Keine Konjunkturwende in Sicht

von Andrés Prieto

(Montevideo, 31. Dezember 2015, la diaria).- Die zwei stärksten Wirtschaftskräfte der Region werden weiterhin Schwierigkeiten haben, das verlorene Wirtschaftswachstum wieder aufzunehmen. Brasilien, das von politischer Ungewissheit und makroökonomischen Problemen betroffen ist, die auch durch Ausgabenkürzungen nicht gelöst werden konnten, wird das zweite Jahr in Folge einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts verzeichnen. Argentinien wird sich im Zuge seiner Rückkehr zu wirtschaftsliberalen Ideen binnen kurzer Zeit sozialen und politischen Spannungen gegenübersehen.

Brasiliens BIP wird erneut fallen

Für Brasilien wird 2016 ein historisches Jahr werden. Staatlichen und privaten Prognosen zu Folge wird das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Jahr in Folge fallen. Dies ist seit den 1930er Jahren nicht mehr geschehen. Die Wirtschaft wird weiterhin dem negativen Trend folgen, in dem sie sich derzeit befindet, wenn auch die Zahlen weniger drastisch ausfallen werden wie im Jahr 2015: Der erwartete Rückgang des BIP wird voraussichtlich bei zwei Prozent liegen, die jährliche Inflationsrate bei 6,2 Prozent.

Gemäß den vorläufigen Zahlen der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL hat sich 2015 die rezessionsbedingte Lage der brasilianischen Wirtschaft verschärft. Ausgehend von den vorliegenden Zahlen, die noch nicht bis zum Jahresende 2015 reichen, schätzt die CEPAL, dass das BIP bis Ende 2015 um etwa 3,5 Prozent zurückgegangen ist, womit es sich um die schlechteste Entwicklung seit 1990 handeln würde. Zurückzuführen sei dies auf einen starken Investitionsrückgang und einen geringeren Konsum der Familien, der zumindest in der Wirtschaft Nordbrasiliens den wichtigsten Antrieb der Nachfrage darstellt. Unter Berücksichtigung der Daten von zwölf Monaten bis Oktober 2015 schätzt die CEPAL, dass die Arbeitslosenzahlen in den größten Städten von 4,7 Prozent im Jahr 2014 auf 7,9 Prozent zum Jahresende 2015 gestiegen sind.

Ebenso geht die Kommission davon aus, dass die Inflation vergangenes Jahr aufgrund der starken Entwertung des brasilianischen Reals sowie des Anstiegs der Energiekosten und der Kraftstoffe bei mehr als zehn Prozent lag. Die Zahlungsbilanz, zu der auch die Transaktionen mit dem Ausland gehören, habe sich aufgrund des Importrückgangs deutlich verbessert, während die internationalen Reserven des Landes vermutlich stabil bleiben. Den Prognosen zu Folge habe der öffentliche Sektor bis Ende 2015 – ohne dabei die Zinszahlungen der Staatsschulden abzubuchen – ein primäres Defizit von zwei Prozent des BIP erreicht; das globale Defizit sei auf über zehn Prozent des BIP gestiegen.

Neuer Kurs in der brasilianischen Wirtschaftspolitik

In der zweiten Regierungszeit von Dilma Rousseff, in der Joaquim Levy – ehemaliges Mitglied des Internationalen Währungsfonds und leitender Ökonom im Planungsministerium unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso – zum Finanzminister ernannt wurde, änderten sich Ende 2014 die Prioritäten der Wirtschaftspolitik. Um den primären Überschuss der staatlichen Konten wiederherzustellen und das Schuldenwachstum kontrollieren zu können, wurden die Steuersätze erhöht, restriktivere Regeln für den Zugang zu sozialen Leistungen eingeführt und eine weitreichende Kürzung staatlicher Zuschüsse in Gang gebracht. Dies war Teil der antizyklischen Politik, um der internationalen Finanzkrise Ende 2010 zu entkommen.

Vergleicht man die Monate von Januar bis September 2014 und 2015, verringerten sich die gesamten öffentlichen Ausgaben um vier Prozent und die Transferleistungen um 5,5 Prozent; auch die staatlichen Investitionen sind drastisch gesunken. Allerdings hat die geringere wirtschaftliche Aktivität die Steuereinnahmen wieder aufgefressen; sie fielen zwischen Januar und Oktober 2015 um 5,4 Prozent. Der Anstieg der Referenzzinssätze zur Kontrolle der Inflation zwang seinerseits zu höheren Zinszahlungen. In der Folge lag das Defizit im Oktober 2015 bei 8,9 Prozent des BIP und somit weit über den 5,3 Prozent zum Jahresabschluss 2014. Die öffentlichen Bruttoschulden stiegen laut den Hochrechnungen von 53 Prozent im Jahr 2013 auf 67 Prozent gegen Ende 2015.

