Poonal Nr. 140

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 140 vom 25.04.1994

Inhalt


GUATEMALA

PERU

KUBA

BRASILIEN

HAITI

PARAGUAY

NICARAGUA


GUATEMALA

Gewaltsame Landvertreibung

(Guatemala, 21. April 1994, cerigua-POONAL).- Wenige Tage bevor die UNO-Mission in Guatemala eintrifft, um das Ende März unterzeichnete Menschenrechtsabkommen zu überprüfen, räumten Sicherheitskräfte gewaltsam eine besetzte Finca in der südlichen Provinz Retalhuleu. Wie das „Zentrum für Forschung und Volksbildung“ (CIEP) mitteilte, gingen Polizeikräfte so brutal vor, daß von den 200 Bauern und Bäuerinnen, die die Finca Olga María besetzten, 65 verletzt wurden. 45 Personen wurden verhaftet, darunter fünf Frauen und drei Minderjährige. Das Verfassungsgericht hatte kurz vorher die Besetzung für unrechtmäßig erklärt.

Angben des CIEP zufolge, sind die Bauern und Bäuerinnen die rechtmäßigen Besitzer*innen des Landes. Die Einheit für Gewerkschafts- und Volksaktionen (UASP) und andere soziale Gruppen verurteilten energisch die Räumungsentscheidung der Regierung De León Carpio. Sie bezeichneten die Entscheidung als eine Verletzung der Menschenrechte. Es ist bereits das zweite Mal, daß der guatemaltekische Staat gegen die Bauern und Bäuerinnen auf der Finca Olga María vorgeht. Schon im März 1991 räumten Aufstandsbekämpfungseinheiten auf Befehl des damaligen Präsidenten Jorge Serrano Elias. Damals starb die Bäuerin Maria del Carmen Anavisca. Der Innenminister Danilo Parrinello drohte unterdessen der Bevölkerung mit neuen Gewaltaktionen, falls weiteres Land besetzt werde.

Wieder geheime Massengräber entdeckt

(Guatemala-Stadt, 19. April 1994, cerigua-POONAL).- Im Norden Guatemalas wurde ein geheimer Friedhof mit den Überresten von etwa 300 vor einem Jahrzehnt ermordeten Personen gefunden. Dies teilte am 19. April 1994 die EAFG (Equipo de Antropología Forense de Guatemala) mit, eine Institution, die mit der Ausgrabung und Untersuchung der Leichen beauftragt ist. Die EAFG wird die Exhumierungen der offengelegten Gräber auf dem Besitz der Fincas „Plan Sanchez“ und „Pacanal“ in dem Kreis Rabinal, Provinz Baja Verzapaz in der ersten Maiwoche beginnen.

Fredy Ochaeta, der Direktor der Pastoralabteilung von Cobán, Hauptstadt der benachbarten Provinz Alta Verapaz, teilte mit, daß die Exhumierungen fast zwei Monate dauern werden. Die Überreste sollen identifiziert werden. Außerdem soll die Todesart festgestellt werden. Gleichzeitig werden die Überreste von 176 Personen, in der Mehrheit Frauen und Kinder, die aus geheimen Friedhöfen in dem Kreis Río Negro, Baja Verapaz, exhumiert wurden, am 24. April erneut begraben. Laut Ochaete machen die Bewohner*innen des Gebietes die paramilitärischen Zivilpatrouillen (PAC), unter Anleitung der Armee , für das Massaker von Rio Negro verantwortlich.

1994 und 1995 kehren 20.000 Flüchtlinge zurück

(Mexiko-Stadt, 20. April 1994, cerigua-POONAL).- Die Ständigen Kommissionen (CCPP) der guatemaltekischen Flüchtlinge in Mexiko kündigten am 20. April 1994 an, daß im Laufe dieses und des nächsten Jahres 20.000 Flüchtlinge in ihr Heimatland zurückkehren werden. Gleichzeitig beschuldigten sie den guatemaltekischen Präsidenten, die die Rückkehr betreffenden Abkommen nicht einzuhalten.

Juan Ixcatoyac von den CCPP versicherte, die nächsten Rückkehrbewegungen würden organisiert. Im Falle der Flüchtlinge die in den Norden Guatemalas kommen, gäbe es eine Abmachung mit den Behörden, daß fünf Fincas und mehrere Grundstücke für die Wiederansiedlung in der Provinz Alta Verapaz gekauft werden. Die CCPP, die für die Heimkehrer*innen in den südlichen Teil des Landes sprechen, klagten dagegen, die Regierung von León Carpio an. Grund: Sie wehre sich gegen den Kauf der Finca San Cayetano an der Südküste Guatemalas. Dort ist die Wiederansiedlung von 600 Flüchtlingen vorgesehen.

Der Vertreter des Flüchtlingskomissariates der Vereinten Nationen (ACNUR) in Mexiko, Luis Varesse Soto, bekräftigte, die Rücksiedlung werde mit der Übersiedlung von 2.000 Menschen aus den Lagern Santa María Tzejá und Mayalam am 25. April fortgeführt. Das Ziel der Flüchtlinge ist die Region Ixcán in der Provinz Quiché. Am 10. und am 18. Mai sind weitere Rückkehrkarawanen geplant. Basilio Domingo Ross von den CCPP erklärte, von den 43.000 im Südosten Mexikos wartenden, anerkannten Flüchtlingen hätten 70 Prozent ihre Entscheidung, zurückzugehen bekräftigt; 15 Prozent wollten die mexikanische Staatsbürgerschaft annehmen. Der Rest warte auf bessere Sicherheitsbedingungen in Guatemala.

