Kein Ende der Gewalt in Sicht

von Tomás Andréu

(Lima, 30. September 2015, noticias aliadas).- Allein im August 2015 wurden in El Salvador 911 Morde begangen. Dem Institut für Rechtsmedizin IML (Instituto de Medicina Legal) zu Folge, wurden allein am 27. August in 24 Stunden 52 Personen ermordet. Das IML geht davon aus, dass das Jahr 2015 mit 6.000 gewaltsamen Todesfällen zu Ende gehen wird – eine Zahl, die weit über dem historischen Hoch nach dem Ende des Bürgerkrieges liegt, das 2009 mit 4.367 Morden erreicht wurde.

Gewalt steigt mit Kampf gegen kriminelle Banden

Von Januar bis August dieses Jahres verzeichnete das mittelamerikanische Land mehr als 4.200 Mordfälle. Die salvadorianische Regierung schreibt die Zahl dem Kampf gegen seinen größten Feind zu, den „Pandillas”, kriminellen Banden des Landes. Als Antwort auf den Kampf der Regierung stiegen unter anderem die Ermordungen von Personen, die sich gegen Erpressung wehren, sowie von Polizist*innen und Angehörigen des Militärs, von Zivilpersonen, die sich in Gemeinden aufhalten, zu denen sie nicht hingehören und von Jