Poonal Nr. 151

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 151 vom 12.07.1994

Inhalt


HAITI

NICARAGUA

BRASILIEN

SÜDAMERIKA

KUBA

HONDURAS

LATEINAMERIKA

GUATEMALA/MEXICO

GUATEMALA


HAITI

Das Gebiet 'Le Borgne' von Soldaten besetzt

(Port-au-Prince, 30. Juni 1994, hib-POONAL).- Zwei Mitglieder der Widerstandsorganisation in Le Borgne haben erstmals Informationen über die Vorgänge in der Region übermittelt. Die Region ist seit geraumer Zeit Ziel ständiger Angriffe. Die beiden jungen Bauern erreichten die Hauptstadt mit handgeschriebenen Berichten und einer Pressemitteilung. Auf allen Straßen nach Le Borgne und aus der Stadt heraus haben demnach Soldaten und ihre paramilitärischen Helfer Blockaden aufgebaut. Sie durchsuchen jeden und fordern oft „Visagebühren“.

982 Häuser wurden niedergebrannt, Bevölkerung ist willkürlicher Gewalt ausgesetz

Am 7. April besetzten hunderte haitianische Soldaten die Region. Nach den Angaben der Widerstandsorganisation brannten die Soldaten seitdem in sechs Weilern insgesamt 982 Häuser nieder. Die Dokumente erwähnen zudem Verhaftungen, Vergewaltigungen, gewalttätige Übergriffe und Zerstörungen. Am 31 Mai, so berichten die beiden Bauern, durchsuchte die Polizei ein Haus und brannte es anschließend bis auf die Grundmauern nieder. Drei Kinder, davon ein zweijähriges Baby, wurden erschossen bzw. verwundet. Die Soldaten suchen immer noch nach dem Bauernführer Marc Lamour. Er arbeitet seit 1983 in der Region und war ein örtlicher Vertreter von Aristides Regierung. Am 17. Juni verhafteten Soldaten einen Mann und befragten ihn speziell nach den Aktivitäten von Lamour. In einem Bericht wird die Aussage eines anderen Bauernführers zitiert. Danach greifen örtliche Mitglieder der paramilitärischen Front für den Haitianischen Fortschritt (FRAPH) und die Helfershelfer des Bereichschefs von Chanpay, Jean- Jean Louis, die Dorfbewohner*innen an: „Die Leute leben ständig mit der Todesdrohung.“

Kirche muß Schutzgeld zahlen

Viele Bewohner*innen bezahlen dem Bereichschef Louis oder den FRAPH-Autoritäten, um in der Zone bleiben zu können und Landwirtschaft betreiben zu dürfen. Der Priester einer Adventistenkirche bezahlte 30 Dollar, damit seine Kirche nicht niedergebrannt wurde. Die Mitglieder der Wiederstandorganisationen gehen davon aus, daß auf diese Art in drei anderen Weilern mindestens 422 Dollar erpreßt wurden. „Sie zerstören die Existenzen der kleinen Bauern“, sagt einer der beiden nach Port-au-Prince gekommenen Bauern. Er erklärt, er und seine Nachbarn würden den Angriffen weiterhin standhalten. Sie würden ihre Zukunft in der Rückkehr der Demokratie sehen. Er wies jedoch die wiederholt versprochene „Demokratie“ der Bourgeoisie oder der internationalen Gemeinschaft zurück. Trotz der Unterdrückung leisten er und andere Mitglieder seiner Organisation und von anderen Gruppen in Nachbargemeinden weiter Widerstand. „Der Zombi hat das Salz der Demokratie geschmeckt“, sagt er. Er bezieht sich damit auf die Überlieferung, daß ein Zombi, wenn er einmal Salz geschmeckt hat, aufwacht und nie wieder in den Stumpfsinn zurückfällt.

NICARAGUA

„Sergio soll in der Partei bleiben“

Interview mit Daniel Ortega, Generalsektretärr der Frente Sandinista (FSLN) – von G. Cuéllar

(Managua, 4. Juli 1994, Apia-POONAL).- Generalsekretär Daniel Ortega ging als Sieger aus dem außerordentlichen Parteikongreß der FSLN hervor und entschied den Machtkampf gegen seinen langjährigen Parteigefährten und schärfsten Widersacher auf dem Kongreß, Sergio Ramírez, eindeutig für sich. Ramírez wurde aus der Nationalen Leitung der Partei abgewählt.

Frage: Sind Sie mit den Ergebnissen des Kongresses zufrieden?

Ortega: Ich bin zufrieden, da wir meiner Meinung nach im Sandinismus ein demokratische Öffnung erlangt haben, die wir früher nicht hatten. Ich bin überzeugt, daß sich das als entscheidender Faktor für die Einheit des Sandinismus erweisen wird. Und dich bin auch zufrieden, weil die breite Teilnahme an den Debatten des außerdordentlichen Kongresses die Ideenvielfalt im Schoß des Sandinismus beweist.

Frage: Waren Sie wirklich ganz sicher, als Generalsekretär wiedergewählt zu werden?

Ortega: Ich hoffte, mich wieder als Generalsekretär einbringen zu können, und ich betrachte es als richtig, diesen Posten einzunehmen. Ich hatte diese Entscheidung gefällt, bevor nicht die anderen ihre Kandidaturen einreichten.

Frage: Unter einigen Teilnehmer*innen des Kongresses hörte man das Gerücht, der Ablauf dieses Kongresses wäre bereits vorbestimmt gewesen. Ist etwas Wahres daran an diesem Gerede?

Ortega: Es war ein ziemlich wertvoller Prozeß. Aber es scheint mir, einige Compañeros und Compañeras hatten andere Erwartungen als die sandinistische Basis. In ihrer Enttäuschung machten sie dann Bemerkungen wie die von Ihnen erwähnten.

Frage: Sergio Ramírez hat seinen Platz in der Nationalen Leitung verloren. Hat er denn wirklich so wenig Rückhalt in der Partei – obendrein wurde das Nationaldirektorium ja auf 15 Sitze aufgestockt.

Ortega: Meiner Meinung nach wird in einem demokratischen Wahlprozeß die Einstellung des Wählers zu den Kandidaten auf die Probe gestellt. Beim Kongreß von 1991, als erstmals in der Geschichte der FSLN eine Nationale Leitung der Partei gewählt wurde, stellten wir nur eine Liste, und so konnte man nicht wissen, wen die Abgeordneten eigentlich bevorzugten. Das verursachte eine ziemliche Unzufriedenheit und hat uns dazu geführt, bei diesem Parteitag individuell abstimmen zu lassen.

Frage: Sie sind derjenige, der den direkten Kontakt mit den Provinzdelegierten pflegt, der den Parteiapparat kontrolliert und den die meisten kennen …

Ortega: Man darf nicht vergessen, daß Sergio Ramírez Vizeporäsident dieses Landes war und als solcher engen Kontakt mit der Bevölkerung hatte. Und bekannt ist er schon seit 1979, als er in die Regierungjunta eintrat.