Höhere Steuerbelastungen für die gesamte Bevölkerung?

(Guatemala-Stadt, 21. April 1994, cerigua-POONAL).- Präsident Ramiro De León Carpio kündigte am 20. April 1994 während einer landesweit in Radio und Fernsehen übertragenen Ansprache neue Wirtschaftsanpassungsmaßnahmen an, falls der Kongreß sich einer Steuerreform widersetze. De León Carpio wies auf die schwierige finanzielle Lage des Staates hin. Steuerflucht und fehlende Steuerzahlungen hätten den öffentlichen Haushalts in eine problematische Situation gebracht.

Der Präsident forderte die Steuerzahler*innen auf, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Er konkretisierte jedoch keine Forderung an die Unternehmer*innen, die nach der Einheitsinstanz der Staatsbediensteten (IUTE) die größten Steuerflüchtlinge sind. Falls die Reform nicht verabschiedet werde, so der Präsident, „sehe ich mich verpflichtet, andere Maßnahmen zu ergreifen, die das Problem zeitweilig lösen würden. Aber dies könnte Inflation bedeuten und somit Schaden für die ganze guatemaltekische Nation bedeuten“.

Erste Sitzung der Versammlung der Zivilen Gesellschaftsgruppen

(Guatemala-Stadt, 20. April 1994, cerigua-POONAL).- Am 19. April 1994 fand die erste Sitzung der Versammlung der Zivilen Gesellschaftsgruppen (ASC) in Guatemala statt. Den Vorsitz führte Bischof Rodolfo Quezada Toruño, der ehemalige Vermittler in den Friedensverhandlungen zwischen Regierung, Militär und Guerilla. Der Privatsektor und die politischen Parteien nahmen an der ersten Sitzung nicht teil.

Die Versammlung soll die Ergebnisse der Gespräche zwischen den kriegführenden Parteien diskutieren und einen gesellschaftlichen Konsens finden. Die Beschlüsse und Erklärungen der ASC haben jedoch keinen bindenden Charakter. Fast gleichzeitig zur Eröffnung der Versammlung kursierte das Gerücht einer Militäraktion gegen den guatemaltekischen Präsidenten, das vom Verteidigungsminister General Mario Enríquez dementiert wurde. Nach Presseberichten informierte ein Telefonanruf die Zeitungsredaktionen über eine angebliche Erhebung in fünf Militärbasen.

PERU

Armee führt Offensive gegen eine ganze Region

(Lima, 22. April 1994, POONAL).- Das peruanische Militär hat im Gebiet des Huallaga-Flusses eine Offensive begonnen, bei der nach Zeugenaussagen „jegliche Spur von Leben ausgelöscht wird“. Die Militäraktion dient angeblich dazu, die Reste der Guerillaorganisation „Leuchtender Pfad“ (Sendero Luminoso) zu zerschlagen. Seit dem 21. April wird sowohl dem Internationalen Roten Kreuz als auch Nicht-Regierungsorganisationen und Journalist*innen der Zugang zu der Region verwehrt.

Seit Beginn der Offensive am 5. April, flieht die Zivilbevölkerung aus den Urwaldzonen im Norden Perus. Ernesto de la Jara, Direktor des „Institutes für die gesetzliche Verteidigung“ erklärte, er habe „schreckliche, schaurige“ Zeugenaussagen erhalten. Nichtoffizielle Quellen berichten über den Tod Dutzender Zivilist*innen, die ausnahmslos von der Armee angegriffen wurden. Die Operation werde von mit Artillerie bestückten Hubschraubern unterstützt. Das politisch-militärische Kommando der Huallaga- Front leugnete mehrfach Bombardierungen der Zivilbevölkerung. Die Helikopter würden nur als Transportmittel eingesetzt.

Laut de la Jara „scheint die Armee die gesamte Zivilbevölkerung dieser Region als subversiv anzusehen, wie ihr Kommuniqué mitteilt. Darin heißt es, daß fast 4.000 Terroristen sich ergeben haben oder sich dem Kapitulationsgesetz unterwerfen wollen. Die Zahl muß nahe an der gesamten Bevölkerungszahl dieser fast unbewohnten Gegenden liegen“.

KUBA

Bevölkerung vergreist

– Von Carmen Gonzalez Hernandez

(Havanna, April 1994, Prensa Latina-POONAL).- Die Rückgang der Geburtenrate führt in Kuba zu der Situation, daß die kubanische Bevölkerung im Durchschnitt älter wird und die demografische Entwicklung sich der der entwickelten Länder angleicht.

Das kubanische Institut für statistische Forschungen, rechnet für den Beginn des nächsten Jahrtausends mit 11,5 Millionen Einwohner*innen, die Mehrheit davon Frauen: „Im Jahr 2020 werden knapp 30 Prozent der Kubaner*innen 60 Jahre und älter sein. Damit nähert sich das Land beispielsweise Schweden an. Dort lag die Prozentzahl der Menschen über 60 Jahren vor zwei Jahren bei 22,8 Prozent“, sagt Dr. Raul Hernandez. Der Dozent des Kubanischen Zentrums für Bevölkerungsstudien weist darauf hin, daß Kuba eines der wenigen Länder in Lateinamerika ist, in dem der Prozeß der „demografischen Revolution“ schon früh begann.

