Poonal Nr. 099

Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen Nr. 99 vom 28.06.1993

Inhalt


GUATEMALA

ARGENTINIEN

KOLUMBIEN


GUATEMALA

Unsicherer Anfang des neuen Präsidenten de León

– von Ileana Alamilla

(Mexiko, 22. Juni 1993, Cerigua-POONAL).- Der neue guatemaltekische Präsident Ramiro de León hat am 20. Juni ein Regierungsprogramm für die kommenden sechs Monate vorgestellt. Das Programm enthält keine klaren Positionen in den wichtigen innen- und wirtschaftspolitischen Fragen. Gleichzeitig scheint er die Einflußmöglichkeiten der Bevölkerung einschränken zu wollen. De León bezeichnete sein Programm als ein „nationales Übereinkommen“, das Orientierungen über seine zukünftige Regierungspolitik enthalte. Breiten Raum nehmen allgemeine Erklärungen über „Rechtschaffenheit, Strenge und Transparenz“ in der öffentlichen Verwaltung ein. Die zentralen Probleme des Landes wie zum Beispiel der bewaffnete Kampf, der Prozeß gegen die Putschisten, die Säuberung des Staatsapparates und der Streitkräfte sowie die krasse Armut der Mehrheit der Bevölkerung erwähnte der Präsident zwar, doch er machte keine konkreten Vorschläge.

Regierungserklärung: Nur unverbindliche Willensbekundungen

In Bezug auf den bewaffneten Konflikt beschränkte sich de Leon darauf zu wiederholen, daß sich die Aufstandsbewegung Revolutionäre Nationale Einheit Guatemalas (URNG) nach einem Friedensschluß in die zivile Gesellschaft eingliedern werde. Er ging jedoch nicht darauf ein, wie die Regierung die festgefahrenen Verhandlungen mit der Guerilla wieder in Gang bringen will. Die URNG hatte de León nach dessen Regierungsübernahme ein „Treffen der Annäherung“ vorgeschlagen. Der neue Präsident ging darauf nicht ein und betonte, daß es derzeit noch „keine definitive Position“ in Bezug auf den Dialog mit der Guerilla gebe, da er erst zwei Wochen im Amt sei und sich um andere Dinge hätte kümmern müssen. Dies bedeute jedoch nicht, daß der bewaffnete Konflikt für ihn kein wichtiges Thema sei. Die Aussagen de Leóns stehen in Kontrast zu den Stellungnahmen, die er zuvor in seiner Funktion als Menschenrechtsbeauftragter abgegeben hatte. In der Vergangenheit hatte er die Bürgerkriegsparteien wiederholt zu ernsthaftem Verhandeln ermahmt und den Abschluß von Teilabkommen unterstützt; er forderte die Kontrolle der paramilitärischen Zivilpatrouillen und kritisierte deren Zwangsrekrutierungen; er setzte sich für die Bildung einer Wahrheitskommision ein, die Menschenrechtsverletzungen aufklären sollte und in der er vermutlich eine wichtige Rolle übernommen hätte.

Die ambivalente Erklärung des neuen Präsidenten hat in Guatemala und im Ausland Enttäuschung hervorgerufen. Gaspar Ilom, ein Befehlshaber der URNG, bedauerte, daß der Amtsinhaber keine konkreten Antworten auf die Vorschläge der Aufstandsbewegung gegeben habe. Ilom, der sich derzeit auf einer Rundreise in Europa befindet, bezog sich auf Äußerungen von de León bei der Amtsübergabe des Verteidigungsministers, bei der er den abgesetzten General José García auszeichnete; García hatte bei dem Staatsstreich am 25. Mai eine zentrale Rolle gespielt. Die Auszeichnung Garcías stellt die Glaubwürdigkeit de Leóns nachhaltig in Frage. Er hatte versprochen, die Putschisten zu verurteilen, nun aber würdigt er einen der Protagonisten des Putsches in einer offiziellen Feier. Darüberhinaus hatte die Regierung bereits dem ebenfalls in den Staatsstreich verwickelten Exvizepräsidenten Gustavo Espina, der in die Botschaft Costa Ricas geflüchtet war, zugesichert, daß er das Land unbehelligt verlassen könne.