Frage: Trotz allem wird Sergio offensichtlich weiter den sandinistischen Klub in der Nationalversammlung anführen. Welche Auswirkungen wird das auf die Partei haben, wenn man die bestehenden Meinungsunterschiede bedenkt?

Ortega: Unabhängig von den Ansichten, die Sergio haben mag, kann ich sagen, daß er in seiner Arbeit als Klubchef diszipliniert innerhalb der sandinistischen Prinzipien agiert. Einige Probleme, die aufgetaucht sind, basierten vor allem auf mangelnder Koordination und Kommunikation. Ich sehe darin kein Problem. Wir werden alle seine persönliche Entscheidung respektieren.

Frage: Man spricht sogar davon, daß er die Partei verlassen könnte. Was würde die Frente mit seinem Austritt verlieren?

Ortega: Er hat Derartiges nicht gesagt. Ich hoffe, daß er nicht gehen wird – aber weshalb soll ich über derartige Hypothesen spekulieren?

Frage: Was sind die wesentlichen Gründe für Eure Meinungsverschiedenheiten?

Ortega: Ich glaube, daß hat viel mit der neuen Situation im Land zu tun. Mit der Art, wie man eine Oppositionspolitik zur Regierung machen kann, mit den Methoden des Kampfes; wie man respektvolle Beziehungen zu den Vereinigten Staaten herstellen kann. Diese Nuancen haben zu Widersprüchen geführt. Und dann gibt es noch größere Differenzen hinsichtlich der Art von Partei, die wir wollen. So tauchte zum Beispiel der Wunsch nach einer einzigen Mitgliedschaft auf, doch ich glaube, daß die zwei Kategorien, die des „militante“ und des „afiliado“, sinnvoller sind, denn das gibt der Partei eine größere Spannbreite, und alle können sich äußern. Ich glaube, diese Art ist demokratischer.

Frage: Was antworten Sie jenen, die Sie des Caudillismo bezichtigen?

Ortega: Wenn es etwas nie in der Frente gegeben hat, so ist es der Caudillismo. Zuerst hatte wir eine Regierungsjunta, wo die Entscheidungen im Konsens gefallen sind. Dann wurde ich zum Präsidenten gewählt, und die Nationale Leitung der Partei fällte die Entscheidungen. Eigentlich hattten wir eine aus neun Mitgliedern bestehende Präsidentschaft der Republik. Wie kann man mich also des Caudillismo beschuldigen?

Frage: Werden Sie bei den Wahlen von 1996 kandidieren?

Ortega: Ich habe diesen Kampf nicht aufgenommen, um öffentliche Ämter anzustreben. Die Dinge haben sich von selbst entwickelt. 1984 haben die Compñeros und Compañeras meine Kandidatur beschlossen. Ich bin überzeugt, daß nur ein Programm der nationalen Einheit jene Stabilität erreichen kann, die Nicaragua braucht. Deshalb müssen wir zuerst ein Programm erarbeiten und erst dann die Kandidaten suchen, die aus den Reihen des Sandinismus stammen können, vielleicht aber auch vvon außerhalb kommen können.

Frage: Wenn die Meinungsverschiedenheiten, die vor und während des Kongresses auftauchten, andauern, könnte sich dann die Frente spalten?

Ortega: Alles ist möglich. Ich kann Ihrer Frage kein absolutes Nein entgegenstellen, doch die Stärke des Sandinismus ist die Einheit, und das muß in Zusammenhang mit den Wahlen von 1996 ganz deutlich werden. Ich glaube, der Ruf nach Einheit ist stärker als mögliche Entscheidungen von Gruppen oder Personen, die Partei zu verlassen.

Frage: Wenn es tatsächlich zu einer Spaltung kommt – würde das das Ende der Frente bedeuten?

Ortega: Als wir Krieg hatten, unter schwierigsten Bedingungen, verließ uns Edén Pastora, unsere populärste Figur, mit einer Reihe von Compañeros und Compañeras. Er sagte uns, daß er sich der Guerilla in Guatemala anschließen wolle, und in Wirklichkeit ist er nach Costa Rica gezogen, um von dort aus gegen seine eigenen Brüder und Schwestern zu kämpfen. Doch das hat die Sandinistische Front nicht geschwächt, und wir haben auch diese Feuerprobe bestanden. Nun ist für uns kein Problem unüberwindbar.

Die neuen Parteigremien Nationale Leitung:

Wiedergewählt: Tomás Borge (ID = auf der Liste der Izquierda Democratica) Daniel Ortega (ID) Bayardo Arce (ID) Henry Ruiz (ID) Victor Tirado Luis Carrión René Nuñez (ID)

Neu: Mónica Baltodano (ID) Dora María Tellez Benigna Mendiola Dorotea Wilson (ID Atlantikküste) Mirma Cunningham (Atlantikküste) Victor Hugo Tinoco (ID) Lumberto Campbell (ID Atlantikküste) René Vivas (ID)

Asamblea Sandinista: 135 Mitglieder (vorher 98), 30 Prozent der Mitglieder müssen Frauen sein, zehn Prozent müssen jünger als 30 Jahre sein. 68 Delegierte werden in 15 Departements und 3 Autonomen Regionen gewählt. 18 Delegierte sind Sekretäre und Vertreter aus den Departments und Autonomen Regionen.

BRASILIEN

52 Menschen im vergangenen Jahr bei Landkonflikten umgebracht

(Rio de Janeiro, Juli 1994, Ibase-POONAL).- Die ökumenische Landpastorale CPT berichtet in ihrem Jahresbericht 1993 von über 545 Landkonflikte in Brasilien, 39 128 Menschen waren davon betroffen. 52 Menschen seien bei den Auseinandersetzungen ermordet worden, 37 weitere Mordanschläge wurden gezählt, 157 Menschen erhielten Todesdrohungen. Die Attentate richteten sich gegen Kirchenführer, Politiker und Richter, die den Kampf der Kleinbauern und Landlosen unterstützten. Morddrohungen erhielten unter anderen der Bischof von Sao Felix de Araguaia, Dom Pedro Casadaliga und der Priester Ricardo Resende aus Río Maria. An den Landbesetzungen waren 1993 19 092 Familien beteiligt. Stark zugenommen hat dem Bericht zufolge die „Sklaverei“ auf dem Land. 19 940 Menschen arbeiteten im vergangenen Jahr laut CPT-Report unter „sklavenähnlichen Bedingungen, besonders schlimm sei die Situation im Bundesstaat Parrá.

