Poonal Nr. 154

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 154 vom 02.08.1994

Inhalt


MEXICO

GUATEMALA

BRASILIEN

KARIBIK

PARAGUAY

CHILE

BOLIVIEN

HAITI


MEXICO

Die Guerilla existiert nicht nur in Chiapas

(Mexiko-Stadt, Juli 1994, POONAL).- Wenn die Nationale Zapatistische Befreiungsarmee (EZLN) aus Chiapas bisher von Guerillagruppen in anderen mexikanischen Bundesstaaten sprach, so kam leicht der Verdacht auf, die „Zapatistas“ wollten sich Mut machen. Doch trotz aller Dementis von Regierungsseite häufen sich in den letzten Wochen die Berichte über bewaffnete Guerillagruppen im ganzen Land. Das jüngste Beispiel ist eine Artikelserie in der Tageszeitung „La Jornada“. Zwei Journalisten berichten über ihre Recherchen im südlichen Bundesstaat Guerrero. Dort haelt sich nach ihren Informationen eine Befreiungsarmee des Südens (ELS) für den Aufstand bereit. Auf dem Land, in den Dörfern und in den Städten ist die Guerillapräsenz dem Bericht nach bekannt, nur die staatlichen Autoritäten wollen nichts gesehen haben.

Journalisten berichten über Guerillapräsenz in zahlreichen Bundesstaaten

Die staatliche „Blindheit“ ist jedoch wenig überzeugend. Bereits vor einigen Wochen gab es Gerüchte über eine Guerilla in Guerrero. Damals entsendete die Armee etwa 6.000 Soldaten in die Bergregionen des Bundesstaates. Angeblich, um den Drogenhandel zu bekämpfen und einen Waffenschmuggel aufzudecken. Doch genauso gut kann das Ziel die Guerilla gewesen sein. Über deren Stärke ist nichts bekannt. Die Journalisten der Jornada zitieren ein Mitglied der Bewegung: „Wir wissen nicht wieviele, wir sind es alle.“ Offensichtlich sind einige Deserteure der Armee zu den Rebellen gestoßen, die große Mehrheit sind jedoch Indígenas und Campesinos. Ein Teil der Lehrerbewegung hat den Artikeln zufolge Kontakt zurGuerilla. In Guerrero kann die Rebellion auf eine Tradition verweisen. Bereits Anfang der 70er Jahre lieferte eine kleine, aber schlagkräftige Truppe Aufständischer unter ihren Führern Lucio Cabañas und Genaro Vázquez (beides Lehrer) dem offiziellen Militär einen erbitterten Kampf. In den Bergsiedlungen, dort wo die staatliche Autorität kaum mehr hinkommt, ist den Jornada- Mitarbeitern zufolge in fast jeder Hütte ein Bild von Cabañas, Vázquez und Emiliano Zapata zu finden. In jüngerer Zeit kam ein weiteres Foto dazu: von Subcomandante Marcos der EZLN. Die Wochenzeitung Proceso berichtete Ende Juni von einer Landguerilla im Grenzgebiet der Bundesstaaten Hidalgo und Veracruz mit Verbindungen nach Tamaulipas und San Luis Potosí. Deren Anfänge reichen in die Zeit vor den Zapatistas zurück. Einige unzugängliche Gemeinden in dem Gebiet werden anscheinend bereits seit längerer Zeit von der Guerilla verwaltet. Inzwischen soll sie auf gut 2.000 zum Teil schwer bewaffnete Kämpfer und Kämpferinnen angewachsen sein, die zahlreichen Sympathisanten in der Bevölkerung nicht mitgezählt. Sinaloa, Michoacán, Oaxaca und Puebla sind weitere Bundesstaaten, die im Zusammenhang mit Guerillaaktivitäten genannt werden. Einige Beobachter gehen sogar davon aus, das es in nahezu der Hälfte der 32 mexikanischen Bundesstaaten eine Guerilla gibt. Die Gründe für die Entstehung sind immer gleich: Armut und Unterdrückung der Landbevölkerung, das heißt der Campesinos und Indígenas.

Marcos: Falls die Verhandlungen scheitern, gibt es Bürgerkrieg

Im Gegensatz zur direkten militärischen Konfrontation wie in Chiapas ist die Guerilla in anderen Regionen bisher im Verborgenen geblieben. Die Organisationsarbeit stand jahrelang im Vordergrund. Direkte Verbindungen zur EZLN sind bisher nicht bekannt. Doch sowohl La Jornada als auch Proceso erwähnen, in Guerrero, Hidalgo und Veracruz werde auf die Präsidentschaftswahlen vom 21. August und auf ein Signal aus Chiapas gewartet. Offensichtlich sprach Subcommandante Marcos in einem langen Interview im Juni nicht ohne Grund von einer gewachsenen EZLN im ganzen Land. Dies bezog sich auch auf die Guerillagruppen, die nicht als EZLN firmieren. Marcos sprach von einem „letzten Aufruf“ für den friedlichen Übergang zur Demokratie – in ganz Mexiko. Die von den Zapatistas auf ihrem Gebiet für den 6. bis 9. August einberufene Nationale Demokratische Versammlung solle ein Baustein dafür sein. Derselbe Marcos prophezeit für den Fall des Scheiterns den Bürgerkrieg. Dann gäbe es „keinen Krieg zwischen zwei Armeen, sondern einen Krieg zwischen vielen Armeen“. Über das Szenario in einigen Teilen des Landes macht er sich keine Illusionen: „Es wird keine Kontrolle geben… es bedeutet die Hölle.“

Demokratische Nationalversammlung der Zapatistas

(Mexiko-Stadt, 31. Juli 1994, POONAL).- Die von der Nationalen Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) einberufene Demokratische Nationalversammluung wird vom 6. bis 9. August stattfinden. Es werden etwa 6.000 Vertreter*innen, eingeladene Gäste und Beobachter*innen von unzähligen Gruppen und Organisationen erwartet. An den ersten beiden Tagen werden in San Cristóbal mehrere Arbeitsgruppen tagen. Am 8. und 9. August zieht die Versammlung in das von der EZLN kontrollierte Gebiet. Dort hat die Guerilla einen „Aguascalientes“ getauften Ort für die Diskussion im Plenum vorbereitet. Themen werden unter anderem der Übergang zur Demokratie, die Wahlen und konkrete Punkte wie Landverteilung, Arbeit, Wohnung, Bildung und Gerechtigkeit sein.

