Poonal Nr. 106

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 106 vom 16.08.1993

Inhalt


HAITI

URUGUAY

ECUADOR

KOLUMBIEN


HAITI

Präsident droht die Kontrolle zu verlieren

(Pourt-au-Prince, August 1993, HIB-POONAL).- Präsident Jean Bertrand Aristide verliert mit der Durchführung des Abkommen von Governor's Island zunehmend die Kontrolle über sein Land. Probleme zeichnen sich schon heute in vier Bereichen ab.

Politische Kontrolle

Die Abgeordnetenkammer mit 88 Sitzen wird von den Putschist*innen kontrolliert, die jetzt die Mehrheit bilden und zudem das Exekutivkomitee dominieren. Im Senat, der über 27 Sitze verfügt, wird noch um eine Mehrheit gerungen. Das demokratische Lager scheint die Mehrheit zu haben. Doch häufen sich mit jedem Tag, der vergeht, die Drohungen, Bestechungen und andere schmutzige Tricks, die die Senator*innen von einem Wechsel des politischen Lagers „überzeugen“ sollen.

In beiden Kammern gibt es freie Sitze, weil 13 Mandate während des Putsches ausgelaufen waren. Die 13 Mandatsträger, die im Rahmen eines irregulären Wahlvorgangs im Januar dieses Jahres gewählt worden waren, stellen nach wie vor ein großes Problem dar. Obwohl sie weder an internen Wahlen, noch an der Amtseinführung des neuen Premierministers teilnehmen werden, besteht die Möglichkeit, daß ihnen gestattet wird legal ihr Amt auszuführen. Damit würde das PutschistInnenlager die Mehrheit erhalten.

Ein „Versöhnungskomitee“ soll über das Schicksal der falschen Parlamentarier*innen entscheiden. Obwohl sich das Komitee noch nicht konstituiert hat, wird es bereits im Vorfeld aufgrund des verfassungswidrigen Charakters kritisiert.

Wenn die nicht-demokratischen Kräfte des Landes die absolute Mehrheit in beiden Kammern erlangen, könnten sie alle präsidiale Gesetzesvorhaben blockieren. Das PutschistInnenlager wäre in der Lage eine Generalamnestie, das Einfrieren der Löhne und die Privatisierung von Institutionen zu beschließen. Wirtschaftliche Kontrolle

In der haitianischen Privatwirtschaft existieren drei grundlegende Subsektoren: der Traditionelle, der aus einer Clique reicher Putschist*innen und denjenigen besteht, die mit der US-Export- Industrie zusammenarbeiten. Einen weiteren Subsektor stellen die neuen, jungen Unternehmer*innen. Diese Gruppe hat sich mit dem Rat und der Hilfe derselben Clique aus Washington gebildet, die bereits die Geschäftsleute in Peru, Nicaragua und El Salvador unterstützt haben.

Die dritte, relativ kleine Gruppe stellen die nationalistischen Geschäftsleute und Industrielle. Der designierte Ministerpräsident Robert Malval kann als liberales Mitglied der letztgenannten Gruppe betrachtet werden. Aufgabe der „Techniker“ und „Berater“ der internationalen Institutionen wird die Nutzung der drei wirtschaftlichen Subsektoren sein, um in Haiti die Grundlagen für eine neoliberale Wirtschaftpolitik zu legen.

Kontrolle über die NGOs

Bereits vor dem Staatsstreich hatten USAID und andere ähnliche Institutionen ihr Tätigkeitsfeld mittels NGOs, die in den Bereichen Entwicklung und Menschenrechte arbeiten, ausgeweitet. Über Spenden und Verträge erlangen diese Institutionen Einfluß und eventuell Kontrolle über die haitianischen Organisationen, die sich dem Kampf für Menschenrechte, Justizgerechtigkeit und Demokratie verschrieben haben. Gruppen, wie das „Amerikanische Institut für die Entwicklung freier Arbeit“ (AIFLD), das sich auf die Gewerkschaften spezialisiert hat, und PIRED, die in dem Bereich der Kommunikations- und Volksorganisationen arbeiten, locken mit einigen 100.000 Dollars.