Präsident zeichnet Drahtzieher des Putsches aus

Unklar ist auch die Haltung des ehemaligen Menschenrechtsbeauftragten gegenüber der Beteiligung der zivilen Gesellschaft, die maßgeblich zum Scheitern des Putsches beigetragen hat. Die organisierte Bevölkerung soll nun über sogenannte „sektoriale Konsultativräte“, die auf der Ebene von Ministerien angesiedelt werden sollen, angehört werden. Ob dadurch tatsächlich eine stärkere Einflußnahme der Bevölkerung ermöglicht wird, ist fraglich. Befürchtet wird, daß durch die Konsultativräte die gesellschaftlichen Bewegungen zersplittert werden sollen. Der Amtsinhaber vermeidet es sorgfältig, sich festzulegen. „Wir werden ein großes nationales Übereinkommen präsentieren, das die Regierungspolitik für 1994 und 1995 bestimmt“, kündigte er mit großer Geste an, allerdings ohne seine künftige Politik genauer zu bezeichnen.

Der Präsident, von dem viele eindeutige Zeichen für einen demokratischen Wandel in Guatemala erhoffen, verfügt offensichtlich nicht über die Kraft, eine klare Regierungspolitik zu formulieren. Bislang ist es ihm nicht einmal gelungen, ein vollständiges Regierungskabinett zu bilden. Und die Minister und Mitarbeiter, auf die sich der neue Präsident bislang stützt, gehörten zum größten Teil bereits der alten Regierung an – Impulse für Reformen sind von ihnen kaum zu erwarten. Statt Aufbruchstimmung herrscht eine Atmosphäre des Wartens. Noch scheint nicht entschieden, welche gesellschaftlichen Kräfte sich durchsetzen und die künftige Regierungspolitik bestimmen werden. Der Machtanspruch der traditionellen Eliten, die das Land seit Jahrzehnten beherrschen, ist ungebrochen. Doch müssen sie sich mit den Forderungen der gesellschaftlichen Bewegungen nach einer stärkeren Partizipation auseinandersetzen. De Leon hat die Möglichkeit, diese Forderungen aufzunehmen und die gesellschaftliche Mobilisierung, die der Putschversuch ausgelöst hat, zu stärken. Doch bis zu dem jetzigen Zeitpunkt hat er es vorgezogen, auf die traditionellen Kräfte zu hören.

Schwierige Regierungsbildung

(Mexico City, 22. Juni 1993, NG-POONAL).-Korruption, Ungerechtigkeit, Trägheit und institutionelle Gewalt sind einige der Laster, die der neue guatemaltekische Präsident aus den Regierungsstrukturen entfernen muß, wenn er eine effiziente Administration schaffen will. Eine schwierige Aufgabe. Allein für die Zusammenstellung einer Arbeitsgruppe benötigte der Präsident mehr als 15 Tage und es gibt kaum Anzeichen, daß der Präsident die verkrusteten politischen Strukturen aufbrechen könnte. Die Tatsache, daß de Leon keiner politischen Partei angehört – was im ersten Moment als großer Vorteil erschien – hat sich nun in einen Nachteil verwandelt, um das Land aus der Krise zu führen.

Kabinett noch nicht vollständig

Bereits die Regierungsbildung erwies sich als ein Problem. Bis jetzt hat der Präsident lediglich Roberto Perussina Rivera zum Verteidigungsminister, Arturo Fajardo als Kanzler und Oscar Martínez Amaya, der bereits der Regierung von Serrano angehörte, zum Minister für Kommunikation und öffentliche Angelegenheiten ernannt. Mit Ausnahme von Fajado, wenngleich auch er ein Mann des Systems ist, sind die Personalentscheidungen auf Kritik gestoßen. Perussina wird verdächtigt, in den Militärputsch vom 25. Mai verwickelt zu sein und Martínez Amaya wird der Korruption beschuldigt. Verschiedene gesellschaftliche Organisationen fordern bereits den Rücktritt des neuen Verteidigungsministers und ein gerichtliches Verfahren gegen ihn, um seine Rolle in dem Putsch aufzuklären. Perussina hatte als Befehlshaber des Militärs während des Putsches Truppen in den Straßen der guatemaltekischen Städte auffahren lassen. De León Carpio übertrug das Präsidentschaftssekretariat dem Abgeordneten der konservativen Nationalen Zentrumsunion (UCN), Héctor Luna Trócolli. Der Kongreß der Republik hatte dagegen Arturo Herbruger Asturias als Vizepräsident des Landes aus einer Liste von drei Vorschlägen ausgewählt, die der Präsident vorlegte. Luna Trócolli leitete die Wirtschaftskommision des Parlamentes und gilt als einer der Antreiber der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen. Asturias stand mehr als zehn Jahre dem obersten Wahlgericht (TSE) vor, nachdem er von dem damaligen Militärdiktator General Efraín Ríos Montt ernannt wurde. Der Präsident, dem der Rückhalt einer Partei fehlt, stützt sich bei der „Umstellung der Staatsmacht“ auf eben jene Politiker, die für die Krise in Guatemala verantwortlich sind. Dies wird vor allem von den Gewerkschaften, den religiösen Sektoren und den Menschenrechtsgruppen kritisiert. Eine der Hauptforderungen der gesellschaftlichen Organisationen ist die Säuberung der Regierung, des Obersten Gerichtshofes und des Kongresses.

