Nicht dass ich rassistisch wäre, aber…

(Lima, 19. September 2011, semlac).- Niemand in Kuba würde sich öffentlich als rassistisch bezeichnen. Wie jedoch Expert*innen in einschlägigen Studien nachweisen, gehören auch in der heutigen Gesellschaft Vorurteile und Diskriminierung gegenüber Menschen mit dunkler Hautfarbe immer noch zum alltäglichen Leben. Rassistische Tendenzen und die Geringschätzung gegenüber so genannten „Farbigen“ offenbaren sich in Witzen, Sprüchen und in Verhaltensweisen und sind der Grund für die immer noch bestehenden Benachteiligungen und Ungleichheiten.

Darüber waren sich auch die Teilnehmer*innen eines Treffens zum Thema Wissenschaft, Ethnie und Gesellschaft einig, das im Rahmen der von der Ärztin Alina Pérez Martínez geleiteten Initiative “Letra con Vida” am 7. September in der kubanischen Hauptstadt stattfand. Die Initiative kommt regelmäßig in dem Kulturzentrum Dulce María Loynaz zusammen und befasst sich mit Fragen der Gesundheitskultur. „Wenn man sein Gefühl der Überlegenheit gegenüber einer anderen Person nicht ausdrücken kann, greift man häufig auf einen Witz oder ein Sprichwort zurück“, erklärt Zuleika Romay, Kommunikationswissenschaftlerin und Leiterin des Kubanischen Haus des Buchs (Instituto Cubano del Libro). „Damit kann man dann Dinge ausdrücken, ebenso gut allerdings auch welche verstecken.“

Zahlreiche Sprichwörter mit rassistischem Unterton

Werde innerhalb der Gesellschaft ein Thema zum Tabu erhoben, suche sich der zwischenmenschliche Kontakt eigene Wege, um die Spannungen auszudrücken, die innerhalb der Gesellschaft bestehen. So komme es dann zu abwertenden Aussprüchen wie: „Bei den Schwarzen muss man einfach immer auf der Hut sein.“, „Er/sie ist schwarz, aber ganz in Ordnung.“ „Wenn man den nötigen Abstand einhält, kommt man gut klar mit Schwarzen.“, „Es gibt Weiße, die noch schlimmer sind als die Schwarzen.“, oder der Satz, den man immer wieder hört: „Das war ja klar, dass der/die schwarz ist.“ „Unser Volksmund kennt zahlreiche Sprichwörter mit rassistischem Unterton. So kann man seinem Gegenüber die eigenen Positionen vermitteln, und sollten kritische Rückfragen kommen, kann man immer noch sagen: ’Nein nein, ich habe nur Spaß gemacht’“, so Romay.

Dazu der Philologe und Anthopologe Rodrigo Espina: „Der Umgang mit Ethnie und Hautfarbe hat viele soziale Ursachen.“ Zwischen 1997 und 2003 führte Espina 117 Interviews mit Menschen aus Europa, Nord-, Mittel, und Südamerika, die als „weiß“ gelten. Espina wies nach, dass in sämtlichen Herkunftsländern soziale Randgruppen existieren und dass die Menschen, die diesen angehören, „mehr oder weniger farbig“ seien. „Die Hautfarbe eines Menschen hat überhaupt keine Bedeutung, sondern die Position, die ihr aus einer Vielzahl soziologischer, historischer, wirtschaftlicher und politischer Gründe innerhalb der Klassengesellschaft zugewiesen wird“, betont auch Juan Marinello, Forscher am Zentrum für Kulturelle Studien.

Ausgehend von dem Grundgedanken, dass Rassismus eine Form der Machtausübung sei, erklärt Espina: „Das Denken, dass die soziale Position der Schwarzen einfach nur natürlich sei, ist uns allen anerzogen worden.“ Die meisten Menschen hielten sich selbst für offen und denken, sie seien frei von Vorurteilen, aber bei genauem Hinsehen erkenne man die rassistischen Vorbehalte und diskriminatorischen Tendenzen. Der so genannte “aber-Rassismus“ sei auch in Kuba sehr verbreitet, erklärt Espina. Dieses: „Nicht dass ich rassistisch wäre, aber…. ich mag die Schwarzen nicht“ ist ein Satz, den man auch von vielen Kubanerinnen und Kubanern hört.

Klassenunterschiede seit 500 Jahren

Den Boden für diese rassistische Weltsicht liefern die traditionellen Machtverhältnisse und Klassenunterschiede, die vor über 500 Jahren ihren Anfang nahmen, als die spanischen Eroberer erst die Ureinwohner*innen der Insel und später die aus Afrika verschleppten Menschen als Arbeitssklav*innen ihrer Macht unterwarfen. In einem Prozess, der von dem Ethnologen Fernando Ortiz als „das große kubanische Allerlei“ („gran ajiaco cubano“) bezeichnet wurde, bildete sich die kubanische Nation und Identität aus der Mischung von Indígenas, Spanier*innen, Afrikaner*innen und zu einem geringeren Teil Menschen aus Asien und weiteren europäischen Ländern. Der Rassismus diente der Sklavenherrschaft der überwiegend aus Spanien stammenden Weißen über die Menschen aus Afrika und ihre Nachkommen als ideologische Untermauerung.

Das Prinzip der Rassentrennung wurde von der Republik übernommen. Als nach 1959 der klare politische Wille aufkam, jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe, Ethnie oder Staatsangehörigkeit abzuschaffen, wurde deutlich, dass weder der Wille allein noch entsprechende Gesetz ausreichen, um die Spuren auszulöschen, die die Jahrhunderte lang praktizierte Diskriminierung im nationalen Bewusstsein hinterlassen hatte.

„Die Ursprünge reichen sehr weit in die Vergangenheit zurück, und doch verlängert sich die Geschichte des Rassismus jeden Tag“, erklärt Romay. „Wir haben das geerbt und tragen auch täglich dazu bei, indem wir selbst unsere Beziehungen zu anderen Menschen ethnisieren,“ denn, so Romay weiter, trotz aller Bemühungen seien rassistisches und klassistisches Denken in der kubanischen Gesellschaft tief verwurzelt.

Vor blauschwarz bis albino-weiß

In der kubanischen Gesellschaft kennt man zahlreiche Klassifizierungen, die auf das Haar, die Haut- oder die Augenfarbe zurückgehen. Die Schattierungen reichen von blauschwarz über „telefon-grau“, über milchweiß bis hin zu albino-weiß; die jeweiligen Personen sind in „Mohr“, „Indio“ und „Mulatte mit hellbrauner“ (papiertütenfarbener) bzw. „sehr heller Haut“ unterteilt.

Den einzelnen Schattierungen werden traditionell verschiedene Eigenschaften zugeordnet: Mit weißer Hautfarbe verbinden sich durchweg positive Assoziationen: geordnetes Zusammenleben, hohes Verantwortungsbewusstsein, das Streben nach persönlichem Fortkommen, stabile familiäre Strukturen und klare Organisierung sämtlicher Lebensbereiche. Das Stereotyp schwarzer Menschen ist mit etlichen negativen Assoziationen behaftet: Bereitschaft zu Kriminalität, exzentrisches, angriffslustiges und von der Norm abweichendes Verhalten. Diese sind gepaart mit der Überzeugung, sie besäßen eine besondere physische Kraft und Eignung für schwere körperliche Arbeit und sportliche Spitzenleistungen sowie Talent in Musik und Tanz.

„Diese Manie, unsere Mitmenschen nach Gesichtspunkten der Hautfarbe kategorisieren zu wollen, ist Teil unseres kulturellen Erbes. Selbst innerhalb derselben Ethnie wird noch herumkategorisiert. Diese ethnisierte Wahrnehmung der Mitmenschen findet sich bei Kubaner*innen jeder Hautfarbe“, fährt Romay fort. Da es sich um einen traditionell verwurzelten Aspekt des Weltbilds handle, sei es nicht so einfach, diese Wahrnehmung zu verändern. Gleichzeitig sei Rassismus ein von Ideologien weitgehend unabhängig existierendes Phänomen. „Es gibt Menschen, die sich selbst als revolutionär bezeichnen würden und rassistisch sind; in den gehobenen Bildungsschichten findet man sehr häufig den verdeckten Rassismus, das heißt, hier wird in Bezug auf andere Ethnien mit Begriffen operiert, die sowohl zum rassistischen als auch zu einem entgegengesetzten Weltbild passen würden.“ Das Ganze sei recht kompliziert, findet Romay, denn „einerseits geht es hier um eine kulturelle Erblast, und andererseits reproduzieren wir das rassistische Weltbild in unserem Alltag immer wieder aufs Neue.“ Dazu kämen wirtschaftliche Krisen, Ungleichheiten und der Kanon der ideologischen Weißmacher, die dazu beitrügen, Vorurteile und Stereotypen am Leben zu halten.

Schwarze tendenziell benachteiligt

Die historischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekte von Rassismus werden in konkreten Situationen deutlich. Wie der Anthropologe Rodrigo Espina erklärt, weisen zwischen 1995 und 2003 durchgeführte Untersuchungen in verschiedenen kubanischen Institutionen nach, dass eine Tendenz zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Benachteiligung von Mestiz*innen und Schwarzen besteht. Die Untersuchung ergab außerdem, dass über 50 Prozent der Bewohner*innen in Außenbezirken und auf dem Land Menschen afrikanischer oder multiethnischer Abstammung sind. Die meisten sind in der Landwirtschaft oder in handwerklichen Berufen tätig. „Es gibt schon auch Schwarze unter den Fachkräften, aber nur in den traditionellen Sektoren“, so der Wissenschaftler. Im aufstrebenden Sektor sind Schwarze und Menschen, die von mehr als einer Ethnie abstammen, überwiegend im indirekten Dienstleistungssektor der Tourismusbranche beschäftigt; nur etwa fünf Prozent schaffen es in leitende Positionen oder sind als Facharbeiter*innen tätig.

