Massaker von Carandiru: Insgesamt 20.800 Jahre Haft für 73 Polizisten

von José Manuel Rambla

(Berlin, 13. April 2014, otramérica).- Die brasilianische Justiz – und Präsidentin Dilma Rousseff – erklären den Prozess wegen des Massakers von Carandiru für beendet. Die Überlebenden der Gräueltaten von vor 22 Jahren klagen jedoch an, dass die politisch Verantwortlichen nicht vor Gericht gestellt wurden. Die Gefängnisse sind überbelegt (500.000 Gefangene) und allein seit Januar 2013 sind 200 Inhaftierte gestorben. Der Albtraum geht weiter.

Rousseff: Sieg gegen die Straffreiheit

22 Jahre nach dem Massaker von Carandiru hat Brasiliens Justiz dieses Kapitel jetzt geschlossen – und damit eine der größten Tragödien der Gefängnis-Geschichte des Landes, bei der 111 Häftlinge von Polizisten getötet wurden. Am 2. April 2014 verurteilte ein Gericht in São Paulo die letzten 15 angeklagten Mitglieder der Militärpolizei zu Gefängnisstrafen von 48 Jahren wegen der Beteiligung am Tod von vier Häftlingen.

So endete die vierte und letzte Phase des Prozesses, der aufgrund seines Umfangs gesplittet worden war und vor einem Jahr begann. Insgesamt wurden 73 Polizisten für ihre Taten zu insgesamt 20.876 Jahren Haft verurteilt.

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff zeigte sich nach dem letzten Urteil zufrieden. Sie stellte bei Twitter den Abschluss des Prozesses und die zu den verschiedenen Zeitpunkten gesprochenen Urteile heraus. Ihrer Ansicht nach „sind die Urteile von Carandiru – mit weit reichenden Rechten zur Selbstverteidigung und unter Einbeziehung der Gesetze eines Rechtsstaates – ein Sieg gegen die Straffreiheit.

3.500 Schüsse mit Pistolen und Maschinengewehren

Das Massaker von Carandiru ereignete sich am 2. Oktober 1992. An diesem Tag drangen auf Befehl von Oberst Ubiratán Guimarães, der zuvor vom Gouverneur von São Paulo, Luiz Antônio Fleury, grünes Licht erhalten hatte, ungefähr 350 Mitglieder der Militärpolizei in das Haus Nummer neun der Haftanstalt von Carandiru ein. Carandiru ist das größte Gefängnis Lateinamerikas. Die Operation sollte die unbequeme Meuterei einzudämmen, die am Vorabend einer Wahl durch eine Schlägerei zwischen Häftlingen ausgelöst worden war. Doch die Ereignisse, die sich dann anschlossen, bildeten eine der traurigsten Episoden dieser perfiden, dunklen Geschichte Brasiliens.

Insgesamt starben bei dem Einsatz 111 Gefangene. Das sagen zumindest offizielle Zahlen – einige Zeug*innen schätzen jedoch, dass die Zahl der Opfer sehr viel höher war. Sidney Sales ist heute evangelischer Pfarrer und leitet in São Paulo ein Zentrum zur Betreuung von Drogensüchtigen. An jenem 2. Oktober war er einer der 2.500 Gefangenen, die sich in Haus Nummer neun befanden. Sidney Sales hat die offiziell genannte Anzahl von Opfern immer angezweifelt. Seiner Ansicht nach „handelte es sich bei den 111 um diejenigen, die einen Vater, eine Mutter oder einen Anwalt hatten, die Rechtsmittel einforderten. Aber da waren auch gab auch andere, die ohne Familie waren“. Und für diesen Verdacht gibt es ausreichend Argumente. Mindestens dreißig – das ist die Zahl der Toten, die Sales selbst nach dem Überfall geborgen hat. Daher schätzt er, dass der Polizeieinsatz mindestens 250 Opfer gefordert hat.