Präsident vertraut auf die alten Kräfte

Doch der neue Amtsinhaber muß sich noch riskanteren Herausforderungen stellen. So muß der Generalstab der Präsidentschaft (EMP) dem militärischen Bereich entzogen werden und der zivilen Kontrolle unterstellt werden. Dies haben die katholische Kirche und Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen gefordert. Dem EMP werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Er verfügt über unkrollierte Macht, ihm wird unterstellt, den vormaligen Präsidenten Serrano kontrolliert und in völlige Isolation und Entscheidungsunfähigkeit getrieben zu haben. Welche Unterstützung de León Carpio im In- und Ausland erfahren wird, hängt davon ab, ob er tatsächlich einschneidende Reformen beginnen wird und eine demokratische Umgestaltung in die Wege leiten wird. Wenn der Präsident die derzeitige Situation nutzt, kann er die Veränderungen erreichen, gestützt durch verantwortungsbewußte und ernsthafte Verhandlungen mit der Revolutionären Nationalen Einheit Guatemalas (URNG), um zu einem „beständigen und dauerhaften“ Frieden zu gelangen. Der innere bewaffnete Konflikt ist der Beweis für die Notwendigkeit und die Bedingungen, die der Präsident vorfinden wird bei dem Versuch, soziale Reformen durchzuführen. Soziale Reformen waren bislang jedoch immer ein Tabu für die mächtigsten Sektoren in Guatemala: Das Militär und die Oligarchie.

ARGENTINIEN

Unruhe in der Armee

(Buenos Aires, 8. Juni 1993, Argenfax-POONAL).- Die argentinischen Streitkräfte befinden sich in der „schwersten Krise dieses Jahrhunderts“, sagte der Admiral Emilio Osses. Eine Krise, die den neuen Verteididungsminister offenbar unvorbereitet trifft. Er habe nicht erwartet, daß er ein Ministerium mit derart geringem Budget und ein Heer, daß kaum mehr funktionstüchtig sei, zu übernehmen. Oscar Camillón ist bereits der vierte Verteidigungsminister in der Regierung Carlos Menems, er trat im 'April an die Stelle von Antonio Brinan González, der nun der Abgeordnetenliste der Partei Menems in der Hauptstadt vorsteht. Oscar Camillón war zuvor der persönliche Delegierte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Butros Gahli, um den Friedensplan auf Zypern in die Wege zu leiten und durchzuführen. Camillón hatte 1981, während der Dikatatur von General Roberto Viola, das Kanzleramt inne. Nach Aussagen von militärischen Quellen befinden sich die Streitkräfte momentan in einem Zustand der es ihnen unmöglich macht, ihre Aufgabe zu erfüllen – was sie allerdings nicht hindert, an dem Blauhelmeinsatz der UNO im früheren Jugoslawien teilzunehmen.

Piloten begehen Fahnenflucht

Vom finanziellen Mangel ist offensichtlich vor allem die Luftwaffe betroffen, deren Kapazität, nach Einschätzung von Experten, sich nur noch auf den Transport beschränkt und die in Wirklichkeit ihre Funktion als Kampfeinheit verloren habe. Die Militärstützpunkte im Inneren des Landes beschränken ihre Ausgaben auf bislang unvorstellbare Weise. Innerhalb der Luftwaffe macht sich der Unmut der Piloten bemerkbar, die mit immer weniger Materialien, Ersatzteilen und Treibstoff auskommen müssen. In der Armee ist die Situation nicht anders, die fehlenden Haushaltsmittel betrifft alle ihre Aktivitäten. Es wird davon ausgegangen, daß nur 25 Prozent der Panzereinheiten einsatzfähig sind. Die Eingliederung von neuen Soldaten in das Heer ist, aufgrund des Mangels an Essen und Kleidung, momentan schwierig und quantitativ weniger geworden. Die Befehlshaber bevorzugen Soldaten, die in der Nähe der Kaserne wohnen, um auf diese Weise Ausgaben zu sparen, auch wenn es sich dabei nur um ein Essen am Tag handelt. Das Militär hat den Befehl, so weit eben möglich, die wenigen Mittel, die aus dem Verteidigungsministerium kommen, zu sparen.