Militärpolizei: Landlose erhielten Geld aus Deutschland

(Río de Janeiro, Juli 1994, Ibase-POONAL).- Die brasilianische Militärpolizei behauptet, die Landlosenbewegung MST erhalte Geld aus dem Ausland, um Landbesetzungen durchzuführen und eine marxistisch-leninistische Republik aufzubauen. Dem Dokument der Militärpolizei zufolge, das dem „Sekretariat für Strategische Anmgelegenheiten (SAE) übergeben wurde, kommen die Gelder für die Landlosenbewegung von „staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen insbesondere aus Deutschland und Holland“. Außer diesen Mitteln, so der Bericht, verschaffe sich das MST von jeder angesiedelten Familie ein Prozent der Jahresproduktion und fünm Prozent jeglicher Finanzhilfen von außen. Als politische Basis für die Aktionen des MST fungierten nach Polizeiangaben die Arbeiterpartei PT und die Kommunistische Partei. Der Kernvorwurf des Dossiers der Militärpolizei betrifft die politische Ausrichtung der Landlosenbewegung: Sie beabsichtigten in Brasilien eine „authentische marsitsiche Republik“ zu gründen. Zwar versuche das MST der Gesellschat vorzuspielen, daß es sich bei ihr um eine Organisation handele, die um Land kämpfe – doch in Wirklichkeit besitze das MST alle Elemente einer politischen Partei. Padre Ticao von der Nationalen Union der Landlosen und Wohnungslosen entgegnete, das MST sei eine der ärmsten Bewegungen in Brasilien, die aus lauter Armen bestehe. Die Behauptungen der Militärpolizei bezeichnete er als „Delirium“. Leider sei auch die finanzielle Hilfe aus dem Ausland sehr gering.

Jugendliche Armee hat die Macht in den Favelas von Rio

(Rio de Janeiro, Juli 1994, Ibase-POONAL).- Das „Comando Vermelho“ (CV) und das Terceiro Comando“ (TC), die wichtigsten Fraktionen in der organisierten Kriminalität in Rio de Janeiro, sind zu einer regelrechten Armee von Jugendlichen geworden. Sie kontrollieren den Drogenhandel in den Favelas und auch in den Gefängnissen Rios. Das CV kontrolliert das Gefängnis auf der Ilha Grande, das TC das Gefängnis Lemos de Britto. Die Organisationen verfügen nach Polizeiangaben über Granaten und schwere Maschinengewehre. Es sei nicht bekannt, wie viele Personen in die Gruppen integriert seien, doch seien die Armenviertel an den Hügeln der Millionenstadt eindeutig in der Hand der beiden Banden. Neben dem Drogenhandel werden die „Comandos“ auch für großangelegte Überfälle verantwortlich gemacht. Die meisten Anführer im Drogenhandel sind noch im Jugendalter oder knapp darüber. Ein 25jähriger gilt bereits als alt in diesem Geschäft. Die Jugendlichen steigen meist im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren in das Geschäft ein – oft beendet der gewaltsame Tod noch im Jugendalter die kriminelle Karriere. Nur wenige der jungen Rechtsbrecher*innen werden gefaßt, lediglich zehn Prozent der Strafsachen gegen Jugendliche vor Gericht hängen mit dem Drogenhandel zusammen. Die jungen Drogenhändler*innen kommen selten vor Gericht, da sie selten ihr Viertel verlassen und von dort wenig nach außen dringt. Auf der anderen Seite ist die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Rio extrem. Im vergangenen Jahr wurden 656 Heranwachsende unter 18 Jahren umgebracht. Drei Prozent waren nach Schätzungen in den Drogenhandel involviert, 75 Prozent waren ohne Beschäftigung und Ausbildung.

Indígena-Manifest

(Brasilia, 30. Mai 1994, alai-POONAL).- Ende April traf sich der SprecherInnenrat der Indígenavölker und -Organisationen Brasiliens (CAPOIB) zur seiner Jahresversammlung. Er arbeitete ein Manifest aus, das er anschließend dem Präsidentschaftskandidaten der Arbeiterpartei, „Lula“, überreichte.

In dieser Hauptstadt versammelt, um den Organisationsgrad der Indígenavölker und -Organisationen zu analysieren, nennen wir 45 Indígena-Führer*innen von 24 Organisationen aus 36 Völkern in 18 Bundesstaaten die Hauptschwierigkeiten für die Indígenavölker Brasiliens: 1.) Fehlender politischer Willen der Regierung um a) die traditionell von den Indígenavölkern bewohnten Landstücke zu abzustecken; b) die Invasoren der Indígena-Landstücke zurückzudrängen; c) das Indígena-Erbe zu schützen; d) Hilfe im Gesundheits- und Bildungsbereich zu leisten; 2.) Eine verstärkte Gewalt der Gegner*innen und der Regierung selbst gegen die Indígenavölker; 3.) Ein große politische Lobby der Gegner*innen der Indígenavölker. Sie sind durch Plantagenbesitzer*innen, Minen-, Holz- und Wasserkraftunternehmen sowie einige politische und militärische Fraktionen vertreten. Bei einigen Führer*innen bewirkt das Mutlosigkeit, in bestimmten Gemeinden führt es zur Uneinigkeit; 4.) Fehlender Zugang zu den Medien

Angesichts dieser Situation haben die Indígenavölker und – Organisationen verschiedene Kampfformen angewendet, um ihre Schwierigkeiten zu überwinden. Sie drängen die Invasoren ihrer Gebiete zurück und verstärken den Druck auf die Regierung, damit die ausgewiesenen Gebiete geschützt werden. Viele Gemeinden, die die fehlende Hilfe und die Gleichgültigkeit der Regierung bemerken, verhindern so mit eigener Kraft den Raub ihres Erbes durch die Holzfäller, Goldsucher, Fischer und Jäger. Sie blockieren Arbeiten wie den Bau von Stauwerken, Straßen und Stromnetzen. Außerdem suchen sie wegen der Untätigkeit der Regierung alternative Formen für die Gesundheits- und Bildungshilfe sowie die Produktionsaktivitäten. In diesem Zusammenhang ist die Verbesserung der Organisation und der Artikulation der Indígenavölker und -Gemeinden auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene, oder auf der Ebene eines Volkes oder einer Sprache, eine der wichtigsten Formen, auf die aktuelle Unterdrückung der Indígenavölker zu antworten. Die Unterdrückung betrifft auch die Arbeiter*innen auf dem Land und in der Stadt sowie das brasilianische Volk als Ganzes. Indem wir unsere eigenen Organisationsformen verbessert haben, konnten wir wirksamer auf die uns betreffenden Dinge Einfluß nehmen. Wir haben konkrete Lösungsvorschläge gemacht. Nach langem Kampf nehmen wir an den Aktivitäten der Interinstitutionellen Indio-Gesundheitsgruppen (NISI) und der Nationalstiftung für die Indio-Gesundheit (CISI) teil. Von Anfang an, das heißt, seit 1987/88 begleiten wir die Arbeiten des Nationalkongresses, die sich mit den Angelegenheiten befassen, die für die Indígenas von Interesse sind. Dies ist beispielsweise bei dem Versuch einer Verfassungsänderung der Fall, die für unsere Gemeinden große Risiken birgt. Auch bei den Diskussionen über Änderungen der Indígena-Gesetzgebung. Damit der Landbesitz der von uns traditionell bewohnten Gebiete konkret wird, haben wir unsere Böden selbst abgegrenzt. Wir haben sie in Besitz genommen, die Invasoren herausgeworfen, Straßen blockiert und Regierungsinstitutionen besetzt. Das waren die unterschiedlichen Formen, Druck auszuüben.

