Operation ‚Narben von Ayotzinapa‘

Heute, vier Monate nach den Schießereien und den Verschleppungen, beginnt der zweite Teil der Operation ‚Narben von Ayotzinapa‘. Er besteht hauptsächlich darin, die BesitzerInnen der am meisten beachteten Massenmedien davon zu überzeugen, das Thema Ayotzinapa aus den Schlagzeilen verschwinden lassen, so dass es sich auflöst. Gleichzeitig verdeutlichen die ‚Manager des Geldes‘ den Medien als Instanz, die – im Einklang mit unternehmerischen Kriterien – entscheidet, über welche wichtigen sozialen Themen entweder berichtet wird oder welche man ignoriert, dass sie auch diejenigen sind, die die Werbung in den Medien bezahlen.

Für keine durchschnittlich informierte Person ist es daher eine Überraschung, dass man versucht, den Schleier der Normalität über die Zwangsverschleppung der Studenten zu legen – auf der Grundlage, dass es „schwierige“ Bürger gewesen seien, unerwünscht und „potentielle Guerrilleros“.

Ayotzinapa befindet sich auf Guerilla-Gebiet. Dem Gebiet, welches den berühmten Lucio Cabañas hervorbrachte, Kommandant der Bauernbrigade der Hinrichtung (Brigada Campesina de Ajusticiamiento). Er studierte Lehramt an der Landschule (Escuela Normal Rural) von Ayotzinapa.

Lucio wurde vor 41 Jahren von der mexikanischen Armee mit Kugeln durchsiebt, nachdem er und seine Gruppe den Ex-Gouverneur des Bundesstaates Guerrero entführt hatten. Cabañas war damals zur Legende geworden, als er die LandarbeiterInnen von Guerrero gegenüber UnternehmerInnen und PolitikerInnen verteidigt hatte. Letztgenannte hatten den Landbesitz der Bauern und Bäuerinnen gestohlen und damit ganze Dörfer in Armut gestürzt.

Heutzutage nehmen sozialistische Grundsätze und Aktivitäten 60 Prozent des Lehrplanes der Landschule von Ayotzinapa, in der auch die verschwundenen Studenten unterrichtet wurden, ein. Da geht es etwa um die Verteidigung von Landbesitz, den Kampf gegen Rassismus und wirtschaftlichen sowie politischen Neoliberalismus oder Gleichheit und Einkommensgerechtigkeit – in einem Bundesstaat, der durch den Tourismus reich geworden ist.

Falls es Ihnen nicht bekannt ist – seit 40 Jahren müssen die Lehrer der Landschulen die Regierung jedes Jahr erneut darum bitten, zur Einschreibung aufrufen zu dürfen. Sie erbitten jedes Jahr erneut finanzielle Mittel für die Bildung – und mit der Zeit sind sie dieser Bitten überdrüssig geworden. Die autoritäre Regierung von Guerrero spielt diese Spiel bis zur Perfektion: Sie verhandelt jedes Jahr über das Recht auf Ausbildung und Gedankenfreiheit.

Die autoritäre Regierung des Bundesstaates Guerrero spielt diese Karte bis zur Perfektion aus. Sie verhandelt ihren Interessen gemäß mit den korrupten Mitgliedern der Lehrerverbände jeder staatlichen Schule (nicht nur mit denen der Landschulen) wie mit Marionetten. Den Geheimdiensten ist dies bestens bekannt.

Die Verbände drohen damit, den ganzen Bildungsapparat lahmzulegen. Der amtierende Gouverneur fühlt sich ‚erpresst‘, akzeptiert aber, Barmittel an die korrupten Mitglieder der Lehrerverbände auszuhändigen, anstatt auf transparente Art und Weise in die Bildung des ganzen Bundesstaates zu investieren. Daran waren beide Parteien, sowohl die Partei der institutionalisierten Revolution PRI (Partido Revolucionario Institucional) als auch die Partei der Demokratischen Revolution PRD (Partido de la Revolución Democrática) beteiligt.

Es ist klar, dass es sich bei den 43 Studenten nicht um untertänige, indigene junge Menschen handelt, um LehrerInnen, die davon träumen, den Jungen und Mädchen Lesen und Schreiben beizubringen, damit diese dann eventuell einer kümmerlichen Arbeit nachgehen können. Sie träumten davon, zu arbeiten, ihre Rechte zu verteidigen und in Würde zu leben.