Die Ausbildung der Seestreitkräfte ist von 130 Tagen auf 25 bis 30 Tage im Jahr reduziert worden. Die Flugstreitkräfe innerhalb der Marine, die während des Kriegs um die Malvinen eine wichtige Rolle spielten, berichten immer häufiger von Fahnenflucht der Piloten. Ebenso fehle es an Geld für die Ausbildung von neuen Piloten. Die größte Sorge des Militärs ist jedoch die Frage, in welcher Zeitspanne das Heer einsatzbereit ist. Vor einigen Jahren ging man von etwa 45 Tagen aus, derzeit scheint diese Zeitspanne jedoch vollkommen unrealistisch zu sein. Der letzte Haushaltsplan wies dem Verteidigungsministerium 3.876.403.000 US-Dollar zu, was etwa 2.3 Prozent des Bruttoinlandsproduktprodukt entspricht, welches sich auf 168.306.000.000 US-Dollar beläuft.

Gehälter machen 80 Prozent des Gesamtbudget aus

Die Militärausgaben in Argentinien betragen 1.873.963.000 US- Dollar, das sind 1.1 Prozent des BSP und 4.7 Prozent des Gesamthaushalts. Allein 1.404.129 US-Dollar sind für Gehälter notwendig, das sind 80 Prozent des Militäretats. Dabei ist die Bezahlung in der Armee im Vergleich zum öffentlichen Verwaltungsbereich niedrig, was Unmut innerhalb der Streitkräfte auslöst. Die militärischen Institutionen haben versucht, sich an die Situation anzupassen und die Privatisierung der verschiedenen Unternehmen im militärischen Fabrikationsbereich hingenommen. Sie konnten auch nicht verhindern, daß der Bau der Rakete Condor II auf die Bitte des amerikanischen Botschafters Terende Todman verworfen wurde. Außerdem haben die Streitkräfte empfindliche Reduzierungen im zivilen und militärischen Personalbereich hinnehmen müssen.

„Verelendung bedroht die Demokratie“

– Gespräch mit dem Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel

von Viktor Sukup

(Buenos Aires, Juni 1993, APIA-POONAL)-.Frage: Wie lautet ihre Bilanz in Bezug auf die Menschenrechte?

Antwort: Für uns ist das Thema der Menschenrechte nicht von einem breiteren Zusammenhang zu trennen. Es handelt sich also nicht nur um individuelle Rechte, um Rechtsverletzungen wie Folter, Entführungen und Morde, wie sie unter der Diktatur so häufig waren, sondern auch um soziale Errungenschaften wie Gesundheit und Unterricht für alle. In dieser Sicht hat auch die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung mit den Menschenrechten zu tun, ebenso wie die politischen und sozialen Rechte. Was nun aber selbst diese letzteren betrifft, so würde ich die Bilanz als enttäuschend bezeichnen, selbst wenn wir da einige bedeutende Fortschritte hervorheben können.

Frage: Wie hat sich das demokratische Zusammenleben der Argentinier*innen nach Jahrzehnten von Intoleranz und chronischer politischer Instabilität entwickelt?

„Wir haben eine sehr schwache Demokratie“

Antwort: Ich glaube, dieses demokratische Zusammenleben ist eher formal als real. Es gibt einige Fortschritte in bezug auf die Teilnahme der Bevölkerung an den politischen, sozialen, kulturellen und gewerkschaftlichen Oragnisationen, aber andererseits sehen wir von seiten der Regierenden klare Defizite in puncto demokratischer Praxis. Ich würde vor allem sagen, auf der Grundlage der Straffreiheit für die enormen Verbrechen der Diktatur ist es unmöglich, einen wirklichen demokratischen Pozeß aufzubauen. Wir haben hier eine sehr schwache Demokratie, die unter schwerem Druck zu leiden hat, und zwar nicht nur seitens der Militärs, sondern auch der herrschenden wirtschaftlichen Interessen. Und dieser starke Druck preßt die Demokratie in eine sehr enge Zwangsjacke.