Eine Schätzung, die nicht zu weit hergeholt ist, wenn man bedenkt, dass die Polizei 3.500 Schüsse mit Pistolen und Maschinengewehren abgegeben hat. Die Mehrzahl der Opfer wies außerdem Schüsse in Kopf und Brustkorb auf. Dieser Umstand ließ die Untersuchungskommission zu dem Schluss kommen, dass die Polizei zu keiner Zeit einen Ausweg aus der Krise mittels Verhandlungen plante. Das Ziel war klar: Den Gefängnisaufstand um jeden Preis und ohne Rücksicht auf Verluste zu beenden.

Freispruch für Polizeioberst 

Trotz der offensichtlichen Massen-Hinrichtungen und der Tragweite der Tötungen wurde ursprünglich nur eine Person für die Vorfälle verurteilt: Oberstleutnant Guimarães. Er erhielt im Juni 2001 eine Gefängnisstrafe von 632 Jahren. Die Tatsache, dass es sich um seine erste Verurteilung handelte, ermöglichte es ihm jedoch, Rechtsmittel dagegen einzulegen und somit der Gefängnisstrafe zu entgehen. Ironie des Schicksals, wenn man bedenkt, dass die Mehrzahl der Insassen des Gebäudes Nummer neun ebenfalls wegen ihres ersten Deliktes inhaftiert waren und auf die Bestätigung ihrer Strafen warteten.

Aber Guimarães umging so nicht nur seine Haftstrafe. Die Aufmerksamkeit, die ihm durch den Fall in den Medien zuteil wurde, öffnete ihm die Türen für eine Karriere in der Politik. Ein Jahr später wurde er zum Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei von São Paulo gewählt. Und auch dann verglühte der Stern des Oberst noch nicht: Im Februar 2006 wurde das Urteil im Revisionsverfahren gesprochen und aufgrund von Verfahrensfehlern wurde das erstinstanzliche Urteil aufgehoben. Die Richter*innen sprachen ihn schließlich frei von jeglicher Verantwortung, da sie davon ausgingen, dass Guimarães nur Befehle ausgeführt habe.

Das Schicksal jedoch wollte es, dass man seinen Körper nur einige Monate später, am 10. September 2006, mit einer Kugel in der Brust fand, die seine Geliebte abgegeben hatte. Und obwohl der Fall Carandiru mit diesem Verbrechen nichts zu tun hatte, sollte einige Tage später jemand an dessen Opfer erinnern, indem er auf eine Mauer des Gebäudes, in dem Guimarães ermordet wurde, schrieb: „Hier wird gehandelt, hier wird bezahlt“. In jedem Fall verhinderte dessen Tod, dass seine Beteiligung an dem Kommando Gegenstand des Mega-Prozesses wurde, der jetzt zu Ende gegangen ist.

Urteile nach über 20 Jahren: 20.800 Jahre Haft für 73 Polizisten

Schließlich nahmen die Gerichte den Prozess gegen die Militärpolizisten wieder auf, die an dem Übergriff beteiligt waren – nach jahrelangen Verzögerungen, die größtenteils auf Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Zivil- und Militärgerichten zurückgingen. Aufgrund seiner Komplexität wurde der Prozess in vier Etappen unterteilt. In der ersten Phase, im April 2013, wurden 23 Polizisten wegen des Todes von 13 Gefangenen zu 156 Jahren Gefängnis verurteilt.

In der zweiten Phase im August 2013 erhielten weitere 25 Polizisten Haftstrafen von jeweils 624 Jahren aufgrund ihrer Beteiligung an der Ermordung von 52 Häftlingen an jenem 2. Oktober 1992. Die dritte Etappe endete am 19. März 2014 mit der Verurteilung von neun Polizisten, die zu 96 Jahren Gefängnis verurteilt wurden und einem zehnten Polizisten, der 104 Jahre Haft wegen seiner Mitwirkung am Tod von weiteren acht Gefangenen erhielt. Der Prozess fand seinen Abschluss mit der Bestrafung von weiteren 15 Polizisten Anfang April.