Die 43 sind – oder waren – junge Menschen, vorbereitet auf das Leben, auf die Politik, auf den Kampf gegen Unterdrückung. Sie sind oder waren informiert, organisiert, intelligent, rebellisch und sehr wahrscheinlich aufgebracht und wütend über die Art und Weise, wie ihr Bundesstaat und ihr Land sie seit ihrer Geburt behandelt hat.

Tot oder lebendig – wir sprechen über Aktivisten, die auszogen, um einen Kampf zu führen, über den die Nachrichtendienste des Staates informiert waren. Junge Menschen, abgehärtet gegenüber der Drogen-Regierung, aber auch ihrer überdrüssig. Sie wollten ein freies, unbeschadetes und gerechtes Leben für alle.

In der Tat gibt es im Zusammenhang mit diesem Fall Gruppen, die andere Interessen vertreten. Es wäre unmöglich, diesen Fall gegen die korrupten OpportunistInnen abzuschirmen (jeder Fall dieser Tragweite geht mit Komplikationen einher). Aber die Forderungen der Studenten sind gültig und ihr Leben ist wichtig.

Das Wesentliche – neben der strafrechtlichen Verfolgung – ist die Antwort in Form einer Lösung, die die Probleme an der Wurzel packt: Dass die Demonstrationen, die Gerechtigkeit fordern, eine Bewegung für eine kostenfreie, säkulare und hochwertige Bildung im gesamten Bundesstaat Guerrero in Gang setzen.

Dass wir sicherstellen, dass die Landschulen geöffnet bleiben, dass sie funktionieren, dass die notwendigen Mittel vorhanden sind, ebenso wie Bücher und Mittel für den Unterhalt der Maisfelder und der Zuchttiere.

Dass wir sicherstellen, dass es in dem gesamten ländlichen Gebiet von Guerrero Kliniken gibt und Zugang zu Trinkwasser, dass ökologische Lebensmodelle mit einem eigenen Maisfeld, unterstützt werden, ebenso wie die Pläne zur Förderung der Kultur und zur Verteidigung der Umwelt.

Wir dürfen uns nicht ablenken lassen, denn: Ja, es gibt eine Lösung für Ayotzinapa. Doch diese liegt nicht auf dem Feld der Kriminalität sondern auf dem Gebiet der sozialen Gerechtigkeit und der menschlichen Sicherheit. Wir haben zu lange den Mantel des Schweigens ausgebreitet, Gefängnisse mit vermeintlich Schuldigen gefüllt und sinnlose Überlegungen ohne Beweise angestellt.

Währenddessen spaltet sich diese Gesellschaft immer mehr und VertreterInnen der Behörden arbeiten gemeinsam mit einigen UnternehmerInnen daran, die Zwangsverschleppungen von AktivistInnen und MenschenrechtsverteidigerInnnen als normal und als exemplarische Strafe abzutun.

Es ist zu wünschen, dass die Ausgaben für Bildung im Bundesstaat Guerrero transparent gemacht werden und, dass der Übergangs-Gouverneur – anstatt Informationen zu filtern – sagt, wer ihn wie und wann erpresst.

Ja, die 43 Studenten sind, wie Millionen andere in diesem Land auch, Anhänger einer sozialistischen Ideologie. Das macht sie aber nicht weniger zu Bürgern, ganz im Gegenteil, es zeichnet sie als solidarischer aus und sich der Bedeutung von Bildung und Menschenrechten bewusst. Für sie um Gerechtigkeit zu bitten, bedeutet daher auch, auf die Wurzel der Probleme hinzuweisen, die sie in Gefahr gebracht haben.

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*Plan ‚B‘ ist eine Kolumne, deren Namen auf die Annahme zurückgeht, dass es immer noch eine zweite Art und Weise gibt, Dinge und andere Themen zu betrachten. Eine Art und Weise, die wahrscheinlich von dem traditionellen Weg, oder dem Plan ‚A‘ nicht abgedeckt wird.

CC BY-SA 4.0 Operation ‚Narben von Ayotzinapa‘ von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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