Seit April 1992 sind die Indígenas in der CAPOIB organisiert

Wir Indígenavölker und -Organisationen haben uns dafür in dem im April 1992 gegründeten SprecherInnenrat der Indígenavölker und – Organisationen Brasiliens (CAPOIB) zusammengetan. Das war die eindrucksvolle Mobilisierung von 350 Indígena-Führer*innen, die 55 Organisationen und 101 Indígenavölker repräsentieren. Wir sind davon überzeugt: Wir können unsere Probleme über den Weg der Organisation und Artikulation der Indígenavölker überwinden – in einer Allianz mit den Teilen der brasilianischen Gesellschaft, die genauso ausgebeutet, unterdrückt und betroffen von der Geschäftemacherei und Gewalt der herrschenden Eliten im Land sind.

Aus dieser Sicht heraus glauben wir: Eine Regierung Lulas müßte unverzüglich die Forderungen und Bedürfnisse der Indígenavölker und der Volksschichten berücksichtigen. Darum muß sie sich allen diesen Angelegenheiten verpflichtet fühlen. Dies setzt den unentbehrlichen politischen Willen voraus. Für die Indígenavölker Brasiliens drängt: 1.) Die sofortige Abgrenzung aller Indígena-Gebiete. Die Indígena- Organisationen und die Indígena-Gemeinden, die das Land jeweils bewohnen, müssen daran beteiligt sein. Die Abgrenzung, die durch die Indígenavölker vorgenommen wurde, muß anerkannt werden; 2.) Der Schutz und die Garantie der Indígena-Gebiete sowie der Schutz der Naturressourcen. Deren Nutznießung steht durch ausdrückliche Verfügung der Verfassung ausschließlich den Indígena-Gemeinden zu, die in den ausgewiesenen Gebieten leben. Soweit es Invasoren auf diesen Grundstücken gibt, müssen sie vertrieben werden; 3.) Eine entsprechende Wiederansiedlungsgarantie für die Landbesitzer*innen des Indígenalands, die keine Indígenas sind. Ihnen muß das Recht auf Entschädigung zugestanden werden; 4.) Die Organisierung der (staatlichen) Indígena-Institution in der Weise, in der die Beteiligung der Indígenavölker und – Organisationen in gemeinsamen Leitungsgremien verwirklicht wird. Dort muß die Teilnahme anderer Regierungsorgane garantiert sein, die für Gesundheitsfürsorge, Schulbildung und Indígenahilfe verantwortlich sind. 5.) Die Verbesserung der Bildungs- und Gesundheitshilfe für die Indígenas. Die kulturellen Besonderheiten jedes Volkes müssen dabei respektiert werden. Die Schulbildung für die Indígenas muß die angestammten Lernprozesse respektieren und fördern. Die Gesundheitsvorsorge muß auch die traditionellen Behandlungsformen einbeziehen und die Schlußfolgerungen der 2. Nationalen Gesundheitskonferenz für die Indígenavölker anwenden.

SÜDAMERIKA

Gewerkschaften fordern demokratischen MERCOSUR

– von Jair Meneguelli, Vorsitzender des brasilianischen

Gewerkschaftsdachverbandes CUT

(Brasilien, 30. Mai 1994, Alai-POONAL).- Am 26. März 1991 beschlossen Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay in dem Vertrag von Asunción, einen gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen, den sogenannten MERCOSUR. Der Kernpunkt des Kontraktes: Güter, Dienstleistungen sowie Arbeitskräfte und Kapital sollten künftig frei ausgetauuscht werden können, zudem einigten sich die Länder, ihre Wirtschaftspolitik zu koordinieren. Nach einer vierjährigen Übergangsphase, in der die Bedingungen für den Gemeinsamen Markt des Südens festgelegt werden sollten, wird der MERCOSUR dem Vertrag zufolge 1995 eingeführt werden. Doch noch stehen dem gemeinsamen Binnenmarkt etliche Hindernisse im Weg. Trotz unseres Widerstandes gegen die undemokratische Form, in der die Regierungen der genannten Länder die Schaffung des gemeinsamen Marktes entschieden – ohne die betroffenen Gesellschaften in die Entscheidung einzubeziehen – haben wir Vorschläge dazu gemacht. Wir glauben, die Gewerkschaftsbewegung darf diesen Prozeß nicht tatenlos verfolgen. Daher haben an den offiziellen Treffen zum MERCOSUR teilgenommen und dort mit den wichtigsten Gewerkschaftszentralen der anderen Länder unser Vorgehen koordiniert. Wir haben gezeigt: Die Regierungsstrategie, den kommerziellen Aspekten Vorrang zu geben, steht im Widerspruch zu den in der Präambel des Vertrages erwähnten Zielen. Die Interessen der Arbeiter*innen sind nicht ausreichend berücksichtigt worden. Diese Punkte möchte ich in dem Artikel behandeln. Wovon sprechen wir? Die erste unumgängliche Frage ist: Was verbirgt sich hinter dem Namen MERCOSUR überhaupt? Der Artikel Eins des Vertrages von Asunción sagt klar: „Die beteiligten Staaten enscheiden, einen Gemeinsamen Markt zu bilden. Er muß am 31. Dezember 1994 eingerichtet werden und wird Gemeinsamer Markt des Südens (MERCOSUR) heißen.“ Der Vertrag sieht den „freien Verkehr der Güter, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren (Arbeitskräfte und Kapital)“ durch die Abschaffung der Binnenzölle vor. Er spricht von einem „gemeinsamen Außenzoll und einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik gegenüber Drittstaaten“. Die „Koordination zwischen den beteiligten Ländern in der makroökonomischen Politik und in der Politik in den Wirtschaftssektoren“ dient dazu, „geeignete Wettbewerbsbedingungen zwischen den beteiligten Ländern zu garantieren“. Dies sollte in einem Zeitraum von vier Jahren verwirklicht werden.

Übergangsfrist endet am Jahresende, doch viele Fragen sind noch ungeklärt

Wir haben – wie viele andere Kritiker auch – diese kurze Frist für solch ein gigantisches Werk als unrealistisch bezeichnet. Die Vereinbarung kann zum vorgesehenen Zeitpunkt nicht erfüllt werden. Die Frist ist eine Folge der eingeschlagenen Strategie: in einem komplizierten, aber unbeweglichen Verfahren sollte es zu einem automatischen Abbau der Binnenzölle kommen. Die Handelsliberalisierung fördert jedoch statt der „Koordination der Politik“ einen wahren Wettbewerbskrieg. Die Regierungen bauen zwar Zölle ab, führen gleichzeitig aber neue nicht-tarifäre Hindernisse. Und völlig unabhängig voneinander haben sie ihre Eingliederung in den internationalen Markt vorgenommen. Dies geschieht durch bilaterale Abkommen mit wichtigen Handelspartnern außerhalb Südamerikas, denen etwa günstigere Zölle für Importe eingeräumt wurden. Diese Situation führte zu festgefahrenen Verhandlungen beim gemeinsamen Außenzoll für einige sensible Wirtschaftsbereiche. Das Ende dieses Prozesses wurde hinausgeschoben. Eine Zollunion ist jetzt erst nach dem Jahr 2000 vorgesehen.