Frage: Was die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen betrifft, so haben ja Alfonsín und auch Menem ihre Regierungen unter sehr prekären Umständen angetreten. Was hätten sie tun sollen?

Antwort: Es muß da in Rechnung gestellt werden, daß Alfonsín sowohl im Land als auch international ursprünglich sehr viel Zustimmung gefunden hat. Aber schon in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft, als wir ihn zu unterstützen versuchten, wurde es uns langsam klar, daß er mit den Militärs verhandelt hatte. Die Urteile über ihre Verbrechen sollten von Miltärgerichten gefällt werden statt von den zivilen Bundesgerichten. Aus diesem Grund wollte ich auch nicht an der CONADEP, jener Kommission zur Untersuchung der Fälle der unter der Diktatur verschwundenen Personen, teilnehmen. Denn wir haben damals schon bei Alfonsín eine allzu konziliante Haltung gegenüber den Streitkräften gesehen, während die Bevölkerung, insbesondere die Organsiationen zur Verteidigung der Menschenrechte, dringend die Aufklärung der vergangenen Verbrechen als eine Art Reparation und Sühne forderte. Ich habe damals Alfonsín darauf hingewiesen, daß die Miltärs sich nicht selbst verurteilen werden. Schließlich wurde es ja dann auch notwendig, die Sache der zivilen Justiz zuzuleiten, um den Junta- Chefs den Prozeß zu machen. Das war zweifllos eine sehr positive Sache, das erste Mal, daß hier Verantwortliche für schwere Menschenrechtsverletzungen vor Gericht gestellt und verurteilt wurden, aber dazu ist es eher gegen den Willen Alfonsíns gekommen.

Frage: Wie ist man dann von dieser exemplarischen Bestrafung der Hauptverantwortlichen zu ihrer stufenweisen Begnadigung abgeglitten?

„Alfonsín hat dem Druck der Streitkräfte nachgegeben“

Antwort: Es ist ja dann ein starker Druck von seiten der Militärs und auch der herrschenden Kreise der Wirtschaft gekommen, mit mehreren Militärrebellionen, und Alfonsín hat nachgegeben, obwohl er sich der UNterstützung durch die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sicher sein konnte. Er hat damals verkündet, das Haus sei in Ordnung, aber er hat mit den Aufständischen verhandelt, und das Haus war in Wirklichkeit völlig durcheinander. Und von da an, würde ich sagen, hat seine Regierung sehr schnell an moralischer Autorität und Durchsetzungskraft verloren. Es kamen dann bald jenes „Schlußpunkzgesetz“ und dann das „Befehlsnotstandsgesetz“, die völlig abwegige juristische Entscheidungen darstellten. Mit diesen Gesetzen könnte man schließlich auch die Naziverbrechen weitgehend rechtfertigen. Das ist unverzeihlich in der Alfonsín- Regierung gewesen…

Frage: Und wie ging es dann 1989 mit Menem in dieser Sache weiter?

Antwort: Unter Menem hat es dann ebenfalls schwere Verletztungen der rechtsstaatlichen Prinzipien gegeben, im Widerspruch zur Unterstützung der Menschenrechte, wie Alfonsín vorher proklamiert hatte. Aber nach seinem Machtantritt hat er sich bemüht, alte Differenzen zwischen seiner Bewegung und den Streitkräften beizulegen, und das hat dann bald zur Begnadigung der im Gefängnis gebliebenen Militärs geführt. Sicher, die Verfassung sieht die Begnadigung durch den Präsidenten im Hinblick auf eine gewisse „Befriedigung“ des Landes vor, die nirgendwo klar definiert wird. Insofern sind also die Begnadigungen der Junta-Chefs und der anderen Verurteilten legal, nicht aber die von verschiedenen Militärs, denen damals noch der Prozeß gemacht wurde und bei denen Menem mit dieser Maßnahme eine ausgesprochen autoritäre und rechtlich völlig inakzeptable Haltung eingenommen hat. Also, er hat da all diese Verbrecher befreit, die Prozesse unterbrochen und damit das argentinische Volk in eine Lage juristischer Vogelfreiheit versetzt. Heute gibt es also in Argentinien so gut wie keine Justiz, die diesen Namen verdient.

„In Argentinien gibt es keine Justiz, die den Namen verdient“

Frage: Es gibt also in der Praxis keinen Rechtsstaat mehr?