Unfall oder Attentat? – Oppositionspolitiker in Chiapas schwer verletzt

(Mexiko-Stadt, 31. Juli 1994, POONAL).- Der chiapanekische Gouverneurskandidat Amado Avendaño Figueroa ist sechs Tage nach seinem schweren Autounfall außer Lebensgefahr. Avendaño ist wieder bei Bewußtsein und wird das Krankenhaus voraussichtlich in zwei oder drei Wochen verlassen können. Er hatte bei dem Zusammenstoß seines Wagens mit einem LKW-Trailer schwere Kopf-, Brust- und Armverletzungen erlitten. Drei seiner Wahlkampfbegleiter starben. Die oppositionelle Partei der Demokratischen Revolution (PRD) hat bereits signalisiert, daß Avendaño ihr Kandidat für die Bundesstaatswahlen am 21. August bleiben wird. Unklar ist allerdings noch, ob der Spitzenpolitiker selbst nach dem schweren Unfall dazu bereit ist. Nach wie vor ist der Verdacht nicht ausgeräumt, daß es sich um ein gezieltes Attentat handelte. Die chiapanekische Staatsanwaltschaft erklärte die Untersuchungen allerdings für abgeschlossen und geht offiziell von einem Unfall aus. Der Attentatsverdacht stützt sich auf eine Reihe von Indizien: Der schwere LKW, der frontal mit dem Kleinbus von Avendaño und seinen Begleitern zusammenstieß, wechselte auf gerader und übersichtlicher Strecke plötzlich die Fahrbahn. Der Unfall geschah um 6.30 Uhr morgens, die Straße war völlig frei, der Lastwagen hätte also genug Platz zum Ausweichen gehabt. Der LKW fuhr ohne Kennzeichen. Nach seiner Aufschrift gehört er einem Speditionsunternehmen im nördlichen Bundesstaat Chihuahua. Daß er ohne Kennzeichen die weite Strecke bis in den Südzipfel Mexicos hätte zurücklegen können, ohne von der Polizei behelligt worden zu sein, ist ebenfalls unwahrscheinlich.

Einer der überlebenden Mitfahrer aus Avendaños Wahlkampfteam berichtete, vor dem Unfall habe der weiße LKW mit abgedunkelten Scheiben ihr Auto zweimal überholt. Der inzwischen festgenommene mutmaßliche Fahrer des Wagens ließ sein Gefährt stehen und beging Fahrerflucht. Nach Aussagen von Campesinos nahm ihn einige Zeit nach dem Zusammenstoß ein anderer Transporter mit. Avendaños Frau Concepción Villafuerte (mit ihr zusammen gibt er seit vielen Jahren die Tageszeitung „Tiempo“ in San Cristóbal heraus) sagte, am Abend vor dem vermeintlichen Unfall habe ihr Mann einen Anruf vom Büro des chiapanekischen Governeurs Javier López Moreno von der regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) erhalten und sei zusammen mit anderen Gouverneurskandidaten zum Frühstück eingeladen worden. Daraufhin habe Avendaños die Fahrtroute geändert. Zu diesen Merkwürdigkeiten gesellen sich düstere Erinnerungen. 1988 kam der populäre Präsidentschaftskandidat der oppositionalen Partei der Nationalen Aktion (PAN), Manuel Clouthier, bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben. Ein Abgeordnetenkandidat einer anderen Oppositionpartei in Chiapas verlor 1991 in einer ähnlichen Situation einen Arm. Der Governeur von Chiapas und sein Staatsanwalt Arturo Becerra Martínez waren sich von Anfang an sicher: es handele sich um einen ganz normalen Unfall. Innenminister Jorge Carpizo war da schon vorsichtiger: Er drückte seine „Traurigkeit“ über das Ereignis aus und forderte eine „gründliche, schnelle und minutiöse“ Untersuchung. Verantwortliche der PRD hüteten sich anfangs, direkt das Wort Attentat zu benutzen. Ihr Präsidentschaftskandidat Cuauthémoc Cardenas sprach von dem „Verdacht“ eines möglichen Attentates. Der Parteivorsitzende Porfirio Muñoz Ledo nannte den Unfall „befremdlich“. Inzwischen gebrauchen sie deutlichere Worte. Der Präsidentschaftskandidat der PRI, Ernesto Zedillo, wiederum warf der PRD vor, aus der Situation Kapital für die Wahlen schlagen zu wollen. Wie immer die Wahrheit aussehen mag: Es ist zu befürchten, daß dem Mord an dem katholischen Bischof Ocampo vor mehr als über einem Jahr, dem Mord an Luis Donaldo Colosio im März 1994 nun ein weiterer ungelöster Fall hinzugefügt wird.

GUATEMALA

Militärs bedrohen CONAVIGUA

(Guatemala, 29. Juli 1994, cerigua-POONAL).- „Die Anschuldigungen der Armee gegen mich sind wie eine Todesdrohung, sie richten sich gegen meine Kinder und die Mitglieder von CONAVIGUA“. So reagierte Rosalina Tuyuc von der guatemaltekischen Witwenorganisation auf Aussagen eines Oberst vom Informationsdienst des Militärs. Er hatte erklärt, Tuyuc und zwei ihrer Brüder würden der Guerilla angehören. Die erst kürzlich mit einem Preis der französischen Regierung ausgezeichnete CONAVIGUA-Vorsitzende berichtete außerdem, seit drei Monaten würde das Haus ihrer Mutter von verdächtigen Personen beobachtet. Sie sah es als ein Anzeichen für ein geplantes Attentat an und zog angesichts solcher Aktionen den Friedenswillen der Armee in Zweifel.