Brasilien profitiert von Argentiniens neuer Wechselkurspolitik

Auf dem Gipfeltreffen des Mercosur in Asunción Mitte Dezember 2015 gab der brasilianische Minister für Entwicklung und Industrie, Armando Monteiro, zu verstehen, die Aufhebung der sogenannten Wechselkurs-Fessel zur Devisenkontrolle (“cepo cambiario”) durch die neue Regierung Argentiniens “ziele auf eine realistische Wechselkurspolitik ab”; dies werde „eine größere Dynamik in die Beziehung unter den Ländern des Mercosur bringen”.

Den brasilianischen Automobilfirmen kam das Konsumverhalten der Argentinier*innen in den letzten drei Monaten des vergangenen Jahres zu Gute. Angesichts der Aussicht auf die bevorstehende Abwertung [des argentinischen Pesos], machten sich die Argentinier*innen an den Kauf von Gebrauchsgütern und stürzten sich dabei auf brasilianische Autos. Nachdem deren Absatz 2014 um 46 Prozent gefallen war und im ersten Halbjahr 2015 stagnierte, stieg in der zweiten Jahreshälfte der Versand von brasilianischen Fahrzeugen nach Argentinien um mehr als zwölf Prozent an, mit mehr als 250.000 verladenen Autos.

Die Währungspolitik Brasiliens führte ihrerseits zu schlechten Ergebnissen. Seit 2013 verdoppelte sich die Selic Rate [der kurzfristige Zinssatz der Zentralbank], was Staatskosten sowie die Verteuerung von Krediten nach sich zog. Gleichzeitig stieg zwischen März 2013 und Oktober 2015 der Index der Verbraucherpreise um 20 Prozent. Außerdem war 2015 eine bedeutende Entwertung des brasilianischen Reals in Beziehung zum Dollar von mehr als 40 Prozent zu beobachten. Hinzu kamen hohe Preisschwankungen.

Brasilien 2016: Hohe Verbraucherpreise, geringe Investitionsanreize

Der letzte Monat des Jahres brachte neue Probleme mit sich. Die Ratingagentur Fitch entzog Brasilien am 16. Dezember, den Investitionsgrad. Seitdem werden die brasilianischen Staatsschulden bereits von zwei Agenturen für spekulative Investitionen gehalten, nachdem Standard & Poor’s die Note schon im September herabgesetzt hatte. Zwei Tage nach dem Bericht der Agentur Fitch trat Joaquim Levy von seinem Amt zurück und wurde von Nelson Barbosa ersetzt, welcher bis zu diesem Zeitpunkt als Planungsminister tätig war. Auch wenn Barbosa für die Notwendigkeit plädiert, einen Ausgleich der Staatskonten zu erreichen, geriet er betreffend der Kürzungen in den Infrastrukturausgaben an verschiedener Stelle mit Levy aneinander.

Nach 18 Monate langen Ermittlungen zur Operation “Lava Jato”, einem milliardenschweren Korruptionsskandal, scheint es keinen Zweifel mehr an deren negativen Effekt auf die Erwartungen des Wirtschaftswachstums zu geben. Gemäß der Bewertungen verschiedener Beratungsfirmen trug die besagte Operation mit 2,5 Prozentpunkten negativ zum BIP 2015 bei.

Die herrschende Ungewissheit im politischen Bereich, die geringen Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation, sowie die Schwankungen des Wechselkurses sorgen für ein schlechtes Klima, wenn es um langfristige Entscheidungen von Investor*innen und Konsument*innen geht. Auch wenn sich die Wirtschaftspolitik gewandelt hat, ist nach wie vor unklar, ob dies zu einer Veränderung des Klimas führen wird, innerhalb dessen das Wirtschaftssystem funktioniert. Daher wird Brasilien im Jahr 2016 wohl ein weiteres Rezessionsjahr erleben. Der CEPAL zu Folge wird das brasilianische BIP dieses Jahr um zwei Prozent fallen.

Die Zentralbank Brasiliens erhöhte ihrerseits die Inflationsprognose für 2016 auf 6,2 Prozent. Dies kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass die Institution an die Erhöhung der Zinssätze anknüpfen wird, was mögliche Investitionsentscheidungen weiter erschweren dürfte.

Argentinien: grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik

Die Schätzungen der CEPAL [vor Jahresende 2015] deuten darauf hin, dass Argentinien im vergangenen Jahr um 2,2 Prozent gewachsen und somit um mehr als 0,5 Prozent stärker ist als zum Jahresabschluss 2014. Die Dynamik in der Produktivität, die der öffentliche Sektor an den Tag legte, war dabei der wichtigste Faktor für die Dynamisierung der Wirtschaft. Ebenso nahm der private Konsum während des vergangenen Jahres zu, wenn auch auf moderate Weise. Investitionen waren allerdings weiterhin ernsthaft von der Ungewissheit hinsichtlich des Wechselkurses betroffen.