Soziale Rechte wurden hintangestellt

Die Zollunion ist für die Bildung eines zukünftigen Gemeinsamen Marktes fundamental. Denn für einen Binnenmarkt ist außerordentlich wichtig, daß einheitliche Regeln gegenüber Drittmärkten bestehen: vor allem ein gemeinsamer Außenzoll und eine Regelung über den Ursprung der Waren, das heißt eine Garantie, daß nur die im gemeinsamen Binnenmarkt produzierten Waren ohne jegliche Handelsbeschränkungen ausgetauscht werden können. Wenn die Entscheidung für eine Freihandelszone im Jahr 1995 aufrecht erhalten wird – mit all den Unbestimmtheiten, wie der MERCOSUR sich gegenüber Drittmärkten verhalten soll – kann dies die Entwicklung im derzeitigen Zustand lähmen. Das heißt, die kleineren Länder werden sich wahrscheinlich in „Zwischenhändler“ verwandeln. Die Zahl der „Maquiladoras“ (Teilfertigungsfabriken) in der Region wird wachsen (angesichts fehlender Kriterien über das Ursprungsland). Negative Wirkungen werden vor allen Dingen für Brasilien erwartet.

Die sozialen Probleme sind gewachsen. Das ist eine Folge der Neustrukturierung, die die Unternehmen durchführen, um sich dem „Handelskrieg“ und der Wirtschaftsliberalisierung in der Region zu stellen. Außerdem drücken die Unternehmen die Löhne und beschneiden die Rechte der Beschäftigten mit dem Argument, die Produktionskosten müßten gesenkt werden, um wettbewerbsfähige Produkte herstellen zu können. Das ist die Position, die in der Untergruppe für Arbeitsbeziehungen, Beschäftigung und soziale Sicherheit bei den Vertragsverhandlungen vorgeherrscht hat. Mobilität und Verfügbarkeit von Arbeitskräften und niedrige Löhne wurden zu Schlüsselbegriffen in den Diskussionen. Heute jedoch sehen wir bereits, wie sich die Arbeitsbedingunngen entwickeln. Brasilianer*innen beispielsweise wandern nach Argentinien oder Uruguay, um dort im Baugewerbe und im Fernmeldewesen Jobs zu übernehmen, für die sie erheblich weniger Geld bekommen als die heimischen Beschäftigten.

Gemeinsamer Binnenmarkt in dieser Form führt zu „Sozialdumping“

Brasilianische Unternehmen können sich gegen Konkurrenten in den Nachbarländern häufig durchsetzen und lukrative Aufträge ergattern, weil sie den Arbeiter*innen niedrigere Löhne zahlen. Wir nennen das „Sozialdumping“. Es bestraft die brasilianischen Arbeiter*innen und bringt sie in eine unwürdige Situation. Den Uruguayer*innen und Argentinier*innen wird Arbeit weggenommen. Wir haben diese Situation gegenüber der Regierung angeklagt und bis jetzt ist nichts Konkretes unternommen worden. Im Gegenteil: Der Außenminister Celso Amorim wies die Forderung der CUT zurück, die Arbeitsrechte in den Verhandlungen der Welthandelsorganisation (OMC) zu berücksichtigen (die OMC soll als Nachfolgeorganisation des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) demnächst auf einem Treffen in Marrokko gegründet werden; die Red.). Er meinte, dies sei eine Manipulation der Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Sie wollten die „komparativen Vorteile der Entwicklungsländer annullieren, die durch notwendigerweise geringere Einkommensniveaus als in den entwickelten Ländern unterstützt werden“. Der Minister erkannte an, daß die Lage der brasilianischen Arbeiter*innen schlecht sei. Die Wettbewerbsfähigkeit brasilianischer Produkte müsse sich jedoch auf die grössere Ausbeutung der Arbeitskraft stützen, argumentierte der Minister in verblüffender Offenheit. Die Gewerkschaftszentralen (aller vier MERCOSUR-Länder) haben eine Charta der Sozialrechte formuliert. Darin verteidigten sie die Garantie der grundlegenden individuellen und kollektiven Sozialrechte sowie die Gleichbehandlung aller Bürger*innen in allen Ländern des MERCOSUR. Wir fordern ebenfalls, daß die Einhaltung dieser Rechte auf supranationaler Ebene kontrolliert wird. Der brasilianische Außenminister ist dagegen. Er meint, dies führe zu einem Verlust nationaler Autonomie. Wir sind der Ansicht, daß die Charta überhaupt keine Wirkung haben kann, wenn die Regeln nicht überwacht werden. Wie wird die Übergangsperiode aussehen? Dieses Jahr müssen die Regierungen die Grundlagen für eine neue Übergangsperiode legen. Die Frage ist, ob es erneut eine Entscheidung nur auf Regierungsebene wird oder ob die Gesellschaft bei dieser Gelegenheit gehört wird. Wir sind der Auffassung: Der Vertrag muß überprüft werden. Die bisher verfolgte Strategie muß sich ändern. Der MERCOSUR muß die Neustrukturisierung und die Spezialisierung bestimmter Wirtschaftsbereiche fördern und ein regionales Gleichgewicht herstellen. Er muß ein Instrument sein, das den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen sowie zu Beschäftigungsmöglichkeiten erleichtert. Ein Instrument, das zu einem gemeinschaftlichen und demokratischen Bewußtsein beiträgt.

