frankreich und Schweden arbeiten derzeit auf 18 dieser Felder (12 auf dem Land, die übrigen unter dem Meer).

MITTELAMERIKA

Weiter Verletzung der Menschenrechte

– von Zaida Rojas

(San José, Costa Rica, 12. Januar 1996, sem-POONAL).- Die Zentralamerikanische Menschenrechtskommission (CODEHUCA) bezeichnet die Menschenrechtslage auf dem Isthmus trotz der Friedensprozesse als weiterhin besorgniserregend. Der Soziologe Daniel Camacho, Koordinator der CODEHUCA, wies in einer Pressekonferenz darauf hin, es sei sehr schwierig, die Arbeit zukünftig auf die Verteidigung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Bevölkerung zu konzentrieren. Die Realität zeige, daß die politischen und zivilen Rechte in der Region nach wie vor verletzt würden. Der jüngste Viermonatsbericht der CODEHUCA weist daraufhin, daß „in dem Moment, den die Region erlebt, Situationen eines ungelösten strukturellen Ursprungs und konjunkturelle Ereignisse dazu tendieren, zusammen eine explosive Mischung zu bilden“. Für die einzelen mittelamerikanischen Länder werden dazu zahlreiche Beispiele aufgeführt. Die Verterter*innen der zwölf Einzelorganisationen, die die Menschenrechtskommission integrieren, beraten vom 14. bis 16. Januar über die Lage. Ziel ist es, Strategien festzulegen, wie die Menschenrechte in der Region gestärkt werden können. Das Treffen bildet Teil eines ständigen Ausbildungsprogrammes der Menschenrechtsaktivist*innen, das von der Europäischen Union finanziert wird.

LATEINAMERIKA

Menschenrechte der Kinder (Teil III)

(Lima, Dezember 1995, noticias aliadas-POONAL).- Im dritten Teil der Serie über die Lage der Kinder in Lateinamerika beleuchten wir anhand von Fallbeispielen die Situation.

HONDURAS: Tod durch Inhalationsmittel

Der 14jährige Santos Ortíz wartet im Bett eines schäbigen Zimmers

in der Hauptstadt Tegucigalpa resigniert auf seinen Tod. Der

Gebrauch von Inhalationsmitteln hat eine Gehirnverletzung verursacht. Der Minderjährige war bis vor 4 Monaten ein Straßenkind, das wie 6000 andere ziellos herumlief, zu Klebstoffen griff, um der Realität zu entfliehen. Der Gebrauch des Industrieklebstoffes Resistol ist mittlerweile zu einer der häufigsten Todesursachen unter honduranischen Kindern geworden. Besonders unter den Straßenkindern, die von der Gesellschaft als anormal und kriminell zurückgewiesen werden. Ortiz lebte seit vielen Jahren auf der Straße. Sein Vater hatte Frau und Kinder schon früh verlassen, die Mutter, die nun allein für die Familien sorgen mußte, wurde in die Prostitution gezwungen. Ortiz floh von zuhause und schlug sich auf der Straße durch, der Klebstoff machte das Leben erträglicher. „Da fühlte ich mich in der Familie, weil die anderen Kinder ähnliche Probleme haben. Es gefiel mir, Resistol zu riechen, weil das Leben dann plötzlich anders wurde,“ erzählt er. Dann löste der Klebstoffgenuß die Gehirnverletzung aus. Eine teilweise Körperlähmung und Deformationen des Mundes waren die Folge. Santos kann nicht mehr flüssig reden. Nach Meinung der Sozialarbeiter*innen von Casa Alianza, einem Menschenrechtsorganismus, der mit Straßenkindern arbeitet, ist die Situation des Jungen ähnlich der anderer Kinder, die von Casa Alianza betreut werden. Zur Zeit führt die Organisation eine Protestaktion angesichts der Weigerung der Regierung durch, anzuordnen, bei der Zubereitung von Resistol Senf unterzumischen. Das würde zu Erbrechen führen, wenn der Klebstoff eingeatmet wird. So soll der Tod der Minderjährigen verhindert werden. „Straßenkinder sind für den Staat nicht rentabel und gewinnbringend,“ führt David Calvert von Casa Alianza an.