Menschenrechtsbeauftragter findet kein Gehör

(Guatemala, 28. Juli 1994, NG-POONAL).- Die Empfehlungen des guatemaltekischen Menschenrechtsbeauftragten finden wenig Widerhall. Jorge García Laguardia hatte vor einiger Zeit sieben konkrete Vorschläge gemacht, um die Verletzung der Menschenrechte im Land zu stoppen. Er forderte die sofortige Auflösung der paramilitärischen Zivilpatrouillen (PAC) und die Durchsetzung eines Haftbefehls gegen Mitglieder der PAC in Colotenango. Laguardia wandte sich ebenso gegen die fortgesetzten Zwangsrekrutierungen des Militärs und gegen die von der Revolutionären Nationalen Einheit Guatemalas (URNG) erhobene „Kriegssteuer“. Der Menschenrechtsbeauftragte faßte den Begriff der Menschenrechtsverletzungen aber auch weiter: Er trat für einen Stop der Abholzung im Petén ein (das letzte größere zusammenhängende Urwaldgebiet in Guatemala; die Red.) und forderte Maßnahmen gegen die Umweltverschmutzung durch die Industrie an der Südküste. Eine weitere Empfehlung beinhaltete die Auflösung der Nationalen Wohnungsbank BANVI (seit Jahren ein Musterbeispiel dafür, wie sich Staatsangestellte auf Kosten der Armen bereichern; die Red.). Laguardia zeigte sich jetzt sehr verärgert, weil in keinem Fall etwas geschehen sei. Er hob besonders die Zwangsrekrutierungen der Armee hervor. Diese seien eine Quelle schwerer Menschenrechtsverletzungen. Das Vorgehen des Militärs habe das Menschenrechtsbüro und seine Helfer*innen zu einer enormen Präsenz in den Militärzonen im ganzen Land gezwungen. Hunderte von Bürgern hätten so vor dem erzwungenen Militärdienst bewahrt werden können. Der Verteidigungsminister Mario Enríquez räumte eine Reihe von „Anomalien“ in einigen Provinzen ein. Er selbst erwähnte den Fall einer Kaserne in Chimaltenango. Dort seien am Wochenende des 23./24. Juli mehrere Siedler der Umgebung gewaltsam rekrutiert worden. Enríquez bezeichnete das Vorgehen der Armee als „Irrtum“ und schob dem dortigen Militärbeauftragten die Schuld zu.

Zwei Spanier von Ausweisung bedroht

(Guatemala, 29. Juli 1994, NG/cerigua-POONAL).- Der guatemaltekische Präsident Ramiro De León Carpio hat die Ausweisung von Ausländer*innen angekündigt, die unerlaubte Handlungen in Guatemala begangen haben. Er bezog sich konkret auf den Fall zweier Spanier aus der Solidaritätsbewegung ihres Landes, die die Gewerkschaftseinheit der Arbeiter*innen Guatemalas (UNSITRAGUA) „beraten“. Ihnen wird vorgeworfen, an der Besetzung von Fincas teilgenommen zu haben. Der Präsident reagierte mit seiner Äußerung auf Anschuldigungen und Forderungen des Koordinationskomitees der Unternehmerkammern für Handel, Industrie, Landwirtschaft und Finanzwesen (CACIF). Carpio sagte, Guatemala werde Ausländer*innen die Türen öffnen und ihnen Gastfreundschaft und Vertrauen entgegenbringen. Wenn die Gäste das Entgegenkommen jedoch missbrauchten, müsse man auf die Migrationsgesetze zurückgreifen und die Ausweisung in Abstimmung mit den diplomatischen Vertreter*innen anordnen. Die Koordination der Solidaritätsgruppen in Spanien erklärte unterdessen, ihre Rolle bestünde in der friedlichen Solidarität und nicht in der gewaltsamen, wie es die Unternehmerkammern tendenziös gesagt hätten. Derweil hat auch die spanische Botschaft den beiden Landsleuten Unterstützung zugesichert und die Anschuldigungen zurückgewiesen. Eine Gruppe von US- Gewerkschafter*innen verteidigte sie ebenfalls. Die beiden Betroffenen haben den guatemaltekischen Präsidenten um ein Gespräch gebeten. Sie wollen ihm erklären, daß ihre Arbeit nur die Begleitung und Beobachtung umfasse.

Fincas angezündet

(Guatemala, 28. Juli 1994, NG-POONAL).- Guerillakräfte zündeten in der Provinz Chimaltenango zwei Kaffeefincas an und zerstörten die Einrichtungen. Der Schaden soll zwei Millionen Quetzales (ca. 330.000 Dollar) betragen. Nach Angaben der örtlichen Presse wurde die Aktion von etwa 20 Guerilleros ausgeführt. Sie waren mit Funkgeräten und Schnellfeuergewehren ausgerüstet. Die Gruppe habe angegeben, zur Revolutionären Nationalen Einheit Guatemalas (URNG) zu gehören.