Antwort: Nein, den gibt es nicht. Und Menem zeigt das mit einer Reihe von autoritären, personalistischen Maßnahmen wie der Erhöhung der Zahl der Richter des Obersten Gerichtshofs, um die judikative Gewalt völlig unter seine Kontrolle zu stellen. Alles in allem würde ich also sagen, daß beide Regierungen, sowohl die von Alfonsín als auch die von Menem, mit verschiedenen Methoden den Rechtsstaat geschwächt und keinesfalls konsolidiert haben.

Frage: Ein demokratischer Prozeß, der diesen Namen verdient, müßte auch im sozialen Bereich einige Voraussetzungen zeigen. Wie ist hier die Bilanz des Jahrzehnts?

Antwort: Die Lage hat sich deutlich verschlechtert, in erster Linie wegen der enormen Außenschuld, die auf unserem Land lastet. Dabei ist daran zu erinnern, daß diese ursprünglich ja privat war, aber dann vom Staat übernommen wurde und somit alle Argentinier*innen dafür zu zahlen haben. Wer damals als Zentralbankchef diese astronomische Schuld von einigen Privatleuten auf die Masse der Bevölkerung überwälzt hat, ist im übrigen Domingo Cavallo gewesen, damals hoher Funktionär der Diktatur und heute Wirtschaftsminister unter Menem. Heute also haben alle, insbesondere die zwei Drittel der Bevölkerung, die nunmehr weitgehend am Rande der Gesellschaft leben, für diese neoliberale Politik und ihre Folgen zu zahlen, darunter die steigende Arbeitslosigkeit und die Konsequenzen der Privatisierung nicht nur der Staatsbetriebe, sondern auch der öffentlichen Gesundheits- und Erziehungssysteme, all das unter dem Druck der vom Internationalen Währungsfonds diktierten sogenannten „Anpassungspläne“.

„Zwei Drittel der Bevölkerung leben am Rande der Gesellschaft“

Wir werden immer mehr zu einem Land ohne Produktionskapazität, und das führt selbstverständlich zur drastischen Verschlimmerung der sozialen Probleme. Früher zum Beispiel hat Argentinien, wie man in den Berichten der UNO und der Weltgesundheitsorganisation nachlesen kann, ein ausgesprochen gutes Niveaus im Gesundheitsbereich gehabt, heute aber breiten sich längst eingedämmte oder verschwundene Krankheiten wieder aus, wie Tuberkulose, Lepra, die Chagas-Krankheit und sogar die Cholera, eine typische Krankheit des Elends und der Elendsviertel, die ständig wachsen. Alles das ist letzen Endes Folge der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Diktatur, und die beiden letzten Regierungen haben da nicht effektiv entgegengesteuert, auch wenn es unter Alfonsín einige bescheidene Ansätze dazu gegeben hat. Unter Menem verschärft sich das noch drastisch, mit einer sich rasch ausbreitenden Arbeitslosigkeit als Folge der Privatisierungen,

Frage: Im Ausland wurde oft der neuen Demokratie Argentiniens und Lateinamerikas im allgemeinen heftiger Beifall zuteil, aber wenige haben sich gefragt, ob nicht das Problem der Außenschuld gelöst werden müßte, um nicht eben diese Demokratie finaziell abzuwürgen. Gibt es da nicht eine Art Schizophrenie?

Antwort: Ja, ich meine die Europäer nehmen allzu oft ihre eigenen Demokratie als Beispiel und glauben, die anderen danach beurteilen zu können. Aber in bezug auf unsere Region irren sie sich da ganz gewaltig. Hier sind wir erst in einem Übergangsprozeß, der zur Konsolidierung wirklich demokratischer Institutionen führen soll. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich sind ganz einfach die Voraussetzungen dafür nicht gegeben. Von welcher Demokratie können wir reden, wenn es immer mehr Elend, jeden tag mehr verlassene Straßenkinder gibt? Demokratie kann ja nicht nur bedeuten, daß man alle paar Jahre seine Stimme abgibt, das ist die Ausübung der Demokratie, nicht die Demokratie selbst – besonders wenn der neugewählte Präsident das Gegenteil von dem tut, was er vorher versprochen hat… Sicher, in der Wahlkampagne versprechen die Politiker*innen viel, und dann vergessen sie das oder können es einfach nicht. und aus allen diesen Gründen neigt die Demokratie dazu, ihr Ansehen zu verlieren, die Leute zeigen sich immer weniger an einer aktiven Teilnahme interessierrt.