Die erste (Übergangs-)Etappe fällt, so der Wissenschaftler, in die ersten drei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts. „Zwischen 1902 und 1928 investierten die USA etwa 1,5 Millarden Dollar auf der Insel. Der daraufhin einsetzende Einwanderungsstrom, ersetzte die fehlenden Arbeitskräfte“, erklärt Hernandez. Die Statistiken dieser Zeit belegen, daß ungefähr 750.000 Spanier*innen und 250.000 Haitianer*innen, Jamaikaner*innen und Puertorikaner*innen in dieser Epoche auf die Insel gelangten. Das veränderte die Alters- und Geschlechterstruktur, denn die Immigrant*innen waren in der Mehrheit alleinstehende Männer im arbeitsfähigen Alter. Parallel dazu wirkten sich – so der Bevölkerungsexperte – der hohe Grad der Urbanisierung und die relativen Fortschritte im Bildungsbereich auf die sinkende Geburtenrate aus.

In der zweiten Etappe, in den 40er und 50er Jahren, entwickelte sich Kuba zu einem Auswanderungsland. Hauptgrund war die schwierige wirtschaftliche Situation. Später, mit der neuen Regierung ab 1959 intensivierte sich eine weitere Emigrationsbewegung mit wirtschaftlichem und politischem Charakter. Zuletzt kam die schwindelerregende Erhöhung der Lebenserwartung hinzu. In dieser Periode gab es die ersten Anzeichen für ein Veraltern der Bevölkerung.

Nur Immigrant*innen trugen zur Wachstumsrate bei

In einer detallierten Analyse zeigt Hernandez, daß die kubanische Bevölkerung stets eine geringe jährliche Wachstumsrate aufwies – verglichen mit dem Rest der unterentwickelten Länder. 62 Jahre lang, zwischen 1919 und 1981 lag diese Ziffer bei knapp 2 Prozent, auch wenn sich die Bevölkerung insgesamt um fast sieben Millionen erhöhte, wie die Volkszählungen belegen. Bis 1950 trug der Einwanderungsstrom dazu bei, daß die Wachstumsrate, bei sinkender Geburtenrate, mit 2,31 Prozent relativ hoch war. So waren bis 1981 die Männer in der Überzahl, aber schon die Statistiken von 1990 weisen ein Gleichgewicht der Geschlechter auf.

Der Einfluß der tiefgreifenden sozio-ökonomischen Veränderungen nach 1959 hat nach den Studien unzweifelhaft mit der jüngsten demografischen Revolution zu tun: „Es gibt eine bemerkenswerte Erhöhung der Geburtenrate zu Anfang der 60er Jahre mit dem Maximum des 'Babybooms' 1963“, erläutert der Experte. Als Ursachen für diese Entwicklungen gibt der Wissenschaftler, neben der wirtschaftlichen Sicherheit für die Paare und ihrem Vertrauen in die Zukunft, Einschränkungen bei Abtreibungen und fehlende Verhütungsmittel auf dem nationalen Markt an.

Das wachsende Bildungsniveau wirkte sich auch auf die Familienplanung aus. Damit verbunden war die Möglichkeit für jede Frau, verschiedene Verhütungsmittel zu benutzen. Außerdem muß die Erlaubnis zur Abtreibung erwähnt werden, die – auch wenn sie nicht als Verhütungsmethode betrachtet werden kann – dazu beiträgt, daß die Paare nur die gewünschten Kinder zur Welt bringen. „Wichtige Ursache für die zunehmende Vergreisung ist auch die Zunahme der Lebenserwartung. 1950 lag sie bei 58 Jahren; heute beträgt sie mehr als 75 Jahre“, erwähnt Hernandez.

BRASILIEN

Kindheit verboten – Ein Alptraum in trockener Statistik

– Von Frei Betto

(Brasilien, 25. März 1994, Alai-POONAL).- Die Kindheit ist der Zeitabschnitt des Träumens, des Spielens und des Lernens. Aber wenn schon in dieser Lebensphase der tägliche Überlebenskampf bestimmend wird, ist sie geprägt von Gewalt, Marginalisierung oder Vandalismus. Das Brasilien der glänzenden Auto muß sich darüber klar werden, daß es sich nicht vom bettelarmen Brasilien trennen kann. Das Drama der Straßenkinder zu ignorieren bedeutet, der Zukunft den Rücken zu kehren. Heute wird die Ernte von morgen gesät.

Zunahme der Morde an Minderjährigen: 83% in einem Jahr

Am 10. Februar veröffentlichte die internationale Menschenrechtsorganisation Americas Watch ihren Bericht, der die Morde an Kindern und Heranwachsenden anklagt. Von 1988 bis 1991 wurden 5.644 Heranwachsende im Alter zwischen 15 und 17 Jahren in Brasilien umgebracht. In Sao Paulo gingen 76 Prozent der 1991 ermordeten Kinder zur Schule oder arbeiteten, d.h. es waren keine sogenannten Straßenkinder. 1992 wurden in Rio de Janeiro 424 ermordete Kinder gezählt. Ein Vergleich des ersten Halbjahres 1993 mit dem selben Zeitraum des Vorjahres ergibt 83 Prozent mehr Morde an Minderjährigen. Von 2.115 Verbrechen gegen Minderjährige im nahe Rio gelegenen Duque de Caixas zwischen 1973 und 1991 bleiben 90 Prozent weiterhin unaufgeklärt. Die sogenannten „Vernichtungsgruppen“, deren Pistoleros pro Mord etwa 40 Dollar berechnen, werden nicht bestraft.