BRASILIEN

Bischof rechtfertigt Landbesetzungen

(Rio de Janeiro, Juli 1994, Ibase-POONAL).- Verständnis für die wachsende Zahl von Landbesetzunngen in Brasilien hat der Bischof von Vacaria, Dom Orlando Dotti, gezeigt. Die illegalen Besetzungen seien die einzige Möglichkeit der Kleinbäuer*innen und Landlosen, Druck auf die Regierung auszuüben, damit sie eine Agrarreform einleite und die Misere auf dem Land behebe. Dotti, der derzeit auch nationaler Präsident der Landpastorale CPT ist, warf der Regierung vor, notwendige Reformen hinauszuschieben und die Landbevölkerung mit ersprechen zu täuschen, die sie gar nicht einhalten wolle. Im ersten Halbjahr 1994 wurden in sechs Bundesstaaten 18 Ländereien vom mehr als 5000 Familien besetzt. Nach Angaben der CPT leben tausende besitzlose Familien unter Plastikfolien am Rand der Straßen und warten auf die Agrarreform. Die größten Konflikte konzentrierten sich auf die Bundesstaaten Mato Grosso, wo acht Latiundien besetetzt worden seien, Rio Grande do Sul, Sergipe, Goias, Sao Paulo und Para. „Hier in Vacaria hat die Regierung versprochen, den Familien, die die besetzte Fazenda Santa Rita verlassen hatten, innerhalb von 30 Tagen zu helfen. Jetzt sind zwei Monate vergangen und nichts ist passiert“, sagt Dom Orlando. Angesichts der Untätigkeit der Regierung hätten die Millionen Landlosen keine andere Wahl, als brachliegenden Großgrundbesitz zu besetzen.

Großgrundbesitzer*innen gründen bewaffnete Miliz gegen Landlose

(Rio de Janeiro, Juli 1994, Ibase-POONAL).- Die Großgrundbesitzer*innen in Pontal do Paranapanema wollen eine private Miliz gegen Landlose gründen. Das hat der regionale Präsident der konservativen „Demokratischen Agrarunion (UDR), Arnaldo Couto, angekündigt. Die Fazendeiros würden eine „Gegenguerilla zur Bekämpfung der ländlichen Guerilla“ in der Region bilden, sagte Couto. Pontal de Paranapanema umfaßt 15 Munizipien im äußersten Westen des Bundesstaates Sao Paulo und ist die Region mit den meisten Landkonflikten. Der staatliche Justizsekretär von Sao Paulo, Antonio Correa Meyer, verurteilte im Namen der Regierung die angekündigte Gründung der Privatarmee als ein Verbrechen. Dies würde die Gewalt in der Region nur noch vergrößern. „Die UDR soll die legalen Wege gehen, um sich zu verteidigen. Sie soll die Militärpolizei aufsuchen und die Konfrontation vermeiden.“

Währungsreform – Alptraum oder Beginn der Stabilisierung?

(Rio de Janeiro, 1. August 1994, Ibase-POONAL).- Am 1. Juli erwachte Brasilien mit seinem achten wirtschaftlichen Stabilisierungsplan und einer neuen – der zehnten – Währung: die an den Dollar gekoppelten Real (1 Real = 1 US-Dollar). Staatspräsident Itamar Franco maß der Währungsreform sogleich epochale Bedeutung bei. Die neue Geldeinheit, so ließ sich der Regierungschef vernehmen, werde „definitiv den Gang der Geschichte ändern und 30 Jahre Inflation beenden“. Seit 1942 leidet die brasilianische Bevölkerung unter anhaltender Inflation. Daran vermochten auch zahlreiche Versuche, den Preisauftrieb mit neuen Geldeinheiten zu mindern, dauerhaft nichts auszurichten. Die letzte Währung, der Cruzeiro Real, war die Währung mit der kürzesten Lebensdauer: Ihm waren nur 334 Tage vergönnt, in denen er freilich eine bemerkenswerte Inflation von 3673,52 Prozent erreichte. Diesen düsteren Trend scheint die neue Währung nach Angaben der Regierung zumindest kurzfristig stoppen zu können: Für Juli schätzt sie die Inflation auf zwei Prozent, im August soll es keinen weiteren Preisauftrieb geben. Fernando Henrique Cardoso, Schöpfer des Plano Real und sozialdemokratischer Kandidat der PSDB für die Präsidentschaftswahlen im Oktober, erwartet für das ganze Jahr eine nur noch zweistellige Inflation.

Regierung erwartet zweistellige Inflationsrate für 1994

Allerdings ist fraglich, ob die optimistischen Erwartungen sich bewahrheiten. Denn selbst staatliche Stellen nutzten die Reform, um stattliche Preiserhöhungen durchzusetzen, vor allem für öffentliche Verkehrsmittel. Grundnahrungsmittel wie Sojaöl, Bohnen oder Reis wurden um 50 Przent teuerer, Supermärkte erhöhten die Preise um bis zu 70 Prozent. Die unteren Einkommensschichten haben derzeit am stärksten unter der Anpassung zu leiden. Die Löhne wurden in der Übergangsphase eingefroren, während die Preise frei klettern: Vom 10. März bis zum 30. Juni stiegen die Lebenshaltungskosten um 370 Prozent, die Löhne dagegen nur um 331 Prozent. Bei einer optimistischen Vorhersage von 3 Prozent Inflation pro Monat würde sich das reale Einkommen innerhalb eines Jahres um 17 Prozent vermindern. Denn es gibt keine automatische Anpassung des Lohnes an die Inflation: Lohnerhöhungen hängem somit nur noch von den Verhandlungen der Beschäftigten mit den Arbeitgebern ab. Der Mindestlohn lag im Juli bei knapp 65 Real und soll im September auf 70 Real erhöht werden. Gefahren drohen dem Real indes von vielen Seiten: Das hohe Staatsdefizit, reale Preiserhöhungen, die wiederum Lohnerhöhungen nach sich ziehen könnten. So hat Staatspräsident Itamar Franco wohl auch aus wahltaktischen Gründen bereits für August eine Lohnerhöhung von 28 Prozent für die öffentlichen Bediensteten in Aussicht gestellt.

