Nach der WM: Justiz schlägt zu

von Andreas Behn

(Berlin, 23. Juli 2014, taz).- Kaum ist die Fußball-WM vorbei, schlägt die Justiz in Rio de Janeiro zu. Eine groß angelegte Polizeiaktion soll angeblich diejenigen festsetzen, die für gewalttätige Ausschreitungen verantwortlich sind. Im Blickfeld sind vor allem die Massendemonstrationen im Juni und Juli 2013, zur Generalprobe der WM, dem Confed-Cup. Ein Richter erließ am Freitag, 18. Juli Haftbefehl gegen 23 Demonstrant*innen, die laut der Ermittlungsoperation „Firewall“ die Gewalt systematisch vorbereitet haben.

18 der Gesuchten sind flüchtig – laut einer Polizeisprecherin hatte die Presse die Namen zu früh veröffentlicht, so dass sie untertauchen konnten. Eine Anwältin und ein 18-Jähriger flohen sich am Montag in das uruguayische Konsulat von Rio de Janeiro und baten um politisches Asyl – der erste Fall seit Ende der Militärdiktatur 1985. Fünf weitere wurden bereits festgenommen. Drei von ihnen bereits einem Tag vor dem WM-Finale, zusammen mit 25 weiteren Verdächtigten, die aber wieder entlassen werden mussten. Zwei weitere wurden bereits im Februar festgenommen und sind angeklagt, den Feuerwerkskörper gezündet zu haben, der einen Fotografen tödlich am Kopf verletzte.

Abgeflautes Medieninteresse wird ausgenutzt

Die Ermittlungen richten sich vor allem gegen die Unabhängige Volksfront FIP (Frente Independente Popular). Auf 2.000 Seiten werden Telefonmitschnitte, Aussagen von ehemaligen Mitstreiter*innen und Spitzel-Berichte zusammengefasst, die eher einer wüsten Verschwörungstheorie gleichen als einer Ermittlung. Wutäußerungen über prügelnde Polizisten am Telefon werden als Mordabsicht interpretiert. Der sogenannten Rädelsführerin wird gar vorgeworfen, sie habe befohlen, das Abgeordnetenhaus mit Benzinkanistern in Brand zu setzen.

Geschickt nutzen Polizei und Justiz das abflauende internationale Medieninteresse an Brasilien nach dem Ende der WM. Nur die brasilianischen Zeitungen sind bestens informiert, dort sind die Namen der Gesuchten vollständig und teils mit Foto in einem Organigramm zu sehen, samt aller Anschuldigungen: Bildung einer kriminellen Vereinigung, Gewaltakte gegen Polizisten, öffentliches Eigentum, Busse, Banken und Geschäfte.

„Ich werde politisch verfolgt, schon seit Wochen wird mir geraten, mich von Demonstrationen fernzuhalten,“ erklärte die Anwältin Eloisa Samy in einer Videobotschaft, bevor sie in das Konsulat Uruguays flog. „Die meisten der Beschuldigten kenne ich nicht einmal. Ich werde kriminalisiert, weil ich mich für das Demonstrationsrecht einsetze,“ so Samy.

Verfolgte suchen politisches Asyl

Die Jura-Professorin Vanessa de Oliveira Batista hält das Asylgesuch für einen gewagten, aber nachvollziehbaren Schritt: „Theoretisch leben wir in einem demokratischen Rechtsstaat. Doch alle wissen, dass es Übergriffe gibt. Das Asylgesuch von Samy ist auch eine international sichtbare Anklage gegen politische Verfolgungen in Brasilien.“

Die Menschenrechtsorganisation „Justiça Global“ bezeichnete die Festnahmen als „Einschüchterung und Angriff auf die Meinungsfreiheit“. Ein von 92 brasilianischen Jurist*innen unterzeichnetes Manifest forderte „eine Ende der Kriminalisierung der Protestbewegung“ und verwies auf zahlreiche Ungereimtheiten bei den Ermittlungen. Auch Zahlreiche Abgeordnete linker Parteien sprachen von „willkürlichen Haftbefehlen und haltlosen Vorwürfen“.

Seit gut einem Jahr werden auf teils gewalttätigen Demonstrationen in ganz Brasilien die hohen staatlichen Ausgaben für die Fußball-WM kritisiert. Statt dessen forderten die Demonstrant*innen mehr Geld für Bildung, Gesundheit und öffentlichen Nahverkehr. Die Forderungen stießen auf breite Unterstützung in der Bevölkerung. Während der WM kam es entgegen der Erwartungen nur zu wenigen Demonstrationen. Zumeist löste die Polizei die kleinen Protestveranstaltungen mit Gewalt auf. Zahlreiche Demonstrant*innen und auch viele Journalist*innen wurden dabei verletzt.

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