Auf Brasiliens Straßen leben 7,5 Millionen Kinder zwischen 10 und 17 Jahren, die durch Almosen, unqualifizierte Arbeiten und Raub überleben. In unserem Land arbeiten heute etwa 500.000 Prostituierte unter 17 Jahren. Im brasilianischen Nordosten hängen 52 Landkreise mit 1,5 Millionen Einwohner*innen von der Monokultur des Zuckerrohrs ab. Minderjährige zwischen 7 und 17 Jahren stellen dort 17 Prozent der Arbeitskräfte in den Fabriken. In Pernambuco gibt es 54.000 Kinder von 7 bis 13, die 44 Stunden in der Woche in den Zuckerrohrfeldern arbeiten. 57 Prozent von ihnen sind verstümmelt oder haben schwere Narben aufgrund von Arbeitsunfällen mit der Sichel. Schon im frühen Alter verpflichtet, zum Familienunterhalt beizutragen, gehen sie nicht zur Schule und haben eine Lebenserwartung von 43 Jahren. Die nationale durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 63 Jahre.

Das Dokument von Americas Watch faßt zusammen: „In Brasilien herrscht nach wie vor Straffreiheit. Sie ist Ergebnis des fehlenden politischen Willens, nach den Verantwortlichen zu forschen.“ Die Vernichtungsgruppen, die Polizeitrupps eingeschloßen, töten für Geschäftsleute, die Diebstähle in ihren Läden verhindern wollen. Die Kinder rauben, um zu überleben, denn sie sind die Kinder von Arbeitslosen oder durch Familien, die durch das Elend entwurzelt wurden. Diese machen heute 32 Millionen der 155 Millionen Brasilianer*innen aus. Die Arbeitslosigkeit ist ein Ergebnis des wirtschaftspolitischen Kurses, den die Regierung von Itamar Franco eingeschlöagen hat: Privatisierung, Automatisierung, Tertiärisierung (d.h. Förderung der Dienstleistungsgesellschaft; die Red.).

HAITI

Rassistische Berichterstattung in Europa und USA

(Port-au-Prince, April 1994, Hib-POONAL).- Die Berichterstattung europäischer und nordamerikanischer Medien über Haiti ist nicht erst seit dem Staatsstreich gegen Präsident Aristide zweifelhaft und oft von offenem oder subtilem Rassismus geprägt. Uninformierte Reporter*innen, rechtsgerichtete Kommentator*innen, voreingenommene Herausgeber*innen und CIA-Agenten haben Berichte gedruckt oder lanciert, die bestenfalls parteiisch sind und in vielen Fällen mit irreführenden und böswilligen Lügen durchsetzt sind.

Irreführung, Desinformation und verzerrende Darstellung in ausländischen Medien haben eine lange Tradition, die der Anthropologe Robert Lawless in dem Buch „Haiti's Bad Press“ (Haitis schlechte Presse, erschienen bei Schenkman Books, 1992) gründlich analysiert. Auf 250 Seiten untersucht Lawless die Haiti- Berichterstattung von überwiegend nordamerikanischen und europäischen Autor*innen seit den Tagen der haitianischen Revolution bis zum Anfang der aktuellen Krise. Lawless geht das Thema – wie zu erwarten – aus anthropologischer Sicht an. Er sucht nach den Gründen für die heutigen Einstellungen, indem er die Ursprünge in der Geschichte und der Politik Europas, der USA und Haitis sucht. Er diskutiert Rassismus, Ethnozentrismus, Kolonialismus und neokolonialen Kapitalismus.

Zombies, Voodoo, Sex und Hunger

Wenn jemand versucht, eine fremde Kultur zu erklären, so die Argumentation von Lawless, wendet er eins von zwei Modellen an: Entweder ein offenes und flexibles „analytisches Modell“, dessen Schlußfolgerungen auf kultur-neutralen wissenschaftlichen Beobachtungen beruhen. Oder er arbeitet mit einem „Volksmodell“, das Werte und Interpretationen einschließt, die in der eigenen Kultur verwurzelt sind. Die Kennzeichnungen der älteren Bücher über Haiti und sogar der überwiegende Teil des zeitgenössischen Journalismus vertrauen nach Lawless dem Volksmodell. Sie verbinden das Land und seine Bürger*innen mit Zombies, Voodo, Kannibalismus, Tonton Macoutes, Krankheiten, Sex, Hungerwellen, ungelernten und faulen Immigrant*innen sowie anderen rassistischen und herabsetzenden Bildern.

„Der Journalismus bestärkt und verstärkt die allgemeine Weltsicht der Öffentlichkeit, während die Anthropologie diese Sicht kritisiert und herausfordert“, wird ein Journalist und Anthropologe in dem Buch zitiert. Lawless selber meint: Wenn ein Ort wie Haiti verstanden und die Monotonieder „schlechten Presse“ durchbrochen werden soll, muß das Volksmodell bekämpft werden.

