Kubanische Frauen wandern aus

von Helen Hernández Hormilla

(Lima, 14. Juli 2014, semlac).- Immer mehr Frauen haben vor, ihr Leben außerhalb Kubas zu führen: aus wirtschaftlichen Gründen, um bei ihrer Familie zu sein, über ihren Schatten zu springen oder um andere Kulturen kennenzulernen. Kubanische Frauen machen mehr aus die Hälfte der jährlichen Emigration seit 1995 aus. Eine Tendenz, die die neue Selbstständigkeit der Kubanerinnen zeigt, mit der sie von bloßen Begleiterinnen zu Hauptpersonen der territorialen Freizügigkeit geworden sind. Aber dies ist auch ein Alarmsignal für eine veraltete Gesellschaft mit niedrigen Geburtsraten.

In den Momenten vor dem Abheben des Flugzeugs, das sie zum ersten Mal nach Mailand, Italien, bringen sollte, spürte die Architektin Lisandra García die Angst im Hinblick auf ihre unmittelbare Zukunft, weit weg von ihrem Geburtsort Havanna, wo ihre Mutter, die Schwestern und ihr Freund sie vor inzwischen sieben Jahren verabschiedet haben.

“Ich suchte bessere Arbeitsmöglichkeiten und wollte mich beruflich weiterentwickeln. Ein italienischer Freund hat mir geholfen, indem er mich heiratete, um die Aufenthaltserlaubnis zu bekommen”, erzählt die 34-Jährige. Sie ist eine von 263.000 Frauen, die zwischen 2002 und 2012 für immer oder vorübergehend aus Kuba ausgereist sind, laut Zahlen des kubanischen Statistikamtes ONEI (Oficina Nacional de Estadísticas e Información).

“Mein Freund und ich lebten sieben Jahre zusammen im Haus, dass wir von meinem Vater geerbt haben, aber unsere Möglichkeiten, unsere Lage zu verbessern um eine Familie zu gründen waren spärlich. Deshalb haben wir uns entschieden, einen Weg außerhalb des Landes zu suchen”, erzählt sie. García versichert, dass es keine leichte Entscheidung gewesen sei, die Familie zurückzulassen und in einer anderen Gesellschaft von Null anzufangen, indem man jede Arbeit annimmt. Aber mit viel Mühe schaffte sie es, ihren Partner nach einem Jahr mit rüberzuholen und vor einiger Zeit gründeten sie zusammen ein kleines Bauunternehmen, was ihnen genügend Sicherheit hab, um vor elf Monaten ihren ersten Sohn zu bekommen.

Ähnliche Ausreisestrategien sind unter Kubanerinnen verbreitet, zusammen mit der Beantragung von Stipendien, Arbeitsverträge und persönliche Einladungen. Die verbesserte Gesetzeslage und die aktive gesellschaftliche Teilhabe der Frauen auf der Insel erklären zum Teil die Zunahme des Frauenanteils am Emigrationsprozess in den letzten zwei Jahrzehnten, so die Auffassung von Experten. Im Jahr 2012 stellten sie 52 Prozent der 46.662 Personen, die das Land verlassen haben. Das ist die höchste Zahl emigrierter Frauen seit 1980.

Demografische Anzeichen

Für die Soziologin Marta Núñez zeigt die weibliche Emigration eine Veränderung in den Geschlechterrollen. Die Frauen sind nun Ernährerinnen und Oberhäupter ihrer Familien. In einer 2009 durchgeführten Studie warnte die Professorin vor einer Zunahme der Auswanderung alleinstehender junger Frauen, die sich im Allgemeinen erst für ein Kind entscheiden, sobald sie in die Gesellschaft am Zielort integriert sind.

Für ein Land wie Kuba mit einer Geburtenrate von 1,7 Kindern pro Frau, wo 18,7 Prozent der elf Millionen Kubaner*innen über 60 Jahre alt sind, stellt die Emigration von Frauen im geburtsfähigen Alter eine demografische Herausforderung dar, die sich auch auf die niedrige Geburtenzahl auswirkt.

Die aus der Stadt Holguín stammende junge Frau Jessica Martínez schloss ihr Studium der soziokulturellen Wissenschaften 2007 ab und nahm vor einem Jahr ein Masterstipendium in Mexiko an. Sie hat nicht vor, auf die Insel zurückzukehren, weil sie bereits ein Jobangebot erhalten hat. “Das ist die einzige Möglichkeit, meinen in Rente gegangenen Eltern zu helfen, weil mein Gehalt für uns damals nicht ausreichte um über die Runden zu kommen, und noch viel weniger, wenn ich Kinder bekommen hätte”, schreibt sie der Nachrichtenagentur SEMlac in einer Email.