Stabilität soll der neuen Währung die Parität zum US-Dollar verleihen. Der Wechselkurs des Real ist vorläufig eingefroren – voraussichtlich bis Dezember. Damit soll der Anstieg der umlaufenden Geldmenge kontrolliert und die Inflation gestoppt werden. Gleichzeitig mit der Ankündigung der 1:1_parität verkaufte die Zentralbank den Dollar jedoch für 0.93 Real, was eine faktische Aufwertung der heimischen Währung bedeutet. Ebenso wie die Erhöhung der Mindestreservepflicht auf Bankeinlagen ist diese Maßnahme ein fundamentaler Bestandteil des Wirtschaftsplanes. Es sollen Barrieren errichtet werden, um die Geldmenge nicht anwachsen zu lassen und vor allem den aufgrund des hohen brasilianischen Zinsniveaus hohen Kapitalzufluß aus dem Ausland zu verhindern. Der faktische Zoll auf den Import von Dollars macht eine Geldanlage für Ausländer wesentlich unattraktiver. Nächster Schritt soll dann die Senkung der Zinsen sein. Während die Unternehmen die Erfolgschancen des Plano Real optimistisch beurteilen, sehen die politischen Konkurrenten von Cardoso den Plan hauptsächlich als Wahlkampfmittel an. Die Gewerkschaften, die zu einzelnen Protesten aufriefen, befürchten, daß die Reform lediglich zu einer kurzfristigen Preisstabilisierung vor den Wahlen führt und die Kosten in Form von Kaufkraftverlusten vor allem von den Ärmeren Schichten getragen werden müßten.

KARIBIK

Vereinigung der Karibikstaaten gegründet

(Santa Marta, Columbien, 25. Juli 1994, prensa latina-POONAL).- Am 24. Juli ist in Cartagena de Indias (Columbien) die „Vereinigung der Karibikstaaten (AEC) gegründet worden. Zu den Unterzeichnern des entsprechenden Abkommens gehörte auch Fidel Castro. Er sagte, die AEC sei ein Teil des Traumes von Simón Bolívar gewesen, der nun Wirklichkeit werde. Die Tatsache, daß die AEC sich am 211. Geburtstag von Bolívar gründe, sei die größtmögliche Bewunderung, die dem lateinamerikanischen Befreier entgegengebracht werden könne.

PARAGUAY

Frauen klagen sexuellen Mißbrauch an

– von Maria Lis Rodriguez

(Asunción, Juli 1994, fempress-POONAL).- Der sexuelle Mißbrauch von (geistig) Behinderten ist in Paraguay zu einem öffentlichen Thema geworden. Vor kurzem hatte eine junge Frau, Patientin des staatlichen Nationalinstitutes für den Schutz behinderter Personen (INPRO), den 52jährigen Fahrer der Institution wegen Vergewaltigung angeklagt. Die Untersuchung kam nicht voran. Mehr noch, die Jugendliche widerrief ihre Aussage Tage später. Offensichtlich hatte sie dem auf sie ausgeübten Druck der Autoritäten des INPRO nicht mehr standhalten können. Wenige Tage später sorgte eine weitere Anklage für Aufsehen. Dieses Mal wurde ein Physiotherapeut des staatlichen Instituts vorgeworfen, eine Patientin vergewaltigt zu haben. Der Therapeut übt seine Arbeit kann seiner Arbeit trotz der Vorwürfe weiterhin nachgehen. Die Erklärungen der INPRO-Direktion sind widersprüchlich. Die Eltern von Patient*innen behaupten dagegen, sexueller Mißbrauch sei eine gängige Praxis. Die mangelnde Verteidigungsfähigkeit der Patient*innen werde von den Angestellten ausgenutzt – von den Krankenpflegern bis hin zu den Ärzten. Der erwähnte Fall, der großes Aufsehen erregte, addiert sich zu den zahlreichen Vorwürfen, die die Medien publik gemacht haben. Unter anderem berichteten sie über einen Schullehrer, der zwei Schülerinnen mißbrauchte und über einen evangelischen Pastor, der in eine Wohnung einbrach und ein Mädchen vergewaltigte. Die Gewalt macht keinen Unterschied: betroffen sind Jungen und Mädchen, junge und alte Frauen. Es handelt sich um körperliche Mißhandlung, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung und Mord.

Die Opfer wagen nun, ihre Peiniger anzuklagen

Die Nachrichten erschüttern, sie haben aber eine positive Wirkung: die Opfer wagen, über die Gewalt zu reden und ihre Peiniger anzuklagen. Jetzt wird sogar der General Ramón Rodriguez, Chef der nationalen Anti-Drogenbehörde, angeklagt, weil er seine weiblichen Untergebenen begrabscht hat. Die Zahlen der Polizei – die als bisher einzige Instanz ein Register führt – sprechen von einem beträchtlichen Anstieg der Anklagen. Im vergangenen Jahr verzeichnete sie 101 Vergewaltigungen oder versuchte Vergewaltigungen. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres registrierte sie 41 Anklagen. Welche Antworten geben Staat und Gesellschaft? Die Frauenbehörde startete gerade einen Nationalplan zur Verhütung und Bestrafung der Gewalt gegen Frauen, allerdings gibt es bislang noch wenig konkrete Aktionen. Innerhalb des Gerichtswesens wurde ein spezielles Büro für die Opfer geschaffen. Es ist Teil des Anklagebüros der Generalstaatsanwaltschaft. Personen, die Vergewaltigungen anklagen wollen, werden dort betreut. Auf Gemeindeebene enstehen ebenfalls Projekte, die vielleicht sogar schneller konkret werden. Diana Banuelos und Lilian Soto, zwei Gemeindevertreter*innen in Asunción, haben ein Nottelefon vorgeschlagen, an das sich Frauen wenden können, die Opfer von Gewalt wurden oder gefährdet leben. Die Initiative will mit Nicht-Regierungsorganisationen zusammenarbeiten, die zur selben Problematik arbeiten. Lilian Soto ist zudem Vorsitzende des Netzes der Gemeinderatsfrauen. Der Verlust der Angst ist ein Schritt nach vorne. Doch nach wie vor können die Täter meist auf Straflosigkeit hoffen. Die paraguayische Justiz befindet sich in einem beklagenswerten Zustand. Die Anklagen werden oft gar nicht verfolgt oder geraten schlicht in Vergessenheit.