Mit Bezug auf Artikel von Dr. Paul Farmer (Autor des Buches „AIDS und Anklage“), beschreibt Lawless, wie US-Ärzte Haiti fälschlicherweise auf die sogenannte „high-risk“-Liste setzten, d.h. hatianische Bürger*innen werden pauschal als Aids-Risikogruppe bezeichnet. Nach mehr als zehn Jahren Kampf nahmen die US- Regierungsbehörden Haitis Bürger*innen schließlich von der „high- risk“-Liste und hoben den Bann über Blutkonserven aus Haiti auf. Der Schaden jedoch war bereits verursacht.

Der AIDS-Schrecken paßt zum Volksmodell, dessen wichtigster Aspekt aus Sicht des Autors ein Rassismus gegen Schwarze ist. Dieser sei ein einigermaßen junges Empfinden: „Obwohl die Engländer von der Farbe wie vor den Kopf gestoßen wurden (schwarz wurde mit dem „Bösen“ verbunden), geschah es erst nachdem die Sklaverei eine Rechtfertigung brauchte (im 19. Jahrhundert), daß weiße Schriftsteller*innen die angebliche Barbarei in Afrika stark herausstellten.“

Nach dem Sklavenaufstand: Rassismus verband sich mit der Angst vor Rebellion

Als die Sklaven Santo Domingos am Ende des 18. Jahrhunderts gegen die Franzosen rebellierten, fürchteten weiße Autor*innen, der Aufstand würde überspringen. Der bereits Wurzeln schlagende Rassismus gegen die Schwarzen verband sich mit der Angst vor einer Rebellion. Die Abneigung gegen alle Haitianer*innen war so stark, schreibt Lawless, daß sogar heute noch Nachbarländer (wie Jamaica und die Dominikanische Republik) die weiße Welt nachahmen würden und Haiti und die Haitianer*innen ächteten.

Heutzutage wird dieser Rassismus in den USA durch eine heftige Kampagne gegen haitianische „boat people“ manifest. Von ihnen nehmen die meisten US-Bürger*innen an, daß sie ungelernt und faul seien und den Sozialetat plünderten. Tatsächlich aber, so der Anthropologe, nehmen die wenigsten am Ende die öffentliche Hilfe in Anspruch, die meisten Flüchtlinge hätten eine Ausbildung und eine hohe Arbeitsmotivation.

Die haitianische Klassenstruktur

Ein anderer vom Rassismus betroffener Aspekt ist die Interpretation der haitianischen Klassenstruktur. Obwohl Haiti eine gemischtrassige Elite hat, reduzieren viele Autor*innen die Klassenstruktur auf die unterschiedlichen Hautfarben. Die Mulattenelite wird mit „Zivilisation“ und Fortschritt identifiziert, die schwarze Bevölkerung dagegen mit „afrikanischer Barbarei“ und Rückschrittlichkeit. Diese Interpretation bestimmte schon die Berichterstattung der ausländischen Presse über das Regime von Francois Duvalier, meint Lawless. Sie habe endlos romantisierende Geschichten über die Tonton Macoutes und Papa Doc's Verbindungen zum Voodoo-Kult geschrieben. Ein wissenschaftlicherer und ausgewogenerer Blick auf die brutale wirtschaftliche und politische Unterdrückung sei dagegen in den Hintergrund getreten (Der Abschnitt über Duvalier ist sehr lesenswert, problematisch allerdings die Einschätzung, die Wahlen von 1957 seien „ein wirklich demokratisches Ereignis“ gewesen. Tatsächlich waren sie durch Wahlbetrug gekennzeichnet und es gingen ihnen Massaker in Port-au-Prince voraus; Anmerkung Haiti- Info.). Lawless sagt, daß die ausländische Presse den Sohn von Papa Doc bewundert habe, der eine hellere Hautfarbe hatte und mit einem hellhäutigen Mitglied der Handelsbourgeoisie verheiratet war. Sie gaben ihm den fast liebevollen Spitznamen Baby Doc (die Haitianer*innen gebrauchen diese Bezeichnung kaum). Sie strichen eher seine Playboy-Gewohnheiten und seine habgierige Ehefrau heraus, als den im gleichen Maße brutalen, unterdrückerischen und ausbeuterischen Staat, an dessen Spitze Duvalier 15 Jahre lang stand.

Ein weiteres Element der Berichterstattung über Haiti ist nach Lawless die Kennzeichnung des Creole – der einzigen Sprache, die alle haitianischen Bürger*innen sprechen – als „pidgin-Französich“. Obwohl das Creole sowohl von haitianischen als auch ausländischen Linguistiker*innen als eigene Sprache eingestuft worden ist, setzte sich diese wissenschaftliche Analyse erst nach Jahrzehnten in der Berichterstattung durch. „Viele gebildete Amerikaner*innen sprechen von der haitianischen Sprache immer noch als dem 'französischen Creole'… Die meisten Wörterbücher geben immer noch falsche Definitionen… Sogar der haitianische Präsident, der dieses Amt 1988 eine kurze Zeit innehatte (Leslie Manigat), bezeichnete das Creole irreführend als 'lokalen, von den Haitianer*innen gesprochenen Dialekt'“.

