Kleine Jungen, die ein Mädchen vergewaltigen?

von Lydia Cacho*

(Mexiko-Stadt, 25. November 2013, cimac).- Ende November vergangenen Jahres erklärte sich der Generalstaatsanwalt von Sinaloa hinsichtlich des Vergewaltigungsfalls in der Privatschule Las Torres in Culiacián für nicht zuständig. Dies löste Wut in sozialen Netzwerken aus.

 

Minderjährige Jungen des sexuellen Missbrauchs beschuldigt

Mit dem Strafgesetzbuch in den Händen, erklärte Staatsanwalt Marco Antonio Higuera, er könne die [beschuldigten] Jungen nicht inhaftieren, da das Gesetz nur strafrechtliche Sanktionen für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren zulasse. Er könne lediglich dem Opfer rechtliche Beratung anbieten. Es ist richtig, dass Minderjährige nicht strafrechtlich verfolgt werden dürfen. Die staatliche Einrichtung für Integrative Entwicklung der Familie DIF (Desarrollo Integral de la Familia) ist in diesem Fall auf Hilfe angewiesen.

Der zögerliche und nervöse Bildungsminister Francisco Frías Castro (dem außerdem zum Thema kindlicher Gewalt das Wissen fehlt) traf sich seinerseits mit den Vätern und Müttern der Familien und vergewisserte ihnen, dass die Jungen, die [angeblich] das Mädchen angriffen, nicht von der Schule verwiesen werden würden „bis die Nachforschungen abgeschlossen sind“.

Das Nachrichtenportal Fuentes Fidedignas („Zuverlässige Quellen”) aus Sinaloa versicherte, dass in den Akten zum Fall der Name eines Richters vom Zweiten Kollegialgericht als Stiefvater einer der beschuldigten Jungen auftaucht.

Die Wut in den sozialen Netzwerken verlangt nach der Verhaftung der Minderjährigen und schreibt die Tatsache, dass es keine Strafverfolgung gibt, fälschlicherweise dem Einfluss des Richters zu. Zwischen all dem Gezänk hat niemand nach dem unmittelbaren Verhalten des Mädchens und der Jungen gefragt. Alle Beteiligten sind Opfer.

Fall verlangt nach psychologischem Feingefühl

Der Grund dafür, dass die Kleine während mehrerer Tage den Eltern gegenüber nichts von dem Vorfall erwähnte, liegt entweder darin, dass sie gar nicht von den Jungen missbraucht wurde und irgendein Erwachsener sie dazu brachte, die Geschichte zu erzählen, oder dass sie die Gewalt der Jungen nicht auf so traumatische Weise erlebte, wie es sich die Erwachsenen vorstellen. Daher ist es immens wichtig, dass eine psychologische Expertin für sexuellen Missbrauch von Kindern eine Untersuchung mit dem Mädchen durchführt, nicht nur um zu wissen, wie, wann und wo sich die Vorfälle ereigneten, sondern auch, um sicher zu stellen, dass die Schilderungen der Minderjährigen nicht manipuliert sind und der therapeutische Eingriff, der dazu dienen soll, den Fall aufzudecken, für das Kind nicht zu einem weiteren Trauma wird.

Zweifelsohne sollten auch die Eltern therapeutische Unterstützung erhalten, anderenfalls könnten sie ihre Angst, ihren Ärger und ihre Beklemmung auf das Mädchen übertragen und somit im Leben der Kleinen ein Trauma entstehen lassen, das nicht aus der persönlichen Schilderung folgt, sondern die Subjektivität der Erwachsenen widerspiegelt.

Zugang zu Pornographie und sexualisierter Gewalt

Im Gegensatz zu dem, was die empörten Leser*innen fordern, sollten die Jungen weder gedemütigt noch eingesperrt werden (und schon gar nicht umgebracht, wie es einige raten). Sie müssen mit denselben therapeutischen Maßnahmen behandelt werden wie das Mädchen: dies ist der einzige Weg, um die Wahrheit zu erfahren und zu heilen.

Wenn diese Jungen das Mädchen tatsächlich missbrauchten und es nicht ein Erwachsener war, muss man zum Kern des Problems gelangen. In 95 Prozent der Fälle bei denen Kinder andere Jungen und Mädchen missbrauchen, sind diese der Pornographie oder einem Umfeld sexualisierter Gewalt ausgesetzt, das auch Videospiele mit Vergewaltigungsszenen einschließen kann.

Derzeit sind im Internet 400 Millionen Webseiten mit pornographischem Inhalt und leichtem Zugang im Umlauf. Laut einer Studie des Forschungszentrums Crimes Against Children sahen 34 Prozent der Kinder zwischen 10 und 17 Jahren pornographische Seiten an, ohne direkt im Internet danach gesucht zu haben; 38 Prozent gaben an, sie absichtlich gesehen zu haben und 45 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren haben Freunde, die sich mindestens drei Mal pro Woche Pornographie ansehen.

Der Durchschnittswert von Bildern, auf denen Männer Frauen zu Oralsex zwingen, liegt bei 92 Prozent; bei 80 Prozent der Bilder werden Frauen von Männern während des Geschlechtsverkehrs gedemütigt; und auf 40 Prozent der Bilder von Gruppensex wird die Frau in einem Spiel festgehalten, um sich mit ihr abzuwechseln. Pornographie wirkt in Teilen auch didaktisch auf das Sexualverhalten.

Vorbeugung gegen sexualisierte Gewalt: ein gemeinsamer Lernprozess

Nichts ist, wie es scheint: Jungen zwischen 10 und 11 Jahren würden ein Mädchen nicht sexuell angreifen ohne sich unmittelbar Kenntnisse über Gewalt gegen Frauen und vor allem zu Vergewaltigungen angeeignet zu haben. Normales sexuelles Anbandeln besteht in der Kindheit aus Spielen, die auf gegenseitigem Einverständnis beruhen und kommen Szenen dieser Art nicht einmal nahe.

Die Intervention muss hier therapeutisch und pädagogisch verlaufen, um den Kreislauf der Gewalt zu stoppen, ein größeres Trauma zu verhindern und gemeinsames Wissen für die Schule sowie für Väter und Mütter der Familien und die verantwortlichen Behörden zu erwerben.

Es muss zunächst einmal gelernt werden, wie man Eingreifen muss, um ähnlichen Fällen vorzubeugen und ein solches Verhaltens zu verhindern, damit kein Hass und keine Fortsetzung des Traumas produziert werden. Die Behörden und Eltern können als Vorbild für das richtige Eingreifen bei dieser Art von Fällen dienen. Wenn vollständig ausgeschlossen wird, dass das Mädchen von einem Erwachsenen missbraucht wurde, kommt das Strafrecht in diesem Fall nicht in Betracht.

*Plan b ist eine Kolumne, die montags und donnerstags in CIMAC, El Universal und verschiedenen Tageszeitungen Mexikos veröffentlicht wird. Ihren Name verdankt sie dem Glauben daran, dass es immer auch eine andere Art und Weise gibt, die Dinge zu betrachten und viele Themen existieren, die sehr wahrscheinlich vom traditionellen Diskurs, dem Plan A, unbeachtet bleiben. (Twitter: @lydiacachosi)

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