Politisches Tauziehen um Menschenrechte

Menschenrechtslage hat sich grundlegend verschlechtert

Eine von ihnen ist Liliana Ortega. Die Direktorin der Menschenrechtsorganisation COFAVIC zeichnet ein düsteres Bild. „Die Menschenrechtslage in Venezuela hat sich grundlegend verschlechtert. Ein Grund dafür ist die Zunahme der Straffreiheit.“ Zwar sei Straflosigkeit kein neues Problem, sagt Ortega, aber das Ausmaß sei mittlerweile dramatisch und die Folgen auch: „Venezuela ist heute eines der gewalttätigsten Länder der Welt.“

Vor allem Frauen suchen Hilfe bei COFAVIC, lassen sich beraten oder nehmen an Selbsthilfegruppen teil. Die Anwält*innen der Organisation begleiten hunderte Fälle. Sie machen Anzeigen und arbeiten mit internationalen Organisationen zusammen. Es geht nicht um herkömmliche Verbrechen, sondern nur um Gewalttaten, die von Polizisten oder Militärs begangen wurden. Neben der Straffreiheit moniert Ortega vor allem die mangelnde Gewaltenteilung. “Bei uns herrscht ein eklatanter Mangel an Demokratie in den Institutionen. Die Justiz und viele öffentliche Einrichtungen können nicht autonom handeln“, so die Menschenrechtlerin.

COFAVIC entstand nach dem „Caracazo“

COFAVIC entstand im Jahr 1989, nach dem sogenannten Caracazo. Tausende protestierten damals gegen ein Paket von Sparmaßnahmen. Die sozialdemokratische, aber sehr autoritäre Regierung schlug den Aufstand blutig nieder. Über 500 Menschen kamen nach offiziellen Angaben ums Leben, Menschenrechtler*innen sprechen von tausenden Opfern.

Der Caracazo war ein Wendepunkt in der venezolanischen Geschichte. Das brutale Vorgehen gegen die Menschen aus den Armenvierteln gilt als Ausgangspunkt einer sozialen Umwälzung, die zehn Jahre später Hugo Chávez an die Macht brachte. Doch heute steckt der von Chávez propagierte Sozialismus des 21. Jahrhunderts in einer tiefen Krise.

Akute Versorgungsengpässe machen den Alltag zur Last, die Inflation galoppiert und die Wirtschaft schrumpft. Zudem ist das Land in Pro und Contra Chavismus gespalten. Betreuung von Gewaltopfern steht im Mittelpunkt Liliana Ortega und COFAVIC stehen wie zu Zeiten des Caracazo auf Seiten der Opfer staatlicher Gewalt. Die Menschenrechtlerin wirft der Regierung vor, autoritär und mit repressiven Methoden gegen Kritiker*innen vorzugehen. Wie die konservative Opposition spricht sie von einem Regime, das andere Meinungen mit Gewalt unterdrückt. Dabei geht es insbesondere um die umstrittenen Massenproteste der Opposition Anfang 2014.

Über 40 Menschen kamen damals ums Leben, Hunderte wurden verletzt und Tausende festgenommen. Einige führende Oppositionspolitiker sitzen seit über einem Jahr im Gefängnis, ihnen wird Aufstachlung zu Gewalttaten und die Beteiligung an Putschplänen vorgeworfen. Im Juni traten sie für mehrere Wochen in einen Hungerstreik – unter anderem, um ihre Freilassung durchzusetzen.

Einschätzungen zu Protesten von 2014 gehen weit auseinander

Liliana Ortega beklagt das Vorgehen bei den Festnahmen und den folgenden Prozessen: „In mehreren Fällen sind Menschen willkürlich festgenommen worden. Und noch bevor es ein Gerichtsurteil gibt, verkündet die Regierung das Schicksal der Angeklagten.“ Für Ortega handelt es sich um Vorverurteilungen, die mit einem Rechtsstaat nicht vereinbar sind.