CHILE

Für den Campesino ist kein Platz im Wirtschaftsmodell

– Interview mit dem Campesinoführer Carlos Opazo

(Santiago, 24. Juni 1994, alai-POONAL).- Es ist ein Gemeinplatz geworden, Chile als ein erfolgreiches Neuordnungsmodell der Parteigänger des Neoliberalismus vorzuzeigen. Die sozialen Kosten sind bekannt, doch sie werden mit dem Hinweis auf die makroökonomischen Erfolge beiseite gewischt. Dabei wird beispielsweise wenig davon gesprochen, daß Chile zu den Ländern der Region gehört, die eine große, arme Landbevölkerung hat. Um die Meinung der Marginalisierten zu hören, sprach ALAI mit Carlos Opazo von der Campesino-Vereinigung „El Surco“ (die Ackerfurche).

Frage: Wie beurteilst Du die ersten Regierungsmonate von Präsident Eduardo Frei Montalban?

Opazo: Die neue Regierung hat dieselbe Ausrichtung und ist von derselben politischen Strömung wie die vorherige. Aber wir hatten gehofft, sie würde den Übergang (von Diktatur zur wirklichen Demokratie; die Red.) hinter sich bringen. Das hat sie nicht gemacht. Wir haben sehr wohl gemerkt: die ersten Gespräche, die allgemeine und spezielle Politik behandeln eher die unternehmensspezifischen Probleme. Wir defininieren die Regierung als eine des chilenischen Unternehmertums. Das macht uns Sorge. Eine Regierung, die sich mehr den Problemen der großen Unternehmen, des großen Kapitals zuwendet, wird die Probleme der Arbeiter*innen und der kleinen Campesinos, der armen Campesinos unseres Landes nicht beachten. Unabhängig davon haben wir eine Reihe von Gesprächen auf Ministeriumsebene initiiert, um über die Probleme der Campesinos zu sprechen. Beispielsweise diskutieren wir jetzt via Landwirtschafts- und Innenministerium mit der Regierung über die von ihrem Land vertriebenen Campesinos. Ihnen wurde das Land legal von den demokratischen Regierungen übergeben, speziell von 1970 an. Danach wurde es ihnen willkürlich wieder genommen, mit all den Einschüchterungs- und Schreckensaktionen, die in der ersten Zeit des Militärregimes ihre Herrschafts antraten. Diese Campesinos wurden mißhandelt, einige gewaltsam von ihrem Land vertrieben. Jetzt sind sie hartnäckig. Wenn wir ein Land sind, das seine Demokratie wiederlangt und wenn wir ein Land sind, in dem die soziale und wirtschaftliche Situation sich verbessert, dann muß man daran denken, wie diese Campesinos auf ihr Land zurückkehren können. Wenigstens muß es eine Entschädigung aus sozialen, moralischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten angesichts der verletzten Menschenrechte geben. Es gibt Probleme, denn die Mehrheit wurde zwangsvertrieben und es gibt kein Dokument, das beweist: Der Campesino mußte an dem und dem Datum das Land verlassen und es wurde ihm ein Papier übergeben, auf dem das angewendete Gesetz genannt ist. Wir arbeiten an einem Gesetzesprojekt, das die Landübergabe und neue Landzuweisungen regeln soll. Wir wollen einen nationalen Landfonds, damit der Staat Land kauft. Die Regierung hat uns gesagt, es gibt nicht genug Land, um es an alle zu verteilen. Falls wir auch zu dieser Überzeugung kommen, würden wir eine finanzielle Entschädigung verlangen, die vom damaligen inflationsbereinigten Wert des Bodens ausgeht. Es muß auch erlaubt sein, daß die Campesinos zu mehreren Land kaufen können. Es gibt verschiedene Campesinogruppen, die Grundstücke auf dem ganz normalen Markt kaufen müssen, um ihre Probleme zu lösen.

Frage: Von diesem besonderen Fall abgesehen, welche Hauptprobleme siehst Du zur Zeit in der chilenischen Landwirtschaft?

Opazo: Früher, zur Zeit der Agrarreform, das heißt vor dem Putsch, war das Wasser Allgemeingut. Später in der Diktatur wurde es privatisiert. Seitdem gibt es eine Reihe von Schwierigkeiten für die Campesinos, die keine Eigentümer von Wasser(-quellen) sind. Das Wasser ist in der Mehrzahl der Fälle Eigentum von Einzelpersonen. Die Campesinos haben beispielsweise Bewässerungskanale, aber keinen Zugang zum Wasser. Sie müssen es kaufen und sind immer auf den guten Willen des Privateigentümers angewiesen. Also kämpfen wir dafür, daß das Wasser wieder ein öffentliches Gut wird. Das Gesetz soll nur die Menge des Wassers bestimmen, zu dem wir entsprechend unserem Landbesitz Zugang bekommen.