Gewaltkultur in EL SALVADOR Lateinamerika ist die gealttätigste Region auf der Welt und Kinder bilden keine Ausnahme. In El Salvador sind die Jugendbanden zu einem der größten sozialen Probleme seit Ende des Bürgerkriegs 1992 geworden. Jugendliche arbeitslose Soldaten und Guerrilleros haben mit aus den USA kommenden Bandenführern die „Forellenretter“, die „Bande 18“, die „Maos“ und andere Gruppen gegründet. Diese kontrollieren viele Armenviertel in San Salvador und sind mit Gewehren und Granaten bewaffnet, die nach Abschluß des Friedensabkommen nicht abgegeben wurden. Der Chef der Nationalen Zivilpolizei El Salvadors, Rodrigo Avila, räumt ein, daß sich unter den Jugendlichen El Salvadors eine Bandenkultur entwickelt.

Kinderhandel in PARAGUAY Die Debatte über den Kinderhandel in Paraguay verstärkte sich, als in Brüssel ein Ehepaar mit falschen Papieren und zwei Babys festgenommen wurde. Die Babys waren für Organbanken im Ausland vorgesehen. Die Empörung der paraguayischen Bürger*innen verstärkte sich noch, nachdem Details über die Festlegung der Preise der Babys „gemäß Hautfarbe“ und die Existenz von „Masthäusern“ bekannt wurden, in denen Babys aufgepäppelt werden, bevor zukünftige Adoptiveltern sie zu sehen bekommen. Aus den Untersuchungen, die die Richterin Patricia Blasco unternommen hat, geht hervor, daß Paraguay zu einem der Zentren des Kinderhandels in Lateinamerika geworden ist. Blasco hat die öffentiche Meinung dazu aufgerufen, sich in Bewegung zu setzen, um die definitive Außerkraftsetzung der internationalen Adoptionen zu erreichen. Die Menschenrechtskommission des Senats hat ein Ansuchen auf zeitweise Suspendierung der bisher erlaubten internationalen Adptionen eingereicht.

Perverse Polemik über Kinder in BRASILIEN Bezüglich der Minderjährigen verfügt Brasilien über die fortgeschrittenste Gesetzgebung der Welt. Allein, die Realität ist eine andere. Bruno ist ein schwarzes Kind, sieben Jahre alt, hat zwei Geschwister von neun und zehn Jahren – und keine Zukunft. Er geht nicht zur Schule und verbringt den Tag bettelnd in einer Bar im Zentrum Rio de Janeiros. Am Abend bringt er den Eltern das Wenige, was er verdient hat. Diese, beide Alkoholiker*innen, erledigen kleine Arbeiten, waschen Autos, und kaufen irgendwelches Essen, um den Magen zu füllen und viel Alkohol. Bruno, der seinen Nachnamen nicht kennt, und seine zwei Brüder sind das klarste Beispiel einer ganzen Generation von Straßenkindern, die jeglicher Chancen beraubt sind, ein würdiges Leben zu führen. Arm, schwarz und aus Familien, die von der durch den Liberalismus verursachten wirtschaftlichen Krise aus dem Schritt geworfen werden.