Ein Übersetzer: „Französisch war zu komplex für diese einfachen Afrikaner*innen“

Lawless gibt krasse Beispiele für die Arroganz, mit der Europäer*innen über das Creole urteilen: „1944, schrieb der Übersetzer eines haitianischen Romans (Canape-Vert): 'Das Französische, das Jahrhunderte brauchte, um sich zu seiner derzeitigen kunstvollen, komplizierten Form zu entwickeln, war zu komplex für diese einfachen Afrikaner*innen. So taten sie ihr Bestes und erfanden einen eigenen merkwürdigen, vereinfachten „pidgin-Dialekt“. Es wäre unmöglich, die zahllosen Wege zu beschreiben, in denen die Zungen der afrikanischen Sklav*innen die französische Sprache verstümmelten und amputierten… Er (der Sklave) war nicht nur durch eine primitive Mentalität gehandicapt, sondern auch durch die Unterschiede der physischen Struktur. Seine dicken Lippen und seine seltsame Zunge machten es ihm unmöglich, bestimmte Vokale auszusprechen.'“

Für Lawless wird diese offen rassistische Sichtweise auch von einem Großteil der haitianischen Elite geteilt – von Weißen, Mulatt*innen und Schwarzen gleicherweise: „Haiti hat eine sehr kleine pseudo-zweisprachige HerrscherInnenklasse, die die Zweitsprache Französisch als offizielle Sprache unterstützt, um eine Hilfe für die Aufrechterhaltung ihrer ausbeuterischen Position zu haben“, stellt er heraus. „Alle Haitianer*innen sprechen Creole… und nur etwa 8 Prozent der Bevölkerung, die ausgebildete Elite, spricht auch Französisch.

Lawless schlägt daher vor, Haiti möge nur noch Creole – das erst 1983 zur Amtssprache aufstieg – als offizielle Sprache anerkennen und Französisch ganz fallen lassen. Ihm zufolge sprechen auf Haiti mehr Einheimische Spanisch als Französisch und unter den Auslandshaitianer*innen sei eher Englisch verbreitet.

Forts.folgt

PARAGUAY

Bauern und Bäuerinnen nehmen Kampf um ihr Land wieder auf

– Interview mit dem LandarbeiterInnenführer Pablo Portillo – von Paulino Montejo

(Paraguay, März 1994, Alai-POONAL).- Jahrzehntelang herrschte „Ruhe im Land“. Jetzt treten die Bauern und Bäuerinnen Paraguays wieder verstärkt für ihre Landrechte ein (siehe auch POONAL Nr. 135). Alai sprach mit Pablo Portillo, dem Führer der „Interregionalen Koordination derjenigen ohne Land“ (CIST).

Frage: Wie bewertest du die bisherigen Antworten der Regierung auf die Probleme im Agrarsektor?

Portillo: Die Regierung möchte die Probleme auf dem Land nicht verstehen. Ihr einziges Argument ist, es handele sich um subversive Aktionen. Entsprechend dieser Mentalität bestand ihre Antwort darin, eine Delegation nach Peru zu schicken, um sich dort über die Unterdrückungsmethoden gegen die Subversion beraten zu lassen. An der Delegation nahm der Innenminister teil, der außerdem Mitglied der Gruppe „Antikommunistische Aktion“ des vorherigen Regimes war. Die Regierung macht nur eins: Sie unterdrückt.

Frage: Was wollt ihr denn überhaupt mit den Landbesetzungen erreichen?

Portillo: Gerechtigkeit. Es macht doch keinen Sinn, wenn die Böden brach liegen, aber Tausende Bauern und Bäuerinnen ohne Land sind. Was die Januar-Besetzung auf dem Großgrundbesitz von Blas Riquelme, dem drittgrössten Landbesitzer Paraguays angeht, kann ich sagen, daß es sich um ungenutztes Land handelt. Deswegen kann es dem Gesetz nach betroffen sein (von einer Enteignung, d. Red.). Wir mußten eine Zwangsmaßnahme ergreifen, weil die Regierung die Rufe der Bauern und Bäuerinnen nicht hört. Wir sind immer den „Amtsweg“ gegangen, von Büro zu Büro und niemand hört uns zu. Darum haben wir diese Maßnahme ergriffen, um uns Gehör zu verschaffen. Die Antwort der Regierung war jedoch die brutale Unterdrückung.

Frage: Der Präsident Juan Carlos Wasmosy ist der erste zivile Präsident nach mehreren Jahrzehnten Strössner-Diktatur. Aber nach deinen Worten scheint sich nichts geändert zu haben?

Protillo: So ist es. Obwohl es heißt, daß er der erste zivile Präsident ist, bleibt das Regime weiterhin autoritär. Es handelt sich um eine kontrollierte Demokratie. Das Umfeld der jetzigen Regierung bilden diejenigen, die auch zuvor schon die Macht hatten. 70 Prozent der Regierungsposten sind in den Händen des alten Regimes. Ich meine, die Regierung von General Rodríguez bedeutete die Kontinuität von Strössner. Es war eine weitere korrupte Regierung, die während ihrer Amtszeit mehr als 160 Landräumungen, mehr als 1.000 Verhaftungen und mehr als 20 Morde an Campesinoführer*innen veranlaßte. Das war für uns das Ergebnis der Rodríguez-Zeit und des demokratischen Übergangs. Die Regierung von Wasmosy geht auf demselben Weg weiter. Die, die ihn umgeben, hören nicht auf die Forderungen des Volkes. Es gibt mehr Einschränkungen, was die Arbeitsforderungen und vieles mehr angeht, denn es ist eine Unternehmerregierung. Frage: Wie würdest Du das Profil der „Interregionalen Koordination derjenigen ohne Land“ (CIST) beschreiben?