Größtes Problem: Wasservorräte gerecht verteilen

Es anderes Problem berührt die landlosen Campesinos. Die Regierung schenkt dem überhaupt keine Beachtung. Darum entwickelt sich eine einheitliche Bewegung dieser landlosen Campesinos. Die Campesinoorganisationen, Gewerkschaften und die übrige soziale Bewegung nehmen sich des Problems an. Ganz allgemein verschärft sich der soziale Kampf aufgrund der UnternehmerInnenorientierung der Regierung. Ein weiteres Element: In Chile wird eine große landesweite Kampagne zugunsten der Politik des Kleinunternehmens geführt. Danach werden bald alle Unternehmer*innen sein. Anders gesagt: Wenn jemand einen Hektar Land hat, muß er ein Projekt ausarbeiten, damit sie ihn als landwirtschaftlichen Unternehmer anerkennen. So kann er es schaffen, Gelder vom Staat oder irgendeine Form technischer Hilfe zu bekommen. Wir kritisieren all diese Politiken, weil sie nicht wirksam sind. Die Regierung hat angekündigt, in ihrer Amtszeit das gesamte ländliche Gebiet zu verändern, sie werde die öffentlichen Dienstleistungen, Strom, Straßenpflasterung, Telefonverbindungen, Krankenhäuser beispielsweise verbessern. Das ist alles gut, wir unterstützen es. Aber wir sind nicht dafür, daß sie die individuellen Dinge fördert, denn alles ist bis auf wenige Ausnahmen auf den Privatsektor ausgerichtet. Andererseits entsteht heutzutage ein neues Phänomen. Mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik gibt es keine schlechten Böden mehr. Wir produzieren in der Wüste, wo die Obstproduktion fast die beste Qualität hat. Also haben diese Böden großen Wert und die Unternehmer*innen beanspruchen sie für sich. Aber es stellt sich heraus: diese Landstücke sind von Menschen bewohnt, von armen Campesinos. Die wollen nicht von diesen Böden weg, denn sie haben keinen Ort, wo sie hingehen könnten. Daher entsteht eine Situation, die zu kleinen Rebellionen führen kann, keine Aufstandsaktionen, sondern Widerstand dieser Gruppen, das Land zu verlassen.

Frage: Die offiziellen Berichte heben hervor, Chiles Wirtschaft habe sich erholen können. Verschiedene internationale Organisationen haben das bekräftigt. Dennoch versicherst Du, die Situation verschärfe sich…

Opazo: Sie verschärft sich. Zwar gibt es einen Fortschritt in der Wirtschaft, wir können das nicht leugnen, doch keiner will erkennen, daß ein Teil dieses Fortschritts fiktiv ist. Beispielsweise gibt es viele Menschen, die von Unterstützungszahlungen leben, die nicht einmal für die kleinsten Notwendigkeiten reichen. Auf dem Land haben wir den Fall der kleinen und mittleren Produzenten, hauptsächlich der armen Produzenten mit wenig Land. Bei der aktuellen Politik können sie auf dem Markt nicht konkurrieren. Das führt zu sozialem Niedergang. Anders gesagt: Dieser Gesellschaftsteil wird überhaupt nicht beachtet. Er steht für landwirtschaftliche Nahrungsmittelproduktion, für die traditionelle Produktion. Das Augenmerk liegt jedoch nur auf der Exportproduktion.

Kreditinstitute pfänden die kleinen Besitzungen

Wenn jemand auf ein Staatsdarlehen hofft, auf technische Hilfe, auf Ausbildung, dann gibt es überhaupt keine Möglichkeit. Es sind soviele Papiere auszufüllen und Behördengänge zu machen, das ist unglaublich, da gehen Monate ins Land… Und wofür? Um ein Darlehen zu bekommen, das durchschnittlich 1.000 Dollar beträgt? Damit wird die Produktion auf fünf oder zehn Hektar nicht gelöst. Also können sie nicht konkurrieren, es gibt keinen Schutz für die Produktion. Wenn dieses Jahr die Ernte nicht gut ist, bittet der Campesino um Zahlungsaufschub. Kleine Fristverlängerungen von 30, 60 oder 90 Tagen sind das höchste, was er erreichen kann. Danach kauft ihn seine Kreditorganisation einfach auf, denn er hat mit seinem Eigentum gebürgt. Der Campesino will heute nichts davon wissen, wenn der Staat ihm über das Institut für die Landwirtschaftsförderung einen Kredit anbietet. Er weiß, es handelt sich um eine Schuld, die nicht bezahlt werden kann. Die Großen haben kein Problem, wenn es ihnen ein Jahr mal schlecht geht und sie Millionen Pesos verlieren. Da sie viel Land haben und ihre Unternehmen finanzkräftiger sind, können sie sich wieder erholen. Der Kleine nicht, dessen Schicksal ist endgültig besiegelt.

BOLIVIEN

Wenn die Politik Röcke trägt

– von Carmen Beatriz Ruiz

(La Paz, 19. Juli 1994, sem-POONAL).- In einem Land wie Bolivien ist es nicht bedeutungslos, Frau, arm und außerdem Indígena zu sein. Mehr als 50 Prozent der weiblichen Bevölkerung Boliviens haben so in ihrem Leben unter dreifacher Diskriminierung zu leiden. Es sind die sogenannten „Cholas“ oder „Polleras“. Aber immer mehr von ihnen werden zu „Cholas Políticas“, die sich in die Politik ihres Landes einmischen. Die bekanntesten sind die Gemeinderätinnen Julia López und Hilaria Cejas, die Parlamentsabgeordnete Remedios Loza und die Frau des Vizepräsidenten der Republik, Lidia Katari. Hinter ihnen stehen viele „Cholas“, die enorm zur demokratischen Entwicklung des Landes beigetragen haben. Sie nehmen in Gewerkschaften, Gremien und unzähligen kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Vereinigungen teil. In Bolivien werden die Bevölkerungsteile „Chola“ genannt, die von den Aymaras oder Quechuas abstammen. Ursprünglich bewohnten die Aymaras und Quechuas die Andenregionen des Landes, die etwa die Hälfte des nationalen Territoriums ausmachen. Ihr Anteil an Sieben-Millionenbevölkerung liegt über 60 Prozent. Für die Frauen bedeutet Chola-Sein nicht nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerung. Es beinhaltet auch eine Art zu leben, sich zu kleiden (die Bezeichnung „Pollera“ stammt von der Rocktracht, die die Aymara- und Quechuafrauen tragen; die Red.) und die Welt zu sehen. Die Kleidung der Chola ist bereits Gegenstand ethno- antropologischer Untersuchungen gewesen. Ihr Ursprung reicht in die Zeit der spanischen Eroberung zurück. Die Spanier zwangen den Einheimischen eine bestimmte Kleidung auf. Ihr Bestreben war es, eine „übertriebene“ Vermischung der Rassen zu vermeiden. Die Grenzen des sozialen Status sollten deutlich bleiben.