Frage: Ist das nicht auch zum Teil Schuld der Massenmedien? Dabei wird gerade die Pressefreiheit als eine der großen Errungenschaften dieser Jahre gefeiert…

„Die Pressefreiheit wurde pervertiert“

Antwort: In Wirklichkeit gibt es eine Art Zensur, keine offizielle, ausdrückliche, aber niemand spricht mehr von Menschenrechten, das ist nahezu ein Tabu, fast genauso wie unter der Diktatur. Also, hier nocheinmal, von welcher Demokratie ist hier eigentlich die Rede? Ich würde sagen, die Pressefreiheit ist dem Monopol zum Opfer gefallen. das ist auch eine der Konsequenzen der Menem-Politik: Vorher konnten die Besitzer*innen der Presseorgane keine Radio- und Fernsehstationen erwerben, aber heute im Rahmen dieser Privatisierungswelle, beherrschen drei oder vier große Gruppen praktisch das ganze Spektrum der Massenmedien. Unabhängig davon sind nur ein paar kleine Gemeinschaftsradios und alternative Medien, und diese stehen unter dem Druck der Regierung, die sie beseitigen will. Also, wenn man hier von Pressefreiheit spricht, ist dieser Ausdruck genau genommen pervertiert.

Frage: Was würden Sie zur Haltung der Kirche in der neueren Vergangenheit sagen?

Antwort: Was die Hierarchie betrifft, so ist ihre Haltung als ausgesprochen negativ zu beurteilen. Sie hat insbesondere aus Schweigen und Komplizität bestanden, und der heutige Kardinal Quarracino hat sich öffentlich über die Begnadigungen gefreut. Mit wenigen Ausnahmen wie von Bischof Angelelli, der ermordet wurde, oder den Bischöfen Novak und Hessayne – hat sie sich ja auch damals gar nicht von der Diktatur distanziert, ein Bischof hat sogar die Folter als „reinigendes Blutbad“ gerechtfertigt. Anders hat es natürlich bei den Basisgemeinden ausgesehen. Viele von diesen wurden verfolgt, zahlreiche Missionare ermordet.

Frage: Die argentinische Kirche ist ja auch als besonders konservativ bekannt. Nichtsdestoweniger gab es hier in den letzten Jahren immer wieder kritische Aussagen zu sozialen Themen.

Die Kirche wurde zum Komplizen der Diktatur

Antwort: Einige Bischöfe haben ihre Stimme erhoben, und das ist ja schließlich auch ihre Aufgabe. Als Katholik bin ich ja kein Außenstehender hier, und eben daher ist es für unsereiner sehr schmerzhaft, festzustellen, daß die Kirchenhierarchie in ihrere großen Mehrheit wohl die gesamten Probleme der Gesellschaft kannte, aber nicht gegen die entsetzlichen Verbrechen protestiert hat und damit zur Komplizin geworden ist. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die Basisgemeinden meist sehr aktiv engagiert waren und sind. Das sind eben die großen Widersprüche innerhalb der katholischen Kirche Argentiniens.

KOLUMBIEN

Skandale um die Präsidentenfamilie

(Bogotá, Juni 1993, AC-POONAL).- Der kolumbianische Präsident Gaviría hat mit einem öffentlichen Brief sein langes Schweigen über verschiedene Gerüchte und Anschuldigungen gegen Familienangehörige des Präsidenten gebrochen. Stein des Anstosses waren die Vergabe eines großen öffentlichen Auftrages an den Bruder des Präsidenten, die mögliche unrechte Verwendung öffentlicher Gelder in einer gemischtwirtschaftlichen Stiftung und die Versicherungshändel eines Bruders der Präsidentengattin, Ana Milena Muñoz de Gaviria. Die Gerüchte begannen bereits vor einigen Monaten als Rodrigo Marin Bernal in einigen Massenmedien Juan Carlos Gaviria, den Bruder des Präsidenten, anklagte, von dem öffentlichen Unternehmen INURBE bevorzugt worden zu sein, um 7265 Sozialwohnungen zu bauen. Obwohl die Vergabe scheinbar legal ist, wird die mögliche Bevorzugung Juan Gavirias aufgrund seiner Verwandtschaft mit dem Präsidenten kritisiert. Juan Gaviria wird auch wegen seiner raschen Bereicherung angegriffen. Dabei geht es nicht nur um mögliche strafbare Handlungen, sondern auch um die Frage der Ethik.