Die Einschätzungen über die damaligen Demonstrationen und die Ziele der Organisator*innen gehen in Venezuela allerdings weit auseinander. Die gewalttätige Protestwelle ist damals vom radikalen Flügel der Opposition organisiert worden. Kurz zuvor hatte die konservative Opposition die Wahlen verloren, bei denen Nicolás Maduro, der vom krebskranken Chávez auserwählte Nachfolger, zum Präsidenten gewählt wurde.

Für Julio Fermin, bildungspolitischer Berater von Stadtteilräten in Caracas, hat die Opposition die Eskalation gezielt provoziert. Ein Demokratie-Defizit sieht er auf Seiten der Rechten, vor allem bei der radikalen Minderheit im breiten Oppositionsbündnis MUD. „Ein Teil der Opposition setzt auf Gewalt und Destabilisierung. Diese radikalen Gruppen torpedierten alle Versuche der Regierung, nach ihrem Wahlsieg einen Dialog mit den verschiedenen politischen Kräfte einzuleiten“.

Fermin ist überzeugt, dass dieser Teil der Opposition, der damals eine Bewegung namens La Salida – übersetzt ‘Der Ausweg’ – ins Leben rief, eine politische Verständigung mittels Konfrontation verhindern wollte. „Ihre Absicht war eindeutig: Die Leute sollten jede Art von Dialog, ein Entgegenkommen oder auch Wahlen vergessen, um nach einem anderen Weg zur Absetzung der Regierung zu suchen.“

Menschenrechte und Meinungsmache

Julio Fermin leitet die Bindungseinrichtung EFIP, die seit über 20 Jahren Jugendlichen aus Armenvierteln Weiterbildung und Unterstützung im Alltag anbietet. Seiner Meinung nach werden die Menschenrechte von einigen dazu missbraucht, politische Meinungsmache zu betreiben. Auch hinterfragt er die Haltung vieler Oppositioneller, die von ‘politischen Gefangenen’ in Venezuela sprechen. „Noch heute wird von ‘den verhafteten Studenten’ gesprochen. Es stimmt, dass 30 oder 40 im Gefängnis sitzen, aber nicht alle sind Studenten.“ Sie seien im Gefängnis, weil sie bei Angriffen auf Institutionen dabei waren, bei Brandanschlägen auf die U-Bahn oder auf Busse. „Und sie sind rechtskräftig verurteilt worden“, ergänzt Fermin.

Genauso wie Oppositionelle meist völlig überzeugt sind, dass der Staat brutal und repressiv gegen Demonstrant*innen vorgegangen sei, sind Unterstützer*innen der chavistischen Regierung der Meinung, dass die Organisator*innen des Protests gezielt Gewalt einsetzten, um Konfrontationen zu provozieren. Julio Fermin erinnert daran, dass 43 Menschen im Verlauf der Proteste getötet wurden, darunter viele Unbeteiligte und auch Polizisten.

Er findet, dass Brandstifter*innen und Hetzer*innen nicht als Opfer von Menschenrechtsverletzungen bezeichnet werden können: „Die Ursache der hohen Opferzahl war eindeutig die Art und Weise des Protests“, erklärt Fermin, der auch die Maßnahmen der Regierung verteidigt: „Sie verhaftete die Gewalttäter. Es ging um die öffentliche Ordnung, war aber nicht unbedingt ein repressives Vorgehen.“

Konfrontation geht in die nächste Runde

Die politische Polarisierung macht eine differenzierte Betrachtung der Menschenrechtsfrage in Venezuela fast unmöglich. Wie so viele andere Themen werden auch sie für oder gegen ein bestimmtes politisches Lager in Stellung gebracht. Gegenseitiges Verständnis gibt es kaum.

Umso weniger ist nachvollziehbar, weshalb sich mehrere ehemalige lateinamerikanische Ex-Präsidenten und sogar Spaniens früherer Premierminister Felipe Gonzáles an dem Tauziehen um die Menschenrechte beteiligen. Auf Einladung der Opposition reisten sie nach Venezuela, angeblich um auf die ‘Lage der politischen Gefangenen’ aufmerksam zu machen. Dementsprechend harsch reagierte die Regierung. Und die Konfrontation geht in die nächste Runde.

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