“Wenn ich meine wirtschaftliche Situation hier nicht verbessern kann, werde ich nach Abschluss meines Studiums die Grenze zu den Vereinigten Staaten überqueren und das Gesetz zur Anpassung für Kubaner*innen (Cuban Adjustment Act – CAA) in Anspruch nehmen, welches mehr Möglichkeiten garantiert.”

Laut diesem seit 1966 in den Vereinigten Staaten geltenden Gesetz haben ausreisende Kubaner*innen, die ins Land kommen die Möglichkeit, automatisch politisches Asyl in Anspruch zu nehmen. Sie bekommen finanzielle Hilfen und erforderliche rechtliche Dokumente, sowie nach einem Jahr Aufenthalt in den USA die offizielle Aufenthaltsgenehmigung. Diese Bedingung sowie die historischen Verbindungen durch die Migration begünstigen, dass die Vereinigten Staaten das Hauptzielland der kubanischen Auswanderung ist. Laut der Volkszählung von 2010 leben dort 1,8 Millionen Menschen kubanischen Ursprungs, von denen 983.000 in Kuba geboren und 52 Prozent Frauen sind.

Auswanderung qualifizierter Arbeitskräfte

Wie in anderen Ländern dieser Zone zeichnet sich die Auswanderung von kubanischen Frauen dadurch aus, dass es vor allem junge Frauen sind, die emigrieren, und somit auch die mittleren bis hohen Ränge der Berufsqualifikationen im Land. Dies erläutert Antonio Aja, Leiter der Zentrums für demografische Studien CEDEM (Centro de Estudios Demográficos) der Universität von Havanna. Das höhere Niveau an Bildung, Professionalität und Fachwissen der Kubanerinnen unterscheide sie von anderen Auswanderinnen auf der Welt, und stelle manchmal einen gewissen Vorteil da, so der Experte.

Laut dem kubanischen Statistikamt ONEI stellen die Frauen auf Kuba 66 Prozent der Fachkräfte; 64 Prozent haben einen höheren Bildungsabschluss. In den Vereinigten Staaten z.B. hatten 59 Prozent der aus Kuba stammenden Frauen einen mittleren und 22 Prozent einen hohen Bildungsabschluss, so der Bericht “Migración Internacional en las Américas” von 2012, der von der Organisation Amerikanischer Staaten OEA (Organización de Estados Americanos) herausgegeben wurde.

Laut Aja werden die emigrierten Kubanerinnen von den für sie zuständigen Vermieter*innen in urbanen Gegenden und entwickelten Städten untergebracht, im Einflussbereich des öffentlichen bzw. privaten Dienstleistungssektors, immer ausgehend von den Netzwerken von Kubaner*innen oder Personen lateinamerikanischer Herkunft vor Ort. Im Allgemeinen neigen sie mehr dazu, die Verbindung zur Familie aufrecht zu erhalten und schicken mehr Geld als die Männer, erklärt der Leiter von CEDEM gegenüber SEMlac. Die zitierte Untersuchung, die Núñez unter ausgewanderten Kubanerinnen in verschiedenen Ländern durchführte, hat herausgefunden, dass diese zu Ernährerinnen ihrer Familien auf Kuba werden und regelmäßig Geld schicken.

Aber andere Studien, die die Psychologin Consuelo Martín in einem kürzlich mit der Zeitschrift IPS auf Kuba gehaltenem Interview herangezogen hat, warnen vor subjektiven Belastungen dieser Frauen, da die auswandernde Mutter eher negativ beurteilt wird als der auswandernde Vater. Alte Menschen mit ausgewanderten Kindern “betonen, dass sie sich verlassen fühlen, sowie die Enttäuschung, nicht auf ihre Kinder zählen zu können, denen sie ihre Altersruhe anvertraut haben”, gibt die Universitätsprofessorin wieder. Diese Verbindungen und Gefühle könnten sogar eine häufigere Familienzusammenführung begünstigen, wenn Frauen auswandern, ebenso wie zeitlich begrenzte Aufenthalte im Ausland und die Rückkehr nach Kuba, um familiäre Probleme zu bewältigen.

Hin zur zirkulären Migration

Die Tradition, aus Kuba auszuwandern, gab es schon vor dem Triumph der Revolution im Jahr 1959, aber seitdem sind diese Prozesse komplexer geworden, durch politische, soziale und ideologische Spannungen. Mit der Inkraftsetzung des Dekrets 302 zur Modifizierung des Migrationsgesetzes von 1976 wurden im Januar 2013 die Aus- und Einwanderungsbedingungen angepasst und um neue Möglichkeiten erweitert, womit es nun kein schmerzvolles “für immer” geben muss.

