Polizeigewalt fordert zunehmend zivile Opfer in Rio de Janeiro

von Andreas Behn

(Berlin, 20. August 2008, npl).- Gewaltakte der Polizei gehören zum Alltag in Rio de Janeiro. Jeden Tag kommt es in den zahlreichen Armenvierteln der Touristenmetropole zu Schießereien zwischen Beamten und Kriminellen, zumeist mit Todesopfern. Dabei handelt es sich in der Regel um „Drogenhändler“, eine juristische Untersuchung findet nicht statt.

Aufsehen erregte Anfang August die Erschießung von zehn Menschen im Vorort Duque de Caxias bei einem Einsatz der Militärpolizei. Auslöser des Massakers soll ein gestohlener Bierlastwagen gewesen sein, und wieder einmal waren alle Toten laut Polizeiangaben „Kriminelle“. Statistiken zufolge tötete die Polizei im Jahr 2007 im Bundesstaat Rio de Janeiro jede Woche 25 Menschen, ein Durchschnitt, der an die schlimmsten Gewaltwellen in den 1990er Jahren erinnert. Sogar der UN-Sonderberichterstatter Philip Alston sah sich Ende vergangenen Jahres gezwungen, die Zustände mit harten Worten zu kritisieren und prangerte an, das mutmaßliche Hinrichtungen seitens Uniformierter als Akte der Notwehr gerechtfertigt würden.

Verantwortlich für die Zunahme der zivilen Opfer ist Gouverneur Sergio Cabral, der in der Sicherheitspolitik auf eine harte Linie setzt. Unterstützung erfährt er dabei nicht nur von seinem politischen Verbündeten, Präsident Inácio Lula da Silva, sondern auch von großen Teilen der Bevölkerung aller Schichten, die darauf hoffen, dass der grassierenden Kriminalität in der Stadt Einhalt geboten wird. Menschenrechtsorganisationen wie Justiça Global hingegen halten den eingeschlagenen Weg für fatal. Die Zahl der Opfer – zumeist junge Männer aus armen Stadtvierteln und selten weißer Hautfarbe – steige stetig an, während die Polizei mangels Ausbildung und vernünftiger Bezahlung weder in der Lage und oftmals auch nicht willens sei, dem Verbrechen etwas entgegen zu setzen.

Das Gewaltproblem in Rio de Janeiro, wie in den meisten Großstädten Brasiliens, geht weit über die reine Beschaffungskriminalität hinaus. Die oft unzugänglichen Favelas sind zu Bastionen von miteinander rivalisierenden Banden geworden, die sich vor allem mit Drogenhandel bereichern und bis hin zu einer eigenen Justiz parallelstaatliche Strukturen aufgebaut haben. Hinzu kommen seit einigen Jahren sogenannte Milizen, die aus ehemaligen oder aktiven Polizeibeamten, Feuerwehrleuten und zwielichtigen Politikern bestehen. Diese Milizen vertreiben die Drogenbanden, um ihr eigenes mafiöses Regime von Schutzgeldzahlung und Gewaltandrohung zu errichten.

Das Ausmaß des Problems wird deutlich, wenn man sich die Verstrickungen untereinander vor Augen hält. Während sich die verschiedenen Drogenbanden-Fraktionen und die Milizen regelmäßig wie Bürgerkriegsparteien mit schweren Waffen bekämpfen, steckt die Polizei bzw. deren unterschiedliche Einheiten wahlweise mit allen unter einer Decke. Die engen Drähte der Korporationen zu Milizen und amtierenden korrupten Politikern sind oftmals aktenkundig, ohne dass die geschwächte Justiz –von einigen spektakulären Festnahmeaktionen abgesehen – dagegen vorgeht. Zugleich zweifelt kaum jemand daran, dass insbesondere die Militärpolizei die Drogenbanden gewähren lassen, sofern sie ihren nicht unerheblichen Anteil an den illegalen Geschäften pünktlich ausgezahlt bekommen.

Jüngstes Beispiel solcher Verstrickungen war Mitte Juni die Festnahme von drei Jugendlichen in einer Favela im Zentrum von Rio de Janeiro durch Angehörige der Armee. Die Uniformierten lieferten die drei einer rivalisierenden Drogenbande aus, die sie bestialisch ermordete.

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