Richter Rodrigo Tellini de Aguirre, der bei drei Teilprozesses den Vorsitz innehatte, erklärte, es handele sich um den „umfangreichsten Prozess in der Rechtssprechung Brasiliens“, dessen Bearbeitung 16.860 Seiten, zusammengefasst zu insgesamt 75 Bänden, erforderte. „Es ist nicht nur die Anzahl der Menschen, die aufgrund der Vorfälle ihr Leben verloren haben und nicht nur das Drama, das die Familien der Opfer und die der Polizeikräfte durchlebten. Die Komplexität dieses Prozesses kommt aufgrund der Tatsache zustande, dass wir 22 Jahre warten mussten, um eine Antwort des Staates auf diese Operation zu bekommen“, unterstrich der Richter.

Verantwortliche für den Einsatz nie vor Gericht gestellt

Auf der Netzhaut von Sidney Sales haben sich hunderte Bilder jenes Massakers eingebrannt. Er innert sich daran, wie die Polizei ihn zwang, mindestens 35 leblose Körper in Krankenwagen und Autos der Gerichtsmedizin zu bringen. Er überlebte das Massaker, doch bis heute hat er Schwierigkeiten, zu schlafen. Nach dem letzten Urteil in dem Großprozess blieb Sales skeptisch, ob die Verurteilten ihre Gefängnisstrafen verbüßen würden. Er kritisierte, dass jene, die in erster Linie für den Übergriff auf das Gefängnis verantwortlich wären, da sie ihn angeordnet hatten, nicht vor Gericht gestellt worden sind. So wie der Gouverneur von São Paulo, Luiz Antônio Fleury, der Sekretär für Sicherheitsfragen Pedro Campos und jene Polizeikräfte, die die Operation leiteten.

Vorerst haben die Anwälte der verurteilten Polizisten ihre Absicht kundgetan, das Urteil anzufechten. In diesem Sinne betrachtet Oberst Edson Faroro, der zur Zeit der Vorfälle Befehlshaber des zweiten Bataillons der Aufstandsbekämpfungseinheiten war, die Urteile als ungerecht. Er bekräftigt, dass die Mehrzahl der Menschen während des Aufstandes durch Schlägereien unter den Häftlingen ums Leben gekommen sei. Die Häftlinge hätten Drogen konsumiert. In keinem Fall jedoch wird auch nur einem aktiven oder sich inzwischen im Ruhestand befindenden Beamten sein Lohn gestrichen. Die Mehrheit der Opferfamilien wartet jedoch währenddessen auch weiterhin auf eine Entschädigung.

Ein Drama, das weiterlebt

Das Massaker von Carandiru ist jene Gefängnistragödie Brasiliens, der die größte internationale Aufmerksamkeit zuteil wurde. Teilweise geht dies auf das Wiederaufleben der Tatsachen durch den Filmproduzenten Héctor Babenco in dessen Film „Carandiru“ aus dem Jahre 2003 zurück. Doch die Probleme in den Gefängnissen und die Menschenrechtsverletzungen sind nicht verschwunden.

Die Enthauptung von drei Häftlingen im Gefängnis des Bundesstaates Maranhão, die am 17. Dezember 2013 mit der Kamera festgehalten wurde, führte die Gefängnisproblematik abermals vor Augen und sie zeigte auf, welch menschenunwürdige Bedingungen in den Haftanstalten herrschen. Man schätzt, dass seit Januar 2013 mehr als 200 Häftlinge in den Haftanstalten des Landes umgebracht wurden.

Und die Situation ist weit davon entfernt, sich zu bessern. Im Gegenteil, sie verschärft sich durch die Menschenmassen, die dort inhaftiert sind. Im Jahr 1992 saßen laut Amnesty International 114.337 Häftlinge in brasilianischen Gefängnissen ein. Heute mehr als 500.000 Menschen inhaftiert. Die Kapazität der brasilianischen Haftanstalten liegt jedoch bei maximal 300.000 Gefangenen.

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