Militärische Kontrolle

Die Armee wurde immer und wird weiterhin vom State Department der USA dominiert. Die geplante Trennung von Polizei und Militär, steht unter direkter Kontrolle der USA oder der UNO. Präsident Aristide hatte immer nur begrenzte Kontrolle über das Militär gehabt. Sollten demokratische Kräfte innerhalb der Streitkräfte existieren, so sind sie in den letzten beiden blutigen Monaten nicht zutage getreten.

Das Ziel des in New York geschlossenen Abkommens ist es, eine „Institutionelle Demokratie“für Haiti einzurichten, in der das Volk keine Rolle spielt. Der Angriff auf die demokratische Volksbewegung begann mit dem Staatsstreich und hat sich mit einer systematischen und selektiven Repression gegen die Volksbewegung und ihrer Führer*innen fortgesetzt. Das neue „demokratische“ Haiti wäre nur das letzte Kapitel des Zerstörungsprozesses der Volksbewegung, so wie er bereits in anderen Ländern unternommen wurde.

Präsident Aristide ist auf betrügerische Methoden hereingefallen. Doch noch ist nicht alles verloren. In dem Pakt, der Anfang August unterzeichnet wurde, wird ein „politischer Waffenstillstand“ von 6 Monaten angestrebt, was auf eine gewisse Unsicherheit der Planer*innen in Washington hinweist. Das haitianische Volk wird auch weiterhin Straßen und Radiosender besetzen, um seine grundlegendsten Rechte einzufordern. Der nächste Schritt könnte eine Generalmobilisierung des ganzen Volkes sein, was dem Präsidenten Kraft verleihen wird, gegen den Institutonellen Alptraum anzukämpfen.

URUGUAY

„Gelbe Helme“

Von Eleuterio Huidobro

(Montevideo, Juli 1993, mate amargo-POONAL).- „Jede noch so kleine Spende hilft…Jede noch so kleine Spende hilft“. Die Mehrheit der Leute in den Omnibussen und an den Straßenecken erklären sich mit ihrer kleinen Unterstützung, die in den gelben Helmen gesammelt werden, solidarisch mit dem Arbeitskampf. „Auch wenn es wenig scheint, für uns ist es viel…jede noch so kleine Spende hilft…“ Die Mehrheit von ihnen ist jung. Sehr jung. Den Helm in der Hand und ein Pappschild um den Hals: „Finanzen. SUNCA. PIT- CNT.“

Vor zwanzig Jahren als alles verloren schien – Parlament, Freiheiten, Justiz, Guerilla, politische Parteien, Kultur – , erschien die ArbeiterInnenklasse, völlig abstrakt für die einen und garnicht existent für die anderen, auf der Bildfläche und rief den bis dato größten Generalstreik aller Zeiten aus. Auch in dieser Disziplin waren wir die Champions auf dem amerikanischen Kontinent und der Welt.

Die Diktatur kam tot zur Welt: die ArbeiterInnenklasse brach ihr schon bei der Geburt das Rückrat. Niemand kann sich heute anmaßen, den besonderen oder einzelnen Verdienst an dieser Heldentat gehabt zu haben: es war die gesammte, anonyme Volksmasse. Jahre und Jahre geduldiger und zäher Arbeit tausender von Gewerkschafter*innen und ihrer Führer*innen. „Jede noch so kleine Spende zählt…Wir sind seit dreißig Tagen im Streik…“