Durch Kampf für höhere Löhne und Medikamente zur Politik

500 Jahre später präsentieren die Cholas eine Kultur, die ihre stolzen Protagonistinnen beispielsweise in den erwähnten Frauen Julia López und Hilaria Cejas findet. Julia López kam in Colquiri, einem Minenzentrum zur Welt. Sie heiratete und zog in ein anderes Minencamp in der Provinz La Paz. Seit dieser Zeit arbeitet sie in der Volksbewegung. Als Frau eines Minenarbeiters nahm sie an mehreren Bewegungen und Aktionen teil. Sie kämpfte für höhere Löhne der Minenarbeiter und Medikamente für das Minenzentrum. Die als „Neuansiedlung“ bekannte massive Entlassung der Minenarbeiter zwischen 1985 und 1989 unter der regierenden Mitte- Rechts-Partei Nationalistische Revolutionäre Bewegung (MNR) brachte sie nach El Alto. So heißt die konfliktgeladene MigrantInnenstadt – auch „Bastion der Aymara“ genannt – elf Kilometer vom Sitz der bolivianischen Regierung entfernt. Die Minenführerin begann mit dem Kleinhandel, nahm an der Organisierung der Gewerkschaft teil und wurde in die größte Organisation der Arbeiter*innen des sogenannten informellen Sektors, die Gewerkschaftsföderation, gewählt. Nebenher arbeitete sie aktiv in Stadtviertelorganisationen wie den Volksgesundheitskomitees. Auch dort nahm sie eine führende Stellung ein. Zur Zeit ist sie in der zweiten Amtsperiode hintereinander Stadträtin in El Alto für die Partei Bewußtsein für das Vaterland (CONDEPA). Nach ihrer Aussage hat sie als „Chola“ keine Schwierigkeit gehabt, Politik zu machen. Die CONDEPA habe den Polleras Möglichkeiten geöffnet, an der Politik als Führerinnen teilzunehmen, „nicht nur als Basis, als Sprungbrett für andere, wie es vorher immer war“ (an dieser Stelle sollte nicht unerwähnt bleiben, daß die CONDEPA trotz aller Vorsicht beim Schubladendenken eindeutig dem rechtspopulistischen Parteienspektrum Boliviens zuzurechnen ist; die Red.). Obwohl sie manchmal Ablehnung spürt, „Spott über meine Ausdrucksweise, über meine Unsicherheit“, habe sie sich nie von den Polleras entfernen wollen. „Natürlich fehlt mir manchmal die Sicherheit, ich habe Angst, mich zu irren, ich fühle mich alleine. Ich glaube, es müßte mehr Personen wie mich geben.“

„Mein Tod wäre, keine Pollera mehr zu sein.“

Der Weg in die Politik öffnete sich auch für eine andere Pollera- Frau. Es ist die 46jährige Hilaria Cejas. Wie Julia López kam sie in einem Minenzentrum zur Welt, San José in der Provinz Oruro. Heute ist sie im Rat der Stadt Oruro vertreten. Die Mutter von acht Kindern arbeitete von klein auf als Händlerin. „Dann entschied ich, einen Markt zu gründen, damit viele Straßenhändlerinnen wie ich einen festen Platz hätten. Und ich erreichte es. Wir taten uns zu 40 Frauen zusammen und wir bauten unseren Markt. Ich war die Präsidentin.“ Sie wurde auch zur Führerin der Umgesiedelten und fand wie López in der CONDEPA ihre politische Heimat. Die Partei wurde auf sie aufmerksam und stellte sie als Stadträtin auf. Doch auch Cejas hat Angst, sich von ihren Leuten zu entfremden: „Mein Tod wäre, keine Pollera mehr zu sein.“ Beide Frauen hatten auf ihrem Weg in die Politik und zur öffentlichen Anerkennung Schwierigkeiten, weil sie nur mangelnde Spanischkenntnisse hatten. Ihre Muttersprachen sind Aymara und Quechua. Hinzu kam der Druck der Familie. Die nächsten Verwandten fürchteten soziale Kritik und Verachtung bei einer schlechten Amtsführung. Trotz aller Probleme: Die Cholas kommen immer mehr zu der Überzeugung: Ihr Ausschluß von der Macht in der Politik ihres Landes ist das Ergebnis der Diskriminierung und historischen Unterdrückung. Wenn sie nun ein lange übergangenes Recht ausüben, wird dies zu einem politischen Ereignis, das niemand in Frage stellen kann.

HAITI

Dominikanische Republik schiebt Flüchtlinge ab

(Port-au-Prince, 28. Juli 1994, Hib-POONAL).- Im Schutz der Nacht schieben die Behörden der Dominikanischen Republik Dutzende haitianischer Bürger*innen ab. Nach Angaben von „Centro Puente“, einer Organisation, die ihren Sitz in der Dominikanischen Republik nahe der Grenze zu Haiti hat, greifen Soldaten Männer, Frauen und Kinder auf. Sie fahren sie demnach zur Grenze und laden sie auf haitianischem Boden ab. Dieselbe Organisation berichtet auch, die Dominikanische Republik werde mehr und mehr instabiler. Die Opposition ruft dazu auf, die im Mai abgehaltenen Wahlen zu annulieren und eine Interimsregierung zu schaffen (eine für diese Woche angekündigte Entscheidung des Zentralen Wahlrates wurde ohne Angabe eines neuen Datums verschoben; die Red.).

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