Der Rassismus setzt sich auch auf der Straße fort. Schwarze Kinder sind besonders gefährdet, Opfer der Gewalt von paramilitärischen Banden zu werden. Laut internationalen Organismen wie Amnesty Internacional sind die Kinder, die Opfer der „sozialen Säuberungen“ werden, mehrheitlich schwarz. Sebastico da Silva, stellvertretender Koordinator der Stiftung Sao Martinho, die die besten und größten Hilfsmaßnahmen für Straßenkinder in Rio de Janeiro durchführt, kritisiert: „Brasilien stellt mit einer pervers gedachten und geplanten Politik eine ganze Generation ins Abseits.“ Mit finanzieller Hilfe der katholischen Kirche versorgt die Sao Martinho in sechs in der Stadt verteilten Häusern 350 Kinder. „Und die Nachfrage wird unglücklicherweise nie weniger“, beklagt da Silva. Der Philosoph identifiziert eindeutig die Ursachen des Problems. „Die Politik des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso ist pervers: er schaffte die beiden staatlichen Organismen, die für die Versorgung der Straßenkinder zuständig waren ab, tut aber nichts, um sie zu ersetzen. Gleichzeitig erzählt er aller Welt, Brasilien habe seine Wirtschaft stabilisiert, globalisiert, ohne Inflation.“ Als Cardoso am 1. Januar 1995 das Amt antrat, schaffte er zunächst die „Legión Brasileña de Asistencia“ (die Waisenhäuser finanzierte) und das Brasilianische Programm für Kindheit und Jugend (das die öffentliche Politik für diesen Sektor festlegte) ab. Stattdessen gründete er die „Solidarische Gemeinschaft“. Ein Programm, das von seiner Ehefrau, der Anthropologin Ruth Cardoso, geleitet wird. Ohne Sitz und deutliche politische Linie, gibt die „Solidarische Gemeinschaft“ vor, alle Themen zu behandeln, die Cardoso als sozial einstuft. Währendessen verschlimmert sich die Situation der verlassenen Kinder. In Rio de Janeiro ist die Situation besonders dramatisch, da der Drogenhandel stark expandiert ist und für viele jugendliche Bewohner*innen der Armenviertel ohne Zugang zu Gesundheitsfürsorge und Ausbildung die beste Option darstellt. Der Richter für Minderjährige, Sirlo Darlan, der seit Jahren mit dem Problem konfrontiert wird, schätzt, daß im ganzen Land etwa 5000 Kinder in kriminellen Zusammenhängen arbeiten. Es sind kleine Kinder-Drogenhändler, denen die öffenliche Gewalt zunächst den Rücken zugewandt hat und die sie heute wie erwachsene Kriminelle verfolgt. Das Widersprchlichste ist, daß Brasilien seit Juni 1990 die forschrittlichste Rechtslage bezüglich der sozialen Begleitung von Minderjährigen hat. Die Rechtsstellung, die dem Kind und dem Jugendlichen offiziell gegeben wird, fördert nach Sebastico da Silvo „im Kind die Individualität und kennt sein Recht auf Träumen, Schule und ein würdiges Leben an“. All das, was der kleine Bruno sich wünscht, die brasilianischen Regierenden ihm jedoch verweigern.

Kinder in KOLUMBIEN im Kreuzfeuer Kolumbien, das gewalttätigste Land der Welt, hat sich in einen Kriegsschauplatz verwandelt, auf dem die Kinder die hauptsächlichen Opfer sind. Tumaco ist zwar ein kleiner Ort, weist aber bezüglich der Morde an Minderjährigen alle Kennzeichen einer großen Stadt auf. Im Mai vergangenen Jahres wurde Fredy Fransisco Arboleda, 17 Jahre alt, in Begleitung seines Vaters festgenommen. Dieser bat die Polizei, das Leben seines Sohnes zu respektieren. Stattdessen verschleppten die Polizisten ihn zu einer Müllhalde und erschossen ihn. Wenngleich das Gerücht umging, daß Freddy eine Bande anführe, so protestierten die Einwohner*innen von Tumaco gegen den Mord. Sie klagten gleichzeitig die ansässigen Händler an, die Polizei zu bezahlen, damit diese Minderjährige, die kleine Delikte begehen, eliminieren. Diese Situation ist für Kolumbianer*innen vertraut. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1995 sind 75 Kinder aus politischen Motiven oder in Operationen der „sozialen Säuberung“ umgebracht worden. „Soziale Säuberung“, ist ein im Land gebräuchlicher Terminus, um die Gewalttaten zu beschreiben, die zivile und politische Gruppen gegen die Straßenkinder begehen – besonders intensiv in Cali und Bogota. Dort wird den Einwohner*innen erläutert, daß der Mord an Straßenkindern normal und die einzige Form sei, die Sicherheit der Staatsbürger*innen zu garantieren. Im Stadtviertel Tenerife, im Südosten Bogotas, sind die Einwohner*innen überzeugt, daß die Angestellten von der Sicherheitsbehörde mit der Polizei und den Händlern zusammengearbeitet haben, um mehr als 20 Jugendliche umzubringen. Die Morde verlaufen immer in der gleichen Weise. Stark bewaffente Männer patroullieren in der Nacht in Fahrzeugen ohne Nummernschilder. Nachdem sie einen Mord begangen haben, lassen sie die Leiche verschwinden. Die ortsansässige Polizei hält kein Fahrzeug an, noch fragt sie die Insassen aus. In Cali wurden Jugendliche, die an dem von der Gemeinde beaufsichtigen Programm zur Wiedereingliederung (PARCES) teilnahmen, angegriffen. Als im Mai 1995 drei von ihnen gefoltert und ermordet wurden, veröffentlichte PARCES eine Erklärung, in der die Gewalttaten nicht nur „als Agressionsakt (gegen die Jugendlichen), sondern auch als gegen die armen Gemeinden von Cali gerichtet“ bezeichnet wurden. Das jüngste Opfer war 13 Jahre alt. Die Straßenkinder und andere Jugendliche sind der Gefahr von Seiten der Sicherheitskräfte, der paramilitärischen Banden und der Guerilla ausgesetzt. Eine beachtliche Anzahl der kolumbianischen Kindermorde haben politische Ursachen, da die Minderjährigen als Hilfe der jeweils anderen Seite im internen Krieg angesehen werden. Die Guerilla hat beispielsweise Kinder umgebracht, weil sie verdächtigt wurden, Informanten der Militärs zu sein. So in Saravena, Provinz Arauca, wo im Mai Guerilleros der Armee für die Nationale Befreiung (ELN) drei Jugendliche erschossen.