Vor einigen Wochen konnten wir ein seltsames Bauvorhaben beobachten. Wie in unserem Land üblich (und in allen anderen), schauten wir zu zweit oder zu dritt neugierig anderen beim Arbeiten zu. Unterhalb der Plaza de Independencia war ein Ameisenhaufen von Gelbhelmen inmitten kreischender Motorsägen und quietschender Kranwagen damit beschäftigt, Eisen zu schneiden und zu biegen, Holz zusammenzunageln, ein Kunstwerk zu errichten. Handlanger, Arbeiter, Poliere und Architekten… Auf keiner jener „Kulturseiten“, die sonst noch über die geschmackloseste Frivolität zu berichten wissen, erschien nur ein einziger Kommentar darüber und wird wohl auch nicht erscheinen, solange sich unser politischer Blickwinkel nicht geändert hat.

Wenn sich diese Menschheit eines Tages umbringt, und alles weist darauf hin, wird diese, die nach uns kommt, viel intelligentere Spezies (wozu nicht viel gehört), als Spuren unserer Kultur einige Bücher, bestimmte Bilder und sicher auch einige fremde und gigantische Monumente aus Stahlbeton, ähnlich den ägyptischen Pyramiden vorfinden, die Zeugnis unserer Existenz abgeben.

„Jede noch so kleine Spende zählt . Wir fordern Lohnerhöhungen…“ In Wirklichkeit fordern sie die Aufrechterhaltung der kärglichen Kaufkraft. Sie waren es, die das sublime Bild des störrischen Esels erfanden und an die Wände malten, was soviel Durcheinander anrichtete.

Den ganzen Winter lang, den wir alle kennen und sehen, erinnern die Lampions, das Zelt, die Plakate der SUNCA, die Weinflaschen, die Henkelmänner, in nicht besser vorstellbarer Form an das glorreiche Epos vor zwanzig Jahren.

Es ist schön sich in den Reden an die verschiedenen Fabriken und Studienzentren zu erinnern, die gewaltsam geräumt, und siebenmal erneut besetzt wurden. Und es gibt viel über das Zittern zu berichten, das die Militärs und zivilen Faschist*innen beim Anblick der Muskulatur der ArbeiterInnenklasse ergriff.

Auch ist es angenehm von der Jugend zu sprechen, insbesondere wenn sie zu ihrer „Förderung“ finanzielle Unterstützung von verschiedenen NGOs erhält. Und es ist unangenehm zu beweisen, wie es die CEPAL in ihren Umfragen gemacht hat, daß die jungen Arbeiter*innen sich nicht als solche verstehen.

Unglaublicherweise erfreuen sich diese „jungen“ Uruguayer*innen nach eigener Aussage nicht der Vorteile, Freuden und Vergnügungen die der „Jugend“ eigen sind.

In diesem unseren Land, in dem wir einen Verteidigungsminister haben, der eine Entführung angeordnet hat, ohne es zu wissen (wie er sagt), oder Menschen verschwinden läßt oder eine Mittäterschaft an einer Flucht befiehlt oder im letzten Fall eine gelungene Theaterinszenierung, aber alles, vollkommen alles, ohne zu wissen (wie er sagt)…

In diesem Land in dem wir einen Oberbefehlshaber der Streitkräfte haben, der genausowenig weiß, was seine Heerscharen von Soldaten vernichten. Und wenn er es weiß, die „Verantwortung“übernimmt, was, wenngleich höchst bedenklich, gerade deswegen einen gewissen Grad von Aufrichtigkeit besitzt…

In dieser Welt, in der die großen Medien die Augen verdrehen und sich mit großem Geschrei über die Autobomben von Madrid aufregen, aber beschwichtigend die 16 Raketen kommentieren, die zur Überraschung aller in Bagdad einschlugen. Als Erklärung von Clinton wurde zugelassen, daß er die „zivilen“ Toten „bedauert“ – die anderen sind kein Bedauern wert – und weisen für die Zweifelnden auf den Anstieg seiner Popularität hin, den er bei Umfragen in den USA erhält. Mit keinem Wort wird sein Popularitätsgrad im Irak nach dem Angriff erwähnt…