Mobilität und Aufstiegsmöglichkeiten im Beruf sind überwiegend Weißen vorbehalten. Auch erhalten weiße Familien 2,5-mal mehr Geldsendungen aus dem Ausland als schwarze und 2,2-mal mehr als Familien mit verschiedenen ethnischen Wurzeln. Diese Geldsendungen (“remesas”) stellen in Kuba einen wichtigen Anteil der Grundsicherung dar. Weiße bekommen 1,6-mal mehr Trinkgeld als schwarze Beschäftigte und 1,4-mal mehr als Menschen verschiedener Ethnien. Rationierte Waren werden von Weißen 2,1-mal mehr konsumiert als von der letztgenannten Bevölkerungsgruppe und sogar 3,7-mal mehr als von Schwarzen.

Wie die Untersuchung ergab, ist man generell der Meinung, die Wahl des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin sei eine persönliche Entscheidung, dies gilt insbesondere für den Mann, dennoch bestehe eine generelle Skepsis gegenüber der „Vermischung der Ethnien“, die sich laut Espina durch alle Altersstufen hindurch zieht, wobei Familien mit verschiedenen ethnischen Ursprüngen in dieser Frage generell offener sind. An den Hochschulen dominieren Frauen weißer Hautfarbe, deren Väter oder Mütter einen akademischen Beruf ausüben oder einen Führungsposten besetzen, und auch an Berufsfachschulen und in Bildungsakademien sind es überwiegend Weiße, die die Aufnahmeprüfung schaffen.

Mehr schwere Erkrankungen in der schwarzen Bevölkerung

Wie die Ärztin Patricia Varona berichtet, spiegelt sich die ethnisch motivierte Diskriminierung auch in anderen Bereichen wie dem Gesundheitswesen deutlich wider. In Kuba sehr verbreitete lebensbedrohliche Krankheiten und chronische Beschwerden wie Herzkreislauferkrankungen, Krebs und Schlaganfälle treten in der schwarzen Bevölkerung häufiger auf, nicht zuletzt da diese auch mehr Tabak und Alkohol konsumieren. Bis 2008 lag die Säuglingssterblichkeit bei durchschnittlich acht auf tausend Lebendgeburten, in der schwarzen Bevölkerung lag sie jedoch mit zehn Todesfällen deutlich über dem Durchschnitt.

„Das klassische Bild der Kubanerin, die trinkt oder raucht oder beides, meint eigentlich die alleinstehende schwarze Frau“, so Varona. Die Gesellschaftsstudien seien wichtig, um Ungleichheiten wie zum Beispiel in der gesundheitlichen Situation verschiedener gesellschaftlicher Schichten zu erkennen und in den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen gezielt dagegen vorzugehen.

„Die Polarisierung von Einkommen und natürlich auch von Verbrauchsgütern bildet den Nährboden für strukturelle Ungleichheit“, erklärt Zuleika Romay. Viele gesellschaftliche Probleme könnten ihrer Meinung nach nur gelöst werden, wenn sich die Lebensbedingungen der Menschen ändern. Die Leiterin des Kubanischen Haus des Buchs sprach sich außerdem für die Reaktivierung einiger gesellschaftlicher Steuerungsinstrumente aus, die im Zuge der Krise der letzten Jahre in den Hintergrund getreten waren. Dadurch hätten rassistisches und diskriminatorisches Verhalten wieder mehr Rückhalt in der Bevölkerung bekommen und sich damit schleichend zur Norm entwickelt.

Mehr Diskussion, Analyse und Bildung

Es müsse mehr Raum für Diskussionen über diese und ähnliche Themen wie geschlechtliche Unterdrückung und Negation der sexuellen Vielfalt geben. Das Bildungssystem solle mehr in die Pflicht genommen werden, die entsprechenden Themen verstärkt aufzugreifen und Menschen bereits in jungen Jahren mit den notwendigen Instrumenten zur Analyse vertraut machen; ferner tue eine verstärkte mediale Aufarbeitung der Themen not. Diese und weitere Vorschläge waren Ergebnisse des Treffens.

„Ich würde sagen, es gibt einen tradierten und einen modernen Rassismus“, meint der Schriftsteller und Literaturkritiker Roberto Zurbano. Er forderte mehr Raum für eine thematische Auseinandersetzung auf allen Ebenen, um ein angemessenenes politisches Vorgehen zu entwickeln und schlug vor, die bisherigen Ergebnisse in neue gesetzliche Regelungen umzusetzen, die es den Menschen ermöglichen, ihre Rechte einzufordern.

 

 

 

 

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