Obwohl die Kindermorde keine offizielle Politik sind, haben die Menschenrechtsorganismen die Regierung angeklagt, die Teilnahme von Angehörigen der Sicherheitskräfte bei Mißbräuchen gegen Minderjährige wie Folterungen und Tötungen zu tolerieren und bei der Bewaffnung der Aufseher der „sozialen Säuberung“ zu helfen. Zudem tolerieren die Autoritäten die Kindermorde, indem die Verbrechen nicht verfolgt werden. Von 2.190 registrierten Kindermorden 1993 wurden lediglich zwei Fälle vor Gericht gebracht. Ebenso wie andere Delikte, genießt der Kindermord Straffreiheit. Für die Menschenrechtsgruppen ist die kolumbianische Militärjustiz ein grundlegendes Element der Straffreiheit, da die von Agenten der Sicherheitskräfte begangenen Verbrechen als Aktionen angesehen werden, die nur von Militärgerichten verurteilt werden können. Wenngleich die Militärs versichern, daß die militärischen Gerichtshöfe ernster und genauer als die zivilen sind, zeigt ein jüngst veröffentlicher offizieller Bericht, daß die Mehrheit der mit Menschenrechtsverletzungen verknüpften Fälle, wie außergerichtliche Hinrichtungen, gewaltsames Verschwindenlassen von Menschen und Folter, wegen fehlender Beweismittel abgebrochen werden oder mit der Freilassung der Angeklagten enden. Allein der internationale Druck scheint Resultate zu bringen. Nachdem die Rechtsanwältin Maria Victoria Fallon aus Medellin den Fall eines Mordes an acht Kindern und einem Erwachsenen von Seiten der Polizei 1992 an die Interamerikanische Menschenrechtskomission schickte, war die Regierung bereit, den Fall zu überprüfen. „Der internationale Druck war in diesem Fall ausschlaggebend,“ erklärte Fallon. „Trotzdem ist der Polizeikommandant, der den Mordbefehl gab, weiterhin im Amt.“ Die erhöhten Ziffern der Gewalttaten gegen Jugendliche in Kolumbien haben auch die Aufmerksamkeit der Kommission für die Rechte der Kinder auf sich gelenkt. Sie berwacht die Einhaltung der Konvention der Rechte des Kindes. Wenngleich Kolumbien eines der ersten Länder war, das die Konvention unterschrieben hat, drückte die Kommission 1995 ihre „tiefe Besorgnis über die Lebensbedrohungen aus, denen eine alarmierende Anzahl von Straßenkindern in Kolumbien ausgesetzt ist. … Opfer von Operationen zur sozialen Säuberung, Festnahmen, Folterungen und anderen unmenschlichen Behandlungen von Seiten der Autoritäten.“

CC BY-SA 4.0 Poonal Nr. 226 von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert