Poonal Nr. 129

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 129 vom 07.02.1994

Inhalt


ECUADOR


ECUADOR

Lorena Bobbits Schicksal setzt Diskussionen über die Situation der Frau in Gang

– von Marcia Cevallos

(Quito, 20. Januar 1994, SEM-POONAL).- Ecuador wartet mit Sorge auf das Urteil gegen Lorena Gallo Coronel Bobbit. Die Ecuadorianerin ist vor einem Gericht in Manassas, US-Bundesstaat Virginia, angeklagt, den Penis ihres 26jährigen Ehemannes John Wayne Bobbit abgeschnitten zu haben. Die Tat fand in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1993 statt. Das Gericht muß entscheiden, ob die Tat Folge eines „unwiderstehlichen Impulses“ war, der durch jahrelange gewaltsame Unterdrückung erzeugt worden ist, wie es die Verteidigung versichert, oder ob sie unter einem Wutausbruch handelte. Bei einer Verurteilung erwartet Lorena Bobbit eine Strafe von maximal 20 Jahren und die definitive Ausweisung aus den USA. Während das Gerichtsurteil immer näher rückt, hat die öffentliche Meinung in Ecuador ohne Unterschied des Geschlechts ein praktisch einstimmiges Urteil gefällt: Das Gericht sollte Lorena Bobbit vergeben. Die Ecuadorianer*innen scheinen sich auf die Seite der Person geschlagen zu haben, die sie als die schwächere ansehen.

Theaterinszenierungen in der Innenstadt

Lorena wurde in einer armen Familie in dem 7.000 EinwohnerInnenort Bucay geboren. Der Ort liegt wenige Kilometer von Guayaquil entfernt, dem größten Hafen des Landes. „Ihre Geschichte ist die von tausenden Frauen, die auf der Flucht vor dem Elend das Land verlassen“ schrieb der Chronist Santiago Jervis Simmons in einer der wichtigsten Zeitungen des Landes. Es ist bekannt, daß Lorena Bobbit illegal in die USA einwanderte und sich mit dem US-Soldaten John Bobbit verheiratete, zwei Tage bevor sie hätte deportiert werden können. Lorena Bobbit ist das typische Beispiel derjenigien, die in die USA auswandern, um vor der Armut und der Hoffnungslosigkeit zu fliehen. In Ecuador hat die Spannung ihren Höhepunkt erreicht. Mit bemalten Gesichtern, die blaue Flecken darstellen sollten, zog eine Gruppe von Frauen durch die Straßen im Zentrum Quitos. Am traditionellen Platz San Francisco angekommen, improvisierten die Frauen ein ungewöhnliches Stück Theater: Das Leben von Lorena Bobbit. Das Werk zeigte die Flitterwochen, die Diskussionen, die Versöhnungen, die körperlichen Mißhandlungen, die Vergewaltigungen und den Moment, in dem Lorena Bobbit ihren Ehemann kastrierte. Die Anteilnahme der Bevölkerung war groß.

In Guayaquil postierte sich eine von der „Guayaquilensischen Frauenunion“ organisierte Demonstration vor dem nordamerikanischen Konsulat. Sie trugen weiße Tücher mit sich und erklärten, sie wollten die Entscheidung des Gerichtes abwarten. „Es ist die Stunde gekommen in der wir Ecuadorianerinnen eine gemeinsame Simme zur Verteidigung unserer Ehre erheben.“

87% der Frauen berichten von Gewalt in der Ehe

Über diese Solidaritätsbeweise hinaus, hat das Drama um Lorena Bobbit ein sehr viel komplexeres Thema aktualisiert: Die Mißhandlung und die Gewalt gegen die Frau. In den letzten Tagen erschienen in den Medien alarmierende Statistiken über Fälle von Mißbrauch und Gewalt gegen Frauen in der „Partnerschaft“. Eine 1989 durchgeführte Untersuchung des Ecuadorianischen Kooperations- Komitees mit der Interamerikanischen Frauenkommission (CECIM) belegt: 87 Prozent der befragten Frauen hatten mindestens von einem Fall von Gewalt in ihrer „partnerschaftlichen“ Beziehung zu berichten. Der Fall Lorena Bobbit hat die Diskussion über das ecuadorianische Strafgesetzbuch eröffnet. Es kennt den Fall der Gewalt gegen die Frau in der Ehe nicht. Laut Carolina Portaluppi von der Guyaquilensischen Frauenunion ermöglichte der Fall Lorena Bobbit, das Schweigen zu brechen und die Fälle von Mißhandlung und Mißbrauch anzuklagen. In der Tat haben verschiedene Fernsehkanäle Zeugnisse von Frauen gesendet, die von ihren Ehemännern mißhandelt und vergewaltigt wurden. Der Fall von Lorena Bobbit ist zu einem Symbol für die Lage der Frau geworden, erklärte die Schriftstellerin Susana Cordero de Espinoza. „Hinter jeder mißhandelten Frau versteckt sich eine mögliche Kastriererin, die, obwohl sie nicht zum tödlichen Messer greift, um mit einem Schnitt die Ursache des Leidens zu beseitigen, in dem alltäglichen Kampf mit ihrer eigenen Frigidität die Begierde des Mannes kastriert …“

Die Journalistin Consuelo Albornoz Tinajero kritisierte das Verhalten einiger Organisationen gegenüber dem Fall. Ihrer Meinung nach herrscht bei mehreren von ihnen das vor, was „hembrismo“ genannt wird. Das heißt, ein Machismus in weiblicher Version. „Zwischen den Zeilen stechen die agressiven Botschaften dieser Organisationen an alle Männer hervor. Sie schlagen allen Frauen vor, sich mit Lorena Bobbit zu identifizieren.“ Consuelo Albornez fragt sich, wie man mit solch einem Verhalten ein Ende der Diskriminierung erreichen kann. Der ecuadorianische Soziologe Alejandro Moreano meint, der Fall Lorena Bobbit habe alle Facetten und Kämpfe des derzeitigen Feminismus zum Vorschein gebracht: Das Recht auf den Orgasmus, die sexuelle Freiheit, die Zurückweisung der Gewalt in all ihren Formen und gegen die Ehe als Eigentumsrecht des Mannes über den Körper der Frau. Aber vor allem die Kulturkritik an Herrschaft und Macht: Die Phallokratie und der Phallozentrismus.

Alle diese Reflexionen sind begleitet von bisher nie dagewesenen Ereignissen. Am Wochenende empfingen mehrere Medien ein anonymes Kommunique. Darin wurde mit der Kastration von zehn Nordamerikanern für jedes Jahr Gefängnis gedroht, das Lorena bekommt. Die Presse hat über noch überraschendere Ereignisse berichtet. Wie Lorena Bobbit versuchten Angela Calderón und ihre Tochter Ana Romero Calderón, den 66jährigen José Emilio Romero zu kastrieren. Die Tat geschah in einem Stadtviertel von Quito und hatte keine größeren Folgen. Und während der Urteilsspruch sich nähert, bot in dem Ort Naranjal ein junger Mann namens Walter Onofre die Amputation seines Penis im Gegenzug für die Freilassung seiner Landsfrau an. Im Moment hält der Fall Lorena Bobbit die Ecuadorianer*innen in Atem. Die nationale öffentliche Meinung scheint darin übereinzustimmen, daß hinter dem Fall viel mehr als das Schicksal von Lorena Bobbit auf dem Spiel steht.

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