KUBA

Wahrheiten und Lügen über die Auswanderung

– von Ulises Canales

(Havanna, 5. Juli 1994, prensa latina-POONAL).- Als im Mai und Juni etwa 150 Personen die Residenz des belgischen Botschafters, die diplomatische Vertretung Deutschlands und das chilenische Konsulat besetzten, war für ausländische Medien, besonders die nordamerikanischen, klar: Der einzige Grund liegt in der schwierigen Situation der Insel. Aber sie vermieden, die andere Seite der Medaille zu nennen: die zunehmende Ablehnung von Visa- Antragsteller*innen durch die Nordamerikanische Interessenvertretung (SINA) in Havanna. Das traditionell wichtigste Auswanderungsziel der Cubaner*innen sind die USA. Die Mehrheit der Besetzer*innen erklärte ihren Wunsch, Visa für die USA zu bekommen und nicht für die von der Besetzung betroffenen Länder. Aus nationalen Gründen beschneiden die USA die Möglichkeit, auf dem „normalen Weg“ einzureisen wollen. In der Nähe der SINA warten hunderte Personen auf eine positive Antwort, damit sie sich mit den Verwanten in den USA treffen können. Sie drücken ihre Unzufriedenheit mit der übergroßen Visa- Verweigerung aus, die ihren Angaben nach in den letzten Monaten zugenommen hat. Viele haben bereits die Zustimmung Cubas, das Land verlassen zu können. Nach dem von Havanna und Washington im Dezember 1984 unterschriebenen Auswanderungsabkommen müssen die USA jährlich 20.000 cubanischen Bürger*innen bevorzugt Einreisevisa ausstellen. Insbesondere für direkte Familienangehörige von US-Bürger*innen und für Familienangehörige von in den USA wohnenden Cubaner*innen. Statistiken der cubanischen Behörden besagen, daß die USA 1993 nur einigen tausend Cubaner*innen die Einreise erlaubte. 100.000 Bürger*innen genehmigte Cuba im vergangenen Jahr eine befristete Ausreise. Das Land setzte das Mindestalter zudem auf 20 Jahre herab und erlaubte, den Auflandsaufenthalt bis zu einem halben Jahr zu verlängern. Von diesen Personen bekamen jedoch nur 30.000 ein US-Visum, in der Mehrheit Menschen, die älter als 40 Jahre waren. Das Glück, die Einreiseerlaubnis in das gelobte Land zu bekommen, bleibt vor allem Jüngeren versagt. Diesen Eindruck bestätigen auch die Aussagen jener Cubaner*innen, die im „Park der Klagen“ in der Nähe der nordamerikanischen Interessenvertretung auf die Entscheidung über ihren Antrag warten. Wer kein Visum bekommt, muß ein Jahr warten, bevor er einen neuen Antrag stellen darf. „Viele Leute verzweifeln deshalb und versuchen, mit dem Boot die nordamerikanische Küste zu erreichen. Das machen vor allem junge Leute“, sagt ein 24jähriger Arbeiter im Park der Klagen. Diesen gefährlichen Weg wählen jene, die um jeden Preis das Land verlassen wollen, aber kein US-Visum erhalten. Viele Antragsteller denken indes gar nicht daran, sich in den USA niederzulassen. „Viele wollen lediglich ihre Verwandten besuchen. Sie denken gar nicht daran, das Land für immer zu verlassen“, sagt ein Antragsteller.

HONDURAS

Die ersten 100 Tage des neuen Präsidenten

(Honduras, 30. Mai 1994, alai-POONAL).- Der mit Spannung erwartete erste Regierungsbericht des honduranischen Präsidenten Carlos Roberto Reina erfüllte nicht alle Erwartungen. Die Expert*innen kommentierten, er habe den Erklärungen nach der Regierungsübernahme wenig Neues hinzugefügt. Dennoch erreichte Reina mit seinem Auftritt, ein neuues Hoffnungszeichen zu geben, um das Land aus seiner wachsenden Misere herauszuführen. Es gelang ihm nur in geringem Maße, das Bild der „Langsamkeit“ zu revidieren, das seine Regierung von Anfang an charakterisiert hat. Reina versicherte, jede getroffene Entscheidung sei ernsthaft geprüft worden, damit die bemitleidenswerte Finanzsituation des Staates verbessert werden könne. Er machte die vorherige Regierung und deren Fehlgriffe dafür verantwortlich. Seine Aktion gegen die Korruption, Hauptzielscheibe der versprochenen „moralischen Revolution“ hatte immerhin positive Wirkungen. Die Bürger*innen erwarten allerdings einen konkreteren Beweis: die Namen der korrupten Funktionär*innen sollen veröffentlicht werden und gerichtliche Ermittlungen eingeleitet werden. Reina sagte: „Es gibt gerade mal eine Basis für die Regierungsarbeit. In dieser Amtperiode soll es keine illegalen Handlungen geben und auch keine Begünstigung von öffentlichen Angestellten oder – näherliegend – der politischen Klientel.“

Angekündigte „moralische Revolution“ bislang lediglich ein Phrase

Es liegt jetzt in der Verantwortung der „Kommission für Vorsorge und Kampf gegen die Korruption“ (sie ist aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft zusammengesetzt), bald die ersten Ergebnisse zu präsentieren. So könnte die Regierung Glaubwürdigkeit gewinnen, andernfalls droht die versprochene „moralische Revolution“ als leeres Geschwätz entlarvt zu werden. Noch düsterer sind hingegen die Aussichten der Regierung, ihre Popularität durch wirtschaftspolitische Erfolge zu steigern. Auf kurze Sicht deuten sich keine Auswege aus der Misere an. Reina hat „grausame Notwendigkeit“ betont, strenge Korrekturmaßnahmen zu ergreifen. Sie betreffen die „Finanzdaten des öffentlichen Haushalts, das Zahlungsbilanzdefizit, die Bezahlung der Auslandsschuld, die Handhabung der Preiskontrolle und die Reduzierung der öffentlichen Schuld“. Der Rückgang sogar der Produktion für den heimischen Konsum, die unaufhaltsame Abwertung der Lempira (honduranische Währung), die fehlende interne Ersparnis, der Kollaps der Energieversorgung, der Preisdruck, das sind einige Faktoren, die die Inflation in den ersten 100 Tagen der neuen Regierung angeheizt haben. Gleichzeitig nahmen auch die sozialen Proteste zu, da die Regierung ein überzeugendes Konzept bbislang vermissen ließ. Das Land war Schauplatz von Arbeitsniederlegungen, Fabrikbesetzungen, Landbesetzungen in den Städten, Konfrontationen zwischen Zivilist*innen und Militärfunktionären. In der Öffentlichkeit hat sich der Begriff „soziale Zerrüttung“ eingebürgert, um die innenpolitische Lage in Honduras zu beschreiben.

Düstere wirtschaftliche Aussichten

Der Präsident nannte Zahlen zur chaotischen Wirtschaftslage: „Das noch nicht korrigierte Haushaltsdefizit für 1994 übersteigt 2,7 Milliarden Lempiras, das sind mehr als 11 Prozent des Bruttosozialproduktes. Ende Januar dieses Jahres gab es bei der Auslandsschuld einen Zahlungsverzug in Höhe von 143 Millionen Dollar.“ Die Auslandsschuld frißt mehr als 35 Prozent der Exporterlöse auf und macht mehr als 30 Prozent des Staatshaushaltes aus. Carlos Roberto Reina versicherte, die geerbten Lasten hätten seine Regierung „verpflichtet, neue Maßnahmen zu ergreifen.“ Nach Meinung vieler sind die im Präsidentenbericht aufgezählten Gründe für die kritische Wirtschaftssituation nicht weit von der Realität entfernt, aber auch schon seit längerem bekannt. Den Bürger*innen die altbekannten Gründe dafür zu nennen, warum es ihnen schlecht geht, ist ein etwas dürftiges Regierungsprogramm. Sie wollen Vorschläge hören, die ihnen Hoffnungen machen – bislang konnte Regierungschef Reina damit nicht aufwarten.