Portillo: Es ist eine Organisation, die nicht gegen die Großgrundbesitzer*innen kämpft, sondern gegen das System des Großgrundbesitzes und deswegen gegen das kapitalistische System. Da sind wir sehr eindeutig und die Regierung weiß sehr gut, daß wir das Rückgrat des kapitalistischen Systems hier schlagen wollen, d.h. den Landbesitz. Und weil unser Kampf ein antikapitalistischer ist, ist es ein Organisationsangebot nicht nur für die Bauern und Bäuerinnen, sondern auch für die Arbeiter*innen in der Stadt. Paraguay ist vornehmlich vom landwirtschaftlichen Anbau und der Viehzucht bestimmt, es ist verfügt nur über eine kleine Industrie. Darum ist die ArbeiterInnenklasse in diesem Land noch sehr rückschrittlich. Ich will sie nicht schlecht machen, aber nur wenige Arbeiter*innen haben sich organisiert.

Politisch sind wir uns sehr bewußt, daß wir ohne die Linke nicht vorankommen. Die Rechte wird die Volksschichten immer betrügen. Die Regierung klagt die Campesinoorganisationen und ihre Führer*innen direkt an, links, marxistisch und vieles mehr zu sein. Aber wir sagen, daß wir ohne die Linke nicht weiterkommen. Die Rechte wird auf unsere Forderungen nicht antworten. Jetzt gibt es eine gute Perspektive, was die Organisationen der Linken angeht: Im vergangenen Jahr haben wir zu den verfassungsgebenden Wahlen eine Einheitsinstanz aufgestellt, die „Einheit der Arbeiter*innen und des Volkes“ (UTP). Später gab es ein Abkommen über die Einheit der Linken. Einige akzeptierten es, andere nicht. Aber es gibt eine gute Perspektive für die Bewegung der Linken in Paraguay.

Frage: Aber was verhindert, daß diese Kraft sich von diesem Punkt aus weiterbewegt?

Wir befinden uns in einem Organisationsprozeß und haben keinen Zugang zu den Kommunikationsmedien, die von den Erben der Diktatur kontrolliert werden. Sie sind an der Macht geblieben. Aber zusätzlich besorgt uns, daß die „Operation Condor“ wiederbelebt werden soll, um erneut die Volksorganisationen zu kontrollieren. Wir haben das entdeckt, als das „Archiv des Schreckens“ geöffnet wurde. Denn dort fanden sich viele Dokumente, die beweisen, daß die USA hinter diesem Apparat steckt.

„Die Einmischung der USA ist sehr deutlich“

Die Einmischung der nordamerikanischen Politik ist sehr deutlich, wenn ihre Militärs versuchen, in unseren Ländern Einlaß zu finden. Vor kurzem schlug der nordamerikanische Botschafter in Paraguay der Regierung vor, 600 nordamerikanische Soldaten ins Land zu lassen, angeblich für soziale Programme. Wir wiesen diese nordamerikanische Militäreinmischung zurück, nachdem die Regierung akzeptiert hatte. Das Parlament stimmte gegen den Vorschlag. Die USA sagten daraufhin, wenn Paraguay diese Hilfe nicht will, ziehen wir unsere ganze Hilfe für das Land zurück.

NICARAGUA

Billige Arbeiter*innen für den Weltmarkt

Während der sandinistischen Regierungsperiode konnten Frauen neue Handlungsräume erkämpfen, die eine frauenspezifische Organisierung möglich machten. Frauen hatten leichteren Zugang zu entlohnten Arbeitsplätzen. Nach der Wahlniederlage der Sandinist*innen 1990 hat sich diese Entwicklung wieder umgekehrt. Der folgende Beitrag, der diese Wende analysiert, ist in gekürzter Fassung aus Correos de Centroamerica, Nr. 90, Februar 1990, entnommen.

Über die Arbeitslosigkeit von Frauen in Nicaragua gibt es keine zuverlässigen Daten. Die Arbeit von Frauen wird in den gängigen Wirtschaftsstatistiken bekanntlich kaum berücksichtigt, weil sie großteils nicht entlohnt wird. Dies trifft besonders für ein Land wie Nicaragua zu, dessen Wirtschaft auf die Agrarproduktion ausgerichtet ist. Die Arbeit von Bäuerinnen zum Lebensunterhalt der Familie spielt sich im Haus, im Hof und auf dem Feld ab. Schon von der sandinistischen Regierung wurden Frauen, insbesondere Bäuerinnen, ökonomisch benachteiligt. Sie verteilte Landtitel hauptsächlich an Männer. Dazu kommt der Fall der Preise für landwirtschaftliche Rohstoffe auf dem Weltmarkt: Allein in der Baumwollproduktion verloren 20.000 Frauen ihre Arbeitsplätze. Auf den Zusammenbruch des agroindustriellen Arbeitsmarktes können die zumeist landlosen Frauen nicht einmal mit einem Rückzug in die Subsistenzwirtschaft reagieren.