In diesem Land und dieser Welt, in der der Terror per Auto scheinbar ein anderer ist als der Terror per Flugzeugträger, in der Attentate und Entführungen nur in geheimen Sitzungen aufgeklärt werden, werden die Arbeiter*innen vor dem Regierungspalast verprügelt, werden die Journalist*innen, die versuchen, den Menschen und Minister*innen, die „nichts wissen“, zu beweisen, daß schlechte Nachrichten schnell bekannt werden, verfolgt; werden die Student*innen, die für ein angemessenes Erziehungsbudget demonstrieren, mit öffentlicher und ausgesucht schwerer Repression behandelt.

Wir wissen, daß in der Welt mächtige Gewerkschaftszentralen existieren. In Europa, in den USA und in einigen wenigen lateinamerikanischen Ländern. Sie existieren. Sie tätigen beträchtliche Investitionen. Sie verfügen über schöne Lokale und unzählige „Aktivist*innen“. Manchmal wird von dieser Seite Kritik geübt: Wie kommt es, daß ihr keine vollen Streikkassen habt? Wie kommt es, daß ihr keine Gewerkschaftslokale habt? Scheinbar gelangen von dieser Zivilisation Fonds zu uns, um uns zu „helfen“. Wir müssen darüber nachdenken, ob diese Mittel, wenn sie so wichtig zum Zeitpunkt des Kampfes sind, sie es auch zum Zeitpunkt des Betrugs waren.

Wie in allem, und nicht nur in der Gewerkschaftsfrage, sind wir Uruguayer*innen stolz auf die leeren Hände, die sich zum Omnibus emporrecken und uns an den Straßenecken mit dem kleinen gelben, (scheinbar) hilflosen Helm anhalten, um uns in der Solidarität zu vereinen, die die Flamme am Leben hält. Diese „Schwäche“ ist Stärke. Jahrzehntelang erlaubte die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung dieses Landes, Wirklichkeiten zu schaffen, wie des Generalstreiks von 1973.

„Jede noch so kleine Spende zählt.“ Es gibt einige die da anderer Meinung sind. Wir können nur hinzu fügen, was wir in diesen Tagen oft gehört haben: „Danke compañeros und entschuldigt die Belästigung.“

ECUADOR

Neue Anpassungsmaßnahmen?

(Quito, August 1993, Alai-POONAL).- Mit der Entscheidung, zwei opponierende Politiker aus seiner Regierung zu entfernen, versucht der ecuadorianische Präsident Sixto Duran Ballen, eine seit Wochen brodelnde Krise zu lösen. Allerdings ist die Krise damit noch nicht gelöst, eine grundsätzliche Entscheidung über die zukünftige Politik – insbesondere die wirtschaftspolitische Strategie – wird lediglich verschoben.

Während die Wirtschaftsfront unter der Führung des ehemaligen Finanzministers Mario Rivadeneira neue Anpassungsmaßnahmen durchsetzen will, setzt der andere Sektor, angeführt von dem Ex- Regierungsminister Roberto Dunn und mit Unterstützungh der Abgeordneten der regierenden Partei der Repbulikanischen Einheit, auf eine gemässigte Politik. Tatsächlich handelt es sich weniger um grundsätzliche Widersprüche in der Wirtschaftspolitik als um stilistische und strategische Divergenzen.

Rivadeneira wurde durch Cesar Robalino, ehemaliger Finanzminister unter einer Militärdiktatur, ersetzt und Dunn durch den konservativen Abgeordneten Marcelo Santos. Der Präsident besetzte ebenfalls die Ministerien für Industrie und Soziales neu.

Zeitgewinn, aber keine Lösung

Mit diesen Entscheidungen konnte – zumindest zeitweilig – die so vom Informationsminister genannte „Makroregierungskrise“ und die zunehmende Kritik von Seiten der Opposition und der Medien angesichts der Entschlußlosigkeit des Präsidenten gestoppt werden. Sixot Duran Ballen hatte seit dem 2. Juli den Rüchtritt des gesamten Kabinetts gefordert, um Umstrukturierungen vornehmen zukönnen.