LATEINAMERIKA

Abtreibung, ein offenes Geheimnis auf dem Kontinent

– von Zoraida Portillo

(Lima, 20. Juni 1994, sem-POONAL).- Sieben von zehn schwangeren Frauen in Lateinamerika haben schon einmal heimlich abgetrieben. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die gleichzeitig in Brasilien, Kolumbien, Chile, der Dominikanischen Republik, Mexiko und Peru durchgeführt wurde. Allein in diesen sechs Ländern wird die Zahl der jährlichen Abtreibungen auf insgesamt 2,8 Millionen geschätzt. Die Untersuchung leitete das Allan Guttmacher Institut aus den USA mit Hilfe von bekannten Sozialforscher*innen aus jedem der erwähnten Länder. Sie zeigt: Die heimliche Abtreibung ist nach wie vor die gebräuchliste Methode in Lateinamerika bei der Geburtenreglung. Die Studie hat denn auch den Titel: „Heimliche Abtreibung: eine lateinamerikanische Realität“. Gemäß der Ergebnisse ist der Anteil der abtreibenden Frauen bei den Chileninnen am größten (35 Prozent). An zweiter Stelle kommen die Brasilianerinnen (31 Prozent) und die Peruanerinnen (30 Prozent). Es folgen die Dominikanerinnen und die Kolumbianerinnen (28 bzw. 26 Prozent). Unter den sechs Ländern hat Mexiko die niedrigste Abtreibungsrate: 17 Prozent. Die Abtreibung ist in allen Ländern der Region durch gültige Gesetze verboten. Die einzige Ausnahme bildet Cuba. Das hindert die Frauen nicht daran, zu verzweifelten Maßnahmen zu greifen, um abzutreiben und so ihre Gesundheit zu riskieren. In Peru ist die heimliche Abtreibung der häufigste Grund für die Müttersterblichkeit. Die angewendeten Methoden, um die Schwangerschaft zu unterbrechen, reichen von modernen und sicheren Verfahrensweisen bis hin zur Einführung aller Arten von Instrumenten in die Vagina, um eine Blutung zu provozieren. Die Studie basiert auf drei Informationsquellen: Die erste besteht in der Analyse der Volks- und Gesundheitsumfragen, die jüngst in den Ländern (mit Ausnahme Chiles) durchgeführt wurden. Eine zweite Quelle ist die Befragung von 200 Berufstätigen in jedem der sechs Länder. Diese Gruppe setzte sich aus Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen, Hebammen, Psycholog*innen, Priestern, Antropolog*innen, Geburtshelfer*innen und anderen Personen, die aufgrund ihrer Arbeit mit heimlichen Abtreibungen zu tun haben, zusammen. Schließlich zogen die Forscher*innen die offiziellen Statistiken zurate, die über den Krankenhausaufenthalt von Frauen aufgrund von Komplikationen bei Abtreibungen informieren. Im Abschlußbericht heißt es: „Deswegen gibt das Dokument nicht direkt die Erfahrung der Frauen wieder. Dagegen reflektiert es die Meinungen der Interviewten über die Bedeutung dieser Erfahrung.“

Frauen lassen sich von Partnern mißhandeln, um Abtreibung zu provozieren

Die Untersuchung geht davon aus, daß zwei Fünftel der Frauen spezialisierte Dienste benötigen (Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen oder ausgebildete Geburtshelfer*innen). Aber es sind die kolumbianischen, dominikanischen und mexikanischen Frauen in den städtischen Armutszonen, die im Vergleich zu den anderen Ländern der Region die besten Möglichkeiten haben, diese Art der Versorgung zu erhalten. In Peru dagegen ist es eine sehr geläufige Methode, daß die Frauen selbst den Partnern erlauben, sie in den Bauch zu treten, um eine Abtreibung hervorzurufen. „Manchmal geschieht das auch ohne ihre Zustimmung“, erzählt Delicia Ferrando. Sie ist eine bekannte Psychologin, die für die Studie in Peru verantwortlich war. Im Frauenkommissariat der Polizei in Lima gibt es verschiedene Anklagen schwangerer Frauen. Sie wurden von ihren Partnern mißhandelt, „offensichtlich, um eine Abtreibung zu provozieren“, so heißt es in den Polizeiberichten. Eine Abtreibung unter solch tragischen Umständen endet zum größten Teil in Notfallsituationen, so die Studie. Schätzungsweise 800.000 Frauen erleiden demnach Komplikationen nach einer heimlichen Abtreibung. Die in den sechs Ländern interviewten Personen erklären: durchschnittlich 50 bis 60 Prozent der abtreibenden Frauen haben erfahrungsgemäß Probleme, die eine Notfallbehandlung erfordern. Der Bericht weist auf einen noch erschütternderen Fakt hin: auch wenn sie von spezialisiertem Personal behandelt werden, ist das Komplikationsrisiko bei armen Frauen offensichtlich größer als bei Frauen mit hohem Einkommen. Die Befragten machen verschiedene Elemente dafür verantwortlich: ihr prekärer Gesundheitszustand – im allgemeinen leiden sie an Blutarmut und Unterernährung – kann durch vorherige Abtreibungsversuche mit traditionellen Methoden geschwächt sein. Zudem setzen sich die Frauen durch die unhygienischen Bedingungen einem größeren Risiko aus. Gleichzeitig hat das spezialisierte Personal, das in den Schichten mit niedrigem Einkommen arbeitet, eine schlechtere Ausbildung. Erschwerend kommt hinzu, daß die armen Frauen im Vergleich zu den besserverdienenden erst abtreiben lassen, wenn die Schwangerschaft schon fortgeschritten ist. Eine weitere Realität wird in der Untersuchung sichtbar: Etwa 16 Millionen Frauen in den ausgewählten Ländern schützen sich gar nicht oder schlecht gegen ungewünschte Schwangerschaften. Das sind fast 35 Prozent der Frauen zwischen 15 und 44 Jahren. „Es wirft also eine entscheidende Frage auf“, sagt die Psychologin Ferrando. „Wie reduziert sich die Kinderzahl pro Familie, sowohl in Peru als auch in anderen lateinamerikanischen Ländern, wenn die Zahl der Verhütungsmittel gebrauchenden Frauen so gering ist?“ Sie selbst gibt die Antwort: „Durch die Abtreibung, diesen umstrittenen, unterdrückten Geburtenregler, der aber gleichzeitig durch die Gesellschaft gefördert wird.“

Peru: 40 % der Schwangerschaften enden mit einer Abtreibung

Der Abschlußbericht empfiehlt unter anderem, die Politiken und Programme zur Familienplanung zu überprüfen, offenere Einstellungen gegenüber der Sexualität und der Familienplanung zu fördern und die Sexualerziehung in der Schule und in der Gemeinde zu verbessern. Er spricht sich ebenfalls für mehr Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten für die Frauen aus. Es sollten verschiedene Verhütungsmethoden angeboten werden. Die Angebote der Familieplanung müßten mehr auf die Bedürfnisse und die Sorgen der Frauen eingehen und die Verantwortung für die Verhütung gleichmässig zwischen Männer und Frauen aufteilen. Im peruanischen Fall, wie in dem vieler lateinamerikanischer Länder verbietet die Verfassung ausdrücklich die Abtreibung. Sie betrachtet das ungeborene Kind als Rechtssubjekt. Dies verhindert aber nicht, daß laut der Studie im vergangenen Jahr 40 Prozent der Schwangerschaften in Peru mit einer Abtreibung endeten.