Neoliberales Rollback

Die neoliberale Wirtschaftspolitik bedroht sogar Freiräume, die sich Frauen in langjähriger Arbeit erkämpft haben. Selbst organisierte Frauen haben sich aus der Politik zurückgezogen, weil sie ihr eigenes Überleben und das ihrer Familie sichern müssen. Alba Palacios, Frauenvorsitzende der LandarbeiterInnengewerkschaft ATC, drückt die Problematik so aus: „Du sagst dir als Frau: Jetzt verliere ich meine Arbeit, mein Land, alles Wesentliche – was soll denn dann das Gerede von Autonomie und Unabhängigkeit überhaupt noch? Gleichzeitig geht ja auch noch alles andere den Bach runter. Deswegen sagen wir: Laßt uns für Arbeit kämpfen, für Land, und laßt uns gleichzeitig weiterkämpfen für unsere spezifischen Forderungen als Frauen.“

Eine ähnliche Position vertreten die Frauen im „Nationalen Feministischen Komitee“, das 25 unabhängige Organisationen koordiniert. Die Frage der Ökonomie hat dort mittlerweile größere Bedeutung als andere, für Frauen brisante Themen wie Gewalt und Gesundheit.

In Nicaragua wurde 1976, noch zur Zeit der Somoza-Diktatur, die erste Freihandelszone mit acht Fabriken und 3000 Arbeiter*innen gebildet. Während der sandinistischwen Periode blieb diese Freihandelszone ökonomisch unbedeutend. Immerhin wurden die Arbeitsbedingungen staatlich kontrolliert. Die Arbeiter*innen erhielten eine Mittagsmahlzeit und wurden für die Früh- und Spätschicht von Bussen abgeholt.

Moderne Leistungsprinzipien mit feudalen Aufsichtsmethoden kombiniert

Die Chamorro-Regierung schloß 1990 die Freihandelszone – und öffnete sie 1991 wieder, unter dem Etikett einer „Neuen Wirtschaftsordnung“. Die heute in Nicaragua ansässigen Weltmarkunternehmen spezialisieren sich hautpsächlich auf das Zusammennähen von Textilien. Bei der Belegschaft handelt es sich zu 90 Prozent um Frauen. Die Arbeitsorganisation – besonders in den Manufakturen, die unter koreanischer oder taiwanesischer Leitung stehen – verbindet moderne Leistungsprinzipien mit feudalen Aufsichtsmethoden. Den Arbeiterinnen werden Akkordnormen zugewiesen. Die Frauen sind erheblichen psychischen und körperlichen Mißhandlungen unterworfen (z. B. Prügel, Überstunden werden nicht honoriert).(Dieser Industriezweig ist auch als Maquila, bzw. Maquiladora bekannt, Anm.d.Red.)

Viele dieser Arbeiterinnen sind hauptverantwortlich für den Unterhalt ihrer Familien. Deswegen verteidigen sie diese Einkommensquelle, auch wenn ihre elementaren Grundrechte verletzt werden. Als im Herbst 1993 die Leitung der Textilfabrik Frotex sogar den Grundlohn abschaffen wollte, führten die Arbeiterinnen einen 18stündigen Sitzstreik durch und besetzten die Fabrik. Die Frauen wurden mit Waffen bedroht. Schließlich wurde eine Kommission gebildet, die die Arbeitsbedingungen in der Fabrik untersuchen und die Forderungen der Frauen prüfen sollte. Aber selbst die Rolle der Gewerkschaft, die neben dem Arbeitsministerium und der Firmenleitung Vertreter*innen in die Kommission schickt, ist unklar. Sandra Ramos beklagte, daß die Gewerkschafter*innen die Probleme der Arbeiterinnen nicht kennen und sich nicht ausreichend für sie einsetzen würden. „Aus diesem Grund wollten viele das Abenteuer, sich für unsere Rechte einzusetzen, nicht riskieren, denn wir haben überhaupt keine Rückendeckung.“

Die Weltmarktfabriken konnten sich im Kontext einer regionalen wirtschaftlichen Krise in Zentralamerika etablieren. Daß sie kaum zur Entwicklung dieser Region beitragen, ist inzwischen offenkundig geworden. Die Frauen bekommen in ihren Alltag die „Neue Wirtschaftsordnung“ hautnah zu spüren. Gerade in dieser Situation tun sich Gewerkschaften mit ihrem traditionellen männlichen Arbeitsverständnis schwer.

Wenn die Regierung uns kein Land gibt, werden wir welches besetzen“

„Wenn Veränderungen in der Wirtschaft eintreten, so trifft es vor allem die Frauen“, sagt Olga Maria Espinoza vom Landfrauen- Komitee. Frauen müßten ökonomische Macht erobern, um überhaupt autonom werden zu können. Das Landfrauen-Komitee organisiert mit diesem Ziel 300 bisher erwerbslose Frauen, die kein Land besitzen. „Nach der Durchführung der neoliberalen Wirtschaftspolitik blieben wir Frauen ohne Ressourcen. Alos fingen wir an, die Frauen auf dem Land in kleinen Subsistenzprojekten zu organisieren, da als erstes das Überleben gesichert werden muß. In einem zweiten Schritt wollen wir die Frauen in alternativen Produktionsformen ausbilden. Wir müssen weg von der Abhängigkeit von den Multis mit ihren Pflanzenschutzmitteln. Von der Regierung verlangen wir Land für selbstbestimmte Frauenprojekte, und wenn sie uns kein Land geben, werden wir welches besetzen. Und schließlich streben wir mit dem dritten Schritt eine Vereinigung von 'lohnlosen' Frauen an. Wir wären dann auf organisatorischer und ökonomischer Ebene autonom.“

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