Währenddessen wartet die Bevölkerung auf Entscheidungen in der Wirtschaftspolitik. Vor kurzem hatte die Regierung einige unpopuläre Maßnahmen bekanntgegeben, unter anderen eine Erhöhung der Brennstoffpreise. Dies hatte der Internationale Währungsfonds zur Auflage für einen neuen „Stand-By-Kredit in Höhe von 180 Millionen Dollar gemacht. Zudem werden die Maßnahmen als Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der Verhandlungen über die Auslandsschuld mit Privatbanken angesehen. Die Gespräche waren im Juni unterbrochen worden. Es wird befürchtet, daß die Ankündigung weiterer Maßnahmen, insbesondere eine weitere Erhöhung der Benzinpreise, die bereits in den vergangenen Monaten um 125 Prozent angestiegen waren, zu heftigen Prtesten der Bevölkerung führen werde.

IWF macht Preiserhöhungen zur Voraussetzung für neue Kredite

Der gescheiterte Versuch des Präsidenten, diese Bedingung mit dem IWF während eines Besuchs in Washington Anfang Juli persönlich zu verhandeln, hat lediglich dazu beigetragen, sein Image von Schwäche und Unentschlossenheit zu verstärken. Verschiedene Journalisten haben darauf hingewiesen, daß es nicht passend sei, daß ein Präsident mit internationalen Organisationen verhandele. In jedem Fall wird eine mögliche Erhöhung der Brennstoffpreise den Eindurck verstärken, der Präsident beuge sich dem Druck des IWF

Der Druck auf die Regierung, neue Anpassungsmaßnahmen zu beschließen, ist vor allem auf die gescheiterten Bemühungen gegründet, die Inflation einzudämmen. Obgleich die Regierung für 1993 eine Inflationsrate von 30 Prozent erwartet, beträgt die akkumulierte Inflation seit Anfang des Jahres bereits 20 Prozent, mit steigender Tendenz. Währenddessen wurde im Juli eine Lohnerhöhung von lediglich 6000 Sucres (3,20 US-Dollar) für den Grundlohn verabschiedet und 12000 Sucres zusätzlich als Inflationsausgleich, was für die Arbeiter*innen, die den Mindestlohn erhalten, eine Erhöhung von lediglich 13 Prozent darstellt; im Durchschnitt steigen die Löhne um weniger als zehn Prozent. Der monatliche Mindestlohn wurde zwar auf 83 US-Dollar erhöht, doch allein für Grundnahrungsmittel muß eine Person 105 Dollar ausgeben, eine Familie rund 350 Dollar.

Die Gewerkschaften bezeichneten die Lohnerhöhungen als einen Witz und erinnerten an den Nationalstreik, der im Mai gegen die Ankündigung eines neuen Maßnahmepakets begonnen und nach zwei Tagen zwar unterbrochen, nicht jedoch beendet wurde. Dieser Streik, der heftigste Arbeitskampf der letzten Jahre, könne zu jeder Zeit wieder fortgesetzt werden, drohen die Gewerkschaften.

Inflation hält an

Gleichzeitig treibt die Regierung die Privatisierung von Staatsbetrieben voran. Das Parlament hat vor kurzem jenen Teil des umstrittenen „Modernisierungsgesetzes“ verabschiedet, welches der Privatwirtschaft per Konzessionen den Zugriff auf Bereiche ermöglicht, die nach der Verfassung dem Staat vorbehalten sein sollen: Produktion und Handel mit Mineralien, Erzeugung und Verteilung von Strom, die Telekommunikation und die Wasserversorgung. Der Präsident des Parlaments urteilte, der Artikel 6 des Modernisierungsgesetzes sei verfassungswidrig und gegen die nationalen Interessen des Landes gerichtet.