Der Präsident bricht sein Schweigen

Wenige Wochen später wurde der Schwager des Präsidenten von Zeitungen als eindeutig Begünstigter dargestellt, um Versicherungen mit staatlichen Firmen abzuschließen. Später wurde die Gattin des Präsidenten, Ana Milena, zuerst vom Finanzaufsichtsrat und später von Politiker*innen und Journalist*innen wegen ihrer Beiträge aus öffentlichen Fonds an eine Stiftung zur Förderung der Erziehung im Ausland in der Höhe von etwa 12 Millionen US-Dollar hinterfragt. Einige Kommentator*innen wiesen darauf hin, daß die von der Präsidentengattin an „Colfuturo“ übergebenen „Unterstützungsbeiträge“ gegen die Verfassung verstoßen, da diese ausdrücklich die Investition öffentlicher Gelder bei privaten Institutionen verbietet. Der Präsident seine Gattin, seine Familienangehörigen und die Massenmedien der Wirtschaftskreise stimmen in ihrer Argumentation darin überein, daß „Colfuturo“ eine gemischtwirtschaftliche Institution sei und daher öffentliche Gelder erhalten könne. Nachdem Gaviria in einem Leitartikel der kolumbianischen Zeitung „El Espectador“ wegen seines Schweigens kritisiert worden war, richtete er einen Brief an die Redaktion. In diesem teilte er mit, daß seine Administration von Anfang an durch die Modernisierungsdekrete die Korruption bekämpft habe. In bezug auf seinen Bruder und den Schwager meinte Gaviria, daß er der Staatsanwaltschaft nahegelegt habe, die Fälle zu untersuchen.

Zur Verteidigung der Präsidentengattin wurde in der Zeitung „El Tiempo Editorale“ geschrieben, Radio und Fernsehen sendeten Beiträge zu ihrer Rechtfertigung, wobei sie nur die offizielle Version wiedergaben und die kritischen Äußerungen auf ein Minimum reduzierten. Die Tat Muñoz de Gaviria bezeichneten sie als „noble Idee“. Die Wirtschaftskreise (Sarmiento Angulo, Ardila Lule, Santo Domingo, Besitzer von Radio und TV) und die Mitglieder von „Colfuturo“ meinten, daß „die Stiftung sowohl von privater wie von öffentlicher Seite Unterstützungsbeiträge bekommt, welche der sozialen Zielsetzung von Colfuturo zugute kommen und korrekt und transparent gehandhabt worden sind“. Aber diese Solidarität ist nicht umsonst, da diese Wirtschaftsgruppen im Moment über Funktelefon-Verträge verhandeln, die millionenschwere Gewinne abwerfen werden. Der Staatsanwalt versuchte die Gemüter der Journalist*innen und Politiker*innen zu beruhigen und forderte zu einem verantwortungsvollen und ernsthaften Umgang mit den Themen Korruption und „Colfututro“ auf, damit diese nicht zu Schlachtpferden in den Wahlkampagnen werden. Arrieta Padilla fügte hinzu, daß die Staatsanwaltschaft das Thema, aufgrund der gesetzlichen Zweifel über die Beiträge, der Überschreitung von Budgetnormen und der Nichtbeachtung der Statuten öffentlicher Unternehmen untersuchen werde. Für andere Meinungssektoren zeigen die Ereignisse um die Präsidentenfamilie, daß Handlungen zwar innerhalb der Legalität, aber nicht nach den ethischen Prinzipien einer sich demokratisch nennenden Gesellschaft begangen werden. Zudem ist es fragwürdig, daß Muñoz de Gaviria in die Vergabe öffentlicher Gelder eingreifen kann, ohne daß sich die Direktoren der staatlichen Firmen dagegen wehren. Andrerseits werden auch die sozialen Interessen der Stipendien von Colfuturo hinterfragt. Kommen diese tatsächlich den weniger begünstigten Schichten zugute oder spart sich damit der private Sektor die Ausbildungskosten der zukünftigen UnternehmerInnen? Rechtfertigt sich überhaupt die Schaffung einer gemischtwirtschaftlichen Institution, wenn bereits eine offizielle Institution mit der Bildungsförderung im Ausland beauftragt ist? Warum dieser Parallelismus bei Investitionen der Regierung?

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