GUATEMALA/MEXICO

PRI-Propaganda in Guatemala-Stadt

(Guatemala-Stadt, 7. Juli 1994, cerigua-POONAL).- Zwischen den Plakaten mit den Köpfen der Kandidat*innen für den guatemaltekischen Kongreß hing in den letzten Tagen ein in der Hauptstadt unbekanntes Gesicht: es war das Konterfei von Ernesto Zedillo, dem Präsidentschaftskandidaten der in Mexiko regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution. Die Tageszeitung „La República“ informierte darüber, daß die PRI-Propaganda in der Umgebung der Verkehrsader „Calzada Roosevelt“ und der als „El Trebol“ (das Kleeblatt) bekannten Kreuzung aufgehängt wurde. Laut La República glaubte ein Teil der Bevölkerung, es handele sich um bei der PRI um eine neue Partei, die an den Kongreßwahlen am 14. August teilnehmen würde.

GUATEMALA

Paramilitärs entfernen illegal Gebeine von geheimen Friedhöfen

(Guatemala, 7. Juli 1994, cerigua-POONAL).- Paramilitärs entfernten menschliche Gebeine von kürzlich entdeckten geheimen Friedhöfen im Norden des Landes. Ziel war es offensichtlich, Beweise für die Anfang der 80er Jahre begangenen Massaker zu vernichten. Im Kanton Xococ, in der Provinz Baja Verapaz, klagte die Gruppe für gegenseitige Hilfe von Familienangehörigen Verhafteter und Verschwundener (GAM) 28 Mitglieder der paramilitärischen Zivilpatrouillen (PAC) an, für die illegale Entfernung der Gebeine verantwortlich zu sein. Der geheime Friedhof in Xococ gehört zu den jüngst entdeckten Massengräbern bei dem Ort Plan de Sanchez. Dort sind seit vergangenem Monat von ausländischen und nationalen Expert*innen 90 menschliche Skelette ausgegraben worden. Sie stammen von einem Massaker, das die Zivilpatrouillen und Soldaten im Juli 1982 an der Bevölkerung des Ortes begingen. Der Menschenrechtsbeauftragte Jorge García informierte, bisher seien erst fünf Skelette identifiziert worden. Im Moment würden die Arbeiten ruhen, im November dieses Jahr unter Anwesenheit eines Teams von Anthropolog*innen aber wieder aufgenommen. Die Expert*innen gehen davon aus, etwas 200 weitere Skelette zu finden.

Demonstran*innen fordern UNO als Beobachter

– von Fernando Mejía

(Mexiko-Stadt, 7. Juli 1994, NG-POONAL).- Am 7. Juli forderten etwa 10.000 Menschen vor dem Sitz der UNO in Guatemala-Stadt, die vereinbarte Internationale Überprüfungskommission einzusetzen. Sie soll sich mit der aktuellen Situation der Menschenrechte befassen. Von der guatemaltekischen Regierung verlangten die Demonstrant*innen, das mit der Guerilla am 29. März unterzeichnete Menschenrechtsabkommen zu erfüllen. Viele Mitglieder des Komitees für BäuerInneneinheit (CUC) und der Nationalen Koordination der Witwen Guatemalas (CONAVIGUA) waren aus verschiedenen Regionen des Landes – zum Teil in Fußmärschen – zu der Veranstaltung gekommen. Die UNO hatte zwei Wochen nach dem März-Abkommen eine Mission nach Guatemala geschickt, um die logistischen Bedingungen für die Internationale Überprüfungskommission zu untersuchen. Über diesen ersten Schritt hinaus hat sie jedoch nicht konkretes unternommen. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß die UNO ihre Verpflichtung innerhalb des Abkommens schnell erfüllen wird. Die Bevölkerung fordert die Anwesenheit der UNO aus verschiedenen Gründen. Der dringenste besteht in den systematischen Menschenrechtsverletzungen, die nicht kontrolliert werden können. Außerdem sieht sie mit Besorgnis, wie die Regierungsseite das Abkommen nicht erfüllt. Damit erscheint das Schicksal zukünftig unterschriebener Vereinbarungen ungewiß. Der Friedensprozeß steht so vor mehreren Herausforderungen. Zum einen gibt es die Regierungstendenz, auf die Unterzeichnung von Abkommen zu drängen, die Erfüllung danach aber zu verschieben. Zum anderen werden die wesentlichen Inhalte oberflächlich behandelt. Ein Beispiel ist die Wahrheitskommission. Ihr Inhalt ist von den Forderungen der Zivilgesellschaft weit entfernt. Das nächste Verhandlungsthema wird die „Identität und Rechte der Indígenavölker“ sein. Die Regierung hat bereits zu verstehen gegeben, auf die wesentlichen Forderungen der Mayavölker nicht eingehen zu wollen. Ihre Einstellung ist durch eine „technische“ Behandlung des Themas gekennzeichnet. Die Empörung der Mehrheit der Guatemaltek*innen wächst. Am Ende kann dies einen Stillstand der Verhandlungen bedeuten. Der Weg zum Frieden in Guatemala ist mit Hindernissen gespickt.

Regierung will nicht über Indígena-Autonomie reden

(Guatemala, 7. Juli 1994, cerigua-POONAL).- Der Chef der Regierungsdelegation bei den Friedensverhandlungen mit der Guerilla, Héctor Rosada, hat sich gegen die Automieforderung der Mayavölker ausgesprochen. Auch erteilte er der Möglichkeit eine Absage, ein entsprechendes Gesetz zugunsten der Mayavölker (der Mehrheit der Bevölkerung) zu verabschieden, damit diese ihre eigenen Autoritäten wählen können. Dies würde zu unnötigen Konflikten im Land führen, so der Chef der Regierungsdelegation. Die Indígena-Bevölkerung, die sich aus 22 ethnischen Gruppen zusammensetzt, kämpft über die Versammlung der Zivilen Gesellschaftsgruppen (ASC) dafür, daß ihre Position am Verhandlungstisch diskutiert wird. Die Indígena-Bevölkerung fordert das Recht auf regionale Autonomie. Das Thema der nächsten Gesprächsrunde zwischen Regierung, Militär und Guerilla heißt „“Identität und Rechte der Mayavölker“. Ein Termin steht allerdings noch nicht fest. Die Marschroute gab Rosada bereits vor, indem er auf den Streit um die Wahrheitskommission als Beispiel verwies. Diese sei von einer politischen Perspektive aus verhandelt worden und nicht davon ausgehend, was „alle zivilen Gesellschaftsbereiche wollten“.

CC BY-SA 4.0 Poonal Nr. 151 von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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