KOLUMBIEN

Investitionsschutzabkommen mit England

(Bogotá, 4. August 1993, AC-POONAL).- Mit dem Vorsatz, das „Ansehen des Landes zu steigern und aufzuzeigen, daß es in Kolumbien nicht nur Gewalt, Guerilla und Terrorismus gibt“, reiste Präsident Gaviria nach England. Weitaus folgenreicher als die erhoffte Imagepflege wird jedoch ein bilaterales Investitionsschutz-Abkommen sein, dessen Unterzeichnung nach zehn Monaten Verhandlungen zwar im letzten Moment noch platzte; die Ratifizierung des Abkommens gilt jedoch grundätzlich als sicher.

Das Abkommen ist das erste dieser Art, das Kolumbien mit einem Industrieland auf der Basis der GATT-Kriterien und des nordamerikanischen Freihandelsabkommens abschließt. Es geht weit über bisherige Versuche hinaus, ausländische Investitionen zu fördern – auch wenn die Regierung hartnäckig das Gegenteil beteuert.

Ratifizierung scheiterte im letzten Moment

Das Investitionsschutzabkommen umfaßt alle Sektoren der komunbianischen Wirtschaft, es verändert die Beziehungen zwischen dem Staat und ausländischen Investoren grundsätzlich; auf lange Sicht wird die Möglichkeit künftiger Regierungen, die Entwicklung des Landes in bestimmte Richtungen zu steuern, stark eingeschränkt. Das Abkommen schränkt auch die Verpflichtungen ausländischer Unternehmen ein, Steuern und Abgaben zu zahlen.

Der Vertrag mit England soll als Modell für weitere Abkommen mit anderen Staaten dienen. Nach der Ratifizierung erwartet Kolumbien die Unterzeichnung von ähnlichen Verträgen mit den USA, Deutschland, Holland und eventuell Kanada. Mit diesen Ländern wurden bereits Verhandlungen aufgenommen.

Eine Übersicht über den Inhalt des Abkommens

1. „Nationale Behandlung“ der Auslandsinvestitionen

Das Abkommen basiert auf dem Prinzip der „nationalen Behandlung“. Nach Artikel 4.1 des Vertrages „unterwirft keine der beiden Seiten die Investitionen oder Gewinne der nationalen oder ausländischen Unternehmen ungünstigeren Bedingungen als sie für die eigenen Unternehmen gelten“. Kein Land darf … Investitionen durch willkürliche oder diskriminierende Maßnahmen schädigen“.

Das Prinzip der nationalen Behandlung ist kürzlich in das kolumbianische Gesetz aufgenommen worden. In dem Vertragstext wird die Definition des Gesetzes jedoch noch erweitert . Kritisiert wird zudem, daß ein internationales Abkommen über das kolumbianische Gesetz gestellt wird. Damit wird für kommende Regierungen die Möglichkeit der Begünstigung von kolumbianischen Unternehmen gegenüber ausländischen Investoren aufgehoben oder zumindest stark eingeschränkt. Die kolumbianischen Investoren werden den gleichen Konkurrenzbedingungen unterworfen wie die ausländischen Investoren, wobei der unterschiedliche Entwicklungsstand der beiden Länder keine Berücksichtigung mehr finden wird. Zudem wird die Möglichkeit des kolumbianischen Staates zur Steuerung von ausländischen Investitionen auf nationale Entwicklungsziele stark eingeschränkt.

2. Aufhebung der Kontrolle über die transnationalen Unternehmen

Das Abkommen schafft die Verpflichtungen der ausländischen Investoren, die sogenannten „Geschäftsbedingungen“ zu erfüllen, ab. Durch die „Geschäftsbedingungen“ regelte Kolumbien die Bedingungen für ausländischen Investitionen, zum Beispiel kann dies die Anstellung einer bestimmten Anzahl von Arbeiter*innen, die Investition des Gewinnes im Land oder der Technologietransfer und die Ausbildung der heimischen Bevölkerung sein. Diese Verpflichtungen entfallen künftig.

