Oberster Gerichtshof lehnt Verfassungsklage gegen Anti-Abtreibungsreformen ab

(Mexiko-Stadt, 28. September 2011, cimac/poonal).- Just am „Tag für die Entkriminalisierung der Abtreibung“ in Lateinamerika und der Karibik lehnte der Oberste Gerichtshof Mexikos SCJN (Suprema Corte de Justicia de la Nación) eine Klage ab, mit der eine Verfassungsreform in Baja California (BC) für ungültig erklärt werden sollte. Durch die Reform verpflichtet sich der Bundesstaat zum „Schutz des Lebens ab dem Zeitpunkt der Empfängnis“, wodurch Abtreibung zur Straftat wird und somit nach Ansicht der Kläger*innen die Rechte der Frauen verletzt werden.

Obwohl sieben der elf Verfassungsrichter*innen sich gegen den Artikel 7 der Regionalverfassung von BC aussprachen, fehlte noch eine Stimme, um die Norm für verfassungswidrig zu erklären. Der Abstimmung vorausgegangen waren drei Tage polarisierender Debatten sowohl unter den Richter*innen als auch in der mexikanischen Öffentlichkeit. Auch Präsident Felipe Calderón und seine Ehefrau, Margarita Zavala, beteiligten sich an der Diskussion und machten sich für den sogenannten „Schutz des Lebens“ stark.

“Die Rechte des ungeborenen Lebens”

Am 28. September, dem Tag der Urteilsverkündung, demonstrierte eine Gruppe mexikanischer Frauen vor dem Sitz des SCJN, um den feministischen Forderungen auf freiwillige Mutterschaft und das Recht auf Abtreibung Nachdruck zu verleihen und die Richter*innen aufzufordern, sich für das „Recht auf freie Entscheidung“ der Frauen einzusetzen. Während draußen die Aktivistinnen protestierten, betonte Richter Pardo Rebolledo hingegen im Gerichtssaal, dass BC nur ein Gesetz konkretisiert habe, das bereits in der mexikanischen Verfassung verankert sei: das „Recht auf Leben“. Daher könne die Reform auch nicht gegen die Verfassung verstoßen. Rebolledo betonte, er setze sich auch für die Rechte der Frauen ein, die „gleichermaßen respektiert und geschützt werden müssen“. Jedoch gebe es „in der mexikanischen Verfassung keine Ausnahme vom Recht auf Leben“, daher gelte dieses Recht auch für ‚ungeborenes Leben‘.

Im Jahr 2008 noch hatte derselbe Gerichtshof eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes in Mexiko D.F. für verfassungskonform erklärt. Der Distrito Federal ist seitdem der einzige Bundesstaat Mexikos, in dem eine Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlaubt ist. Die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes, die damals noch für die Liberalisierung und nun für die restriktive Reform in BC stimmten, sehen in ihrem Abstimmungsverhalten keinen Widerspruch. So betonte Richterin Luna Ramos, sie sei nie für die Entkriminalisierung der Abtreibung gewesen, lehne aber auch ab, dass Frauen für diese Entscheidung bestraft werden. „Mein Votum gründet auf der Überzeugung, dass die lokalen Gesetzgebungen das Recht haben, die Normen frei auszulegen, um Situationen wie diese zu regeln“, so die Richterin.

Für die Würde der Frauen Am 23. Oktober 2008 hatte der Kongress von BC mit 21 zu drei Stimmen die Reform des Artikels 7 angenommen, in dem nun das „Individuum ab dem Zeitpunkt der Befruchtung unter dem Schutz des Gesetzes“ steht. Weitere 16 Bundesstaaten haben in jüngerer Vergangenheit unter dem Druck konservativer Kreise und der katholischen Kirche ihre Regionalverfassungen im gleichen Sinne verändert. Richter Arturo Zaldívar Lelo de Larrea betonte diesbezüglich, dass jedoch auch Mehrheiten im Kongress die Menschenrechte der Frauen respektieren müssten. Durch die neuen Gesetzgebungen gegen Abtreibung würden die Frauenrechte jedoch verletzt. Besonders treffe das Gesetz, wie meist in solchen Fällen, die Ärmsten und Schwächsten in der Gesellschaft, wodurch es nicht nur „zutiefst ungerecht, sondern zugleich offen diskriminierend und daher verfassungswidrig“ sei.

Unter anderem verstoße die Norm in BC gegen „die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen“ und damit gegen Artikel eins der mexikanischen Verfassung, so der Richter. Die Würde der Frauen bestehe nämlich auch darin, das Recht zu haben durch Verhütungsmittel eine Schwangerschaft zu vermeiden, unter bestimmten Umständen jederzeit ohne Strafverfolgung eine Abtreibung durchzuführen sowie eine gewisse Zeit zu haben, in der sie frei entscheiden können, ob sie die Schwangerschaft fortführen wollen oder nicht.

“Wir sind alle für das Leben“

Obwohl die Mehrheit der elf Richter der Ansicht war, dass die Anti-Abtreibungs-Norm verfassungswidrig sei und dass die Bundesstaaten nicht das Recht hätten, festzulegen, ab welchem Zeitpunkt das menschliche Leben beginnt, wurde die erforderliche Mehrheit von acht Stimmen, um das Gesetz zu kippen, nicht erreicht.

Richter Fernando Franco González, der gegen die Reform gestimmt hatte, betonte nach der Entscheidung, dass alle Richter und Richterinnen „für das Leben“ seien. Vielmehr wäre es um die Frage gegangen, wer die Kompetenz habe zu bestimmen, wann das Leben beginne. Er wies darauf hin, dass die Regionalverfassung von BC nun den Frauen keinerlei Möglichkeit mehr lasse, ihre Schwangerschaft abzubrechen, da das Gesetz die befruchtete Eizelle unter totalen Schutz stelle.

Diese Gesetzgebung hat besonders für die Opfer sexualisierter Gewalt schwere Folgen. Offiziellen Angaben zufolge wird in Mexiko alle vier Minuten eine Frau vergewaltigt, unabhängige Institutionen sprechen gar von fast einer halben Million Opfer pro Jahr. Selbst diesen Frauen wird, bisweilen unter Androhung mehrerer Jahre Haft, der Schwangerschaftsabbruch verwehrt. Der Frauenorganisation Las Libres zufolge sitzen in mindestens elf Bundesstaaten Frauen in Haft, weil ihnen Abtreibung und damit Totschlag vorgeworfen wird. Ungeachtet dessen wies der Oberste Gerichtshof einen Tag darauf auch die Verfassungsklage gegen die gleichlautende Reform im Bundesstaat San Luis Potosí ab.

 

 

 

 

 

Weiterhören:

Kriminalisiert – das Recht auf den eigenen Körper? (Teil 1, Mexiko) | Von Markus Plate | Oktober 2010

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