Andererseits fielen die Exporte um 15,1 Prozent, vor allem aufgrund des Rückgangs der Nachfrage aus Brasilien, dem Hauptexportland für argentinische Produkte, sowie der Preise für Produkte, die Argentinien ans Ausland verkauft. Die Stabilisierung des Wechselkurses trug dazu bei, dass die Inflation gebremst werden konnte, jedoch lag diese weiterhin weit über dem Durchschnitt der Region. Laut der CEPAL wird das Wirtschaftswachstum im Jahr 2016 bei 0,8 Prozent liegen, wobei die Zahl durchaus fallen könnte, abhängig davon wie sich die externen Schwankungen der Wirtschaft lösen lassen.

Die Schätzungen für Argentinien müssen notwendigerweise den Regierungswechsel in Betracht ziehen, der in Sachen Wirtschaftspolitik ein Umdenken der bisher grundlegenden Orientierungen bedeutet. Innerhalb von weniger als einer Woche setzte die neue Regierung unter der Führung von Mauricio Macri die zwei wichtigsten Versprechen der Wahlkampagne um: die Streichung von Steuern auf verschiedene landwirtschaftliche Produkte und die Aufhebung der Wechselkurs-Fessel.

Liberalisierung der Wirtschaft in vollem Gange

Nur 24 Stunden nach Amtsübernahme senkte die neue Regierung die Exportsteuern auf Soja um fünf Punkte und strich diese bei Weizen, Mais, Fleisch, Fisch und in der regionalen Wirtschaft. Die Maßnahme zielt darauf ab, den Verkauf von Getreide im Wert von etwa acht Milliarden US-Dollar sowie den Dollarfluss ins Land zu begünstigen. Gleichzeitig jedoch bringt sie einen Rückgang von 2,5 Prozentpunkten bei den Steuereinnahmen mit sich. Laut den Schätzungen des Instituts für Studien über die Realität Argentiniens und Lateinamerikas (Instituto de Estudios sobre la Realidad Argentina y Latinoamericana) werden die Kosten, die der Staatskasse durch die Abschaffung der Exportgebühren für Agrarprodukte entstehen, bei 3,685 Milliarden US-Dollar liegen. Diese werden zurück in die Hände des landwirtschaftlichen Sektors statt in die Staatskasse fließen.

Die Aufhebung der Restriktionen beim An- und Verkauf von US-Dollar, die seit 2011 gültig waren, wurde von Alfonso Prat-Gay, dem frischgebackenen Finanzminister, als wichtigste Maßnahme zur Liberalisierung der argentinischen Wirtschaft vorgestellt. “Wer Dollar kaufen will, wird das auch tun können, wer exportieren will, wird dazu keine Erlaubnis brauchen und wer importieren will, wird importieren können”, so Prat-Gay bei Bekanntgabe der Aufhebung.

Die Maßnahme führte zu einer starken Entwertung der lokalen Währung, die sich jedoch nicht unmittelbar durch höhere Preise äußerte, da viele bereits durch den Wert des illegalen Dollar bestimmt waren; und außerdem hatten jene Unternehmen, die in der Lage sind, Preise festzulegen, diese bereits im Oktober und November erhöht. Die Maßnahme bringt eine große Herausforderung für die Regierung Macris mit sich: den Wettstreit zwischen Preisen und Löhnen zu vermeiden. Die neue Regierung kündigte an, noch in diesem Sommer “die Positionen [von Arbeiter*innen und Unternehmer*innen] annähern” zu wollen, um ein umfassendes sozialwirtschaftliches Abkommen über die Festlegung der Lohnsätze zu erreichen.

Neuverhandlungen mit den Geierfonds angekündigt

Andererseits wurde die Wiederaufnahme der Gespräche zwischen Argentinien und den Holdout-Gläubigern, oder Geierfonds, angekündigt, nachdem die Verhandlungen zwischen dem damaligen Wirtschaftsminister Axel Kicillof, dem Unterhändler Daniel Pollack und den Vertreter*innen der Fonds NML Capital, Aurelius Capital, Blue Angel und Olifant, die vom Urteil des US-amerikanischen Richters Thomas Griesa [im Juni 2015] profitiert hatten, zum Stillstand kamen. Die Entscheidung des Richters, die von der argentinischen Regierung für die Zahlung der Schulden überwiesenen Gelder auf Eis zu legen, führte zur Verzugserklärung Argentiniens. Dies wiederum machte den Zugang des Landes zum internationalen Kreditmarkt noch schwieriger. Der Bedarf an US-Dollar, der sich, so die Hoffnung, mittelfristig nach Erholung der externen Märkte decken lässt, verlangt kurzfristig nach einer Darlehensaufnahme bei internationalen Kreditinstituten sowie der Ausgabe von Schuldenpapieren.

 

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