3. Die völlige Rückführung von Investitionen und Gewinnen

Beide Länder werden laut Abkommen „den uneingeschränkten Transfer ihrer Investitionen und Gewinne garantieren. Der Transfer kann ohne Verzögerung getätigt werden.“ Zusammen mit dem Artikel über die „nationale Behandlung bedeutet diese Regelung, daß die ausländischen Unternehmen keinerlei oder einen äußerst geringen Beitrag an die kolumbianische Wirtschaft leisten. Die uneingeschränkte Rückführung von Gewinnen kann zu schwerwiegenden Problemen in der Zahlungsbilanz Kolumbiens führen.

4. Verstaatlichungen werden verboten und Enteignungen eingeschränkt

Artikel 6 sieht vor, daß die „Investitionen nicht verstaatlicht, enteignet oder ähnlichen Maßnahmen unterworfen werden, ausgenommen in Fällen eines öffentlichen oder sozialen Interesses des Landes“. Der gleiche Artikel bestimmt auch, daß die Entschädigung im Falle einer Verstaatlichung „schnell, angemessen und effizient“ sein muß und dem „tatsächlichen Wert des Besitzes unmittelbar vor dessen Enteignung entsprechen muß, einen normalen Handelszinssatz miteinschließend“.

An diesem Punkt scheiterte die Ratifizierung des Vertrages, da die kolumbianische Regierung argumentierte, der Artikel verstoße gegen die Verfassung des Landes und könnte vom Obersten Gerichtshof als ungültig erklärt werden. Die englische Regierung von John Major beharrte jedoch auf dem Punkt. Die Kompromißlösung: Die Unterzeichnung wurde verschoben und die Verhandlungen wieder aufgenommen.

5. Die Investitionen werden in einem sehr weiten Sinn definiert

Durch einen sehr weiten Investitionsbegriff wird ein großer Sektor der kolumbianischen Wirtschaft für britische Investoren geöffnet würde. Die Definition der Investition schließt „jegliche Art der Aktienbeteiligung“ ein.

6. Lösung von Auseinandersetzungen wird internationalen Gerichten übergeben

Nach einem Tauziehen zwischen der kolumbianischen und der britischen Regierung über die zuständigen Gerichtsinstanzen bei Auseinandersetzungen wurde in dem Vertrag festgehalten, daß „ein Internationales Zentrum zur Lösung von Streitfragen bei Investitionen (ICSID) mit Sitz in New York beauftragt wird“, falls Konflikte nicht innerhalb von drei Monaten beigelegt werden. Die Beschränkung der Lösungssuche auf drei Monate untergräbt die Autorität des komunbianischen Rechtswesens und setzt die Bestimmungen des ICSID über jene des kolumbianischen Rechtes.

7. Entschädigungen für Investitionsverluste

Eine der umstrittensten Klauseln des Abkommens sichert den „Unternehmen, deren Investitionen aufgrund eines Krieges oder anderer bewaffneter Konflikte, Revolutionen oder Erhebungen Schaden erleiden, das Recht auf eine gleiche Entschädigung wie die kolumbianischen Unternehmen zu. Dies bedeutet, daß der kolumbianische Staat zum Beispiel British Petroleum entschädigen muß, wenn ihre Anlagen durch Anschläge der kolumbianischen Guerillabewegung beschädigt werden.

8. Das Abkommen hat eine Dauer von 20 Jahren

Nach Ablauf von 20 Jahren haben beide Seiten 12 Monate Zeit, einen neuen Vertrag auszuhandeln. Andernfalls werden die Bestimmungen weitere zehn Jahre gültig sein. Die lange Geltungsdauer war eine der Hauptforderungen der britischen Regierung.

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