Vorher haben alle Personen, die sich länger als elf Monate außerhalb Kubas aufhielten, ihren Einwohnerstatus verloren, was dazu führte, dass ein Großteil der kubanischen Auswanderung definitiv erschien, denn es gab sehr wenige Gesetzesmechanismen zur Wiedererlangung der Aufenthaltserlaubnis.

Die neue Gesetzesnorm räumte bürokratische Hürden aus dem Weg, wie die Ausreiseerlaubnis und das Einladungsschreiben; sie dehnte die Erlaubnisfrist für Auslandsaufenthalte auf zwei Jahre aus mit der Option der Fristverlängerung, und schaffte das Einreiseverbot für im Ausland lebende Kubaner*innen ab.

Die ONEI hat diesen Juli in ihrem Statistischem Jahrbuch für 2013 zum ersten Mal seit 1964 eine positive Auswanderungsbilanz veröffentlicht, noch ohne Aufschlüsselung nach Geschlecht. Laut diesem Dokument betrug die Differenz zwischen Ein- und Ausreisen im vergangenen Jahr ein Plus von 3.302 Personen, mehrheitlich in der Hauptstadt.

Mehr Menschen kehren zurück

Allerdings gaben offizielle Zahlen Ende 2013 an, dass in den zehn Monaten nach der Reform des Migrationsgesetzes 257.518 Reisen ins Ausland verzeichnet wurden, die von 184.787 Personen getätigt wurden; d.h. einige Personen reisten mehr als einmal aus. Von diesen sind 66.510 Personen in die Vereinigten Staaten gereist, und 40 Prozent kehrten zurück, heißt es in einer Meldung der Nachrichtenagentur AFP (Agence France-Presse) von Januar 2014.

Die Zahlen könnten unter Umständen auf einen Anstieg der zeitlich begrenzten Auswanderung hindeuten, sowie auf eine mögliche Rückwanderung, die von Expert*innen bereits vorausgesagt wurde. Der Psychologe Osmany Pérez ermittelte in einer Studie von 2013 den Anstieg der Rückkehrer zwischen 2008 und 2012, als also die Reform des Migrationsgesetzes noch nicht Kraft getreten war.

In diesem Zeitraum kehrten 2.127 Personen aus 60 Ländern zurück, um sich dauerhaft in Havanna niederzulassen. Mehrheitlich handelt es sich gemäß seiner Aussage in seiner Abschlussarbeit dabei um Personen über 40, die ab dem Jahr 2000 ausgewandert waren. Laut Aja “scheint es so, als ob wir eine erhöhte Kreisbewegung bei der Migration haben werden, was aber nicht bedeutet, dass Schlüsselbereiche der Gesellschaft wie Frauen und Jugendliche nicht auswandern würden. Kuba muss sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich mit einer geringeren und deutlich älteren absoluten Bevölkerung als heute zurechtkommen”, betont der Experte.

Seinem Urteil nach könnten die Wirkungen der vermehrten Auswanderung junger Menschen im gebär- und zeugungsfähigen Alter durch eine stärkere wirtschaftliche und soziale Entwicklung abgemildert werden; darauf sollten die Maßnahmen der Politik im Land abzielen. “Wir brauchen mehr Lebensqualität für die gesamte Bevölkerung, aber auch, dass die Bevölkerung diesen Entwicklungsprozess selbst trägt”, unterstreicht der Experte.

Die kubanische Auswanderung in Zahlen

– CEDEM-Studien besagen, dass fast 2 Mio. in Kuba geborene Personen vorübergehend oder dauerhaft in anderen Ländern leben.

– Untersuchungen des Zentrums für die Erforschung der internationalen Migration CEMI (Centro de Estudios de Migraciones Internacionales) der Universität von Havanna besagen, dass jede vierte Person auf Kuba ein Familienmitglied hat, welches vorübergehend oder dauerhaft ausgewandert ist.

– In 146 Ländern sind Kubaner*innen gemeldet, 98 Prozent von ihnen entfallen auf 20 Nationen: die Vereinigten Staaten, Spanien, Venezuela, Mexiko, die Dominikanische Republik, Costa Rica, Deutschland, Italien, Kanada, Kolumbien, Nicaragua, Frankreich, Chile, Argentinien, Schweden, Schweiz, Russland, Ecuador, Panama und Brasilien (laut CEMI-Angaben).

– Obwohl die Bevölkerungsbewegung im Verhältnis zur Einwohnerzahl beträchtlich ist, befindet sich Kuba im Verhältnis zu anderen Ländern Lateinamerikas und der Karibik hinsichtlich der Auswanderung eher im unteren Mittelfeld. Lediglich 3,4 Prozent der absoluten Auswanderung aus dem Kontinent und der Karibik trägt Kuba bei, laut einem Bericht von 2006 der UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und der Karibik CEPAL (Comisión Económica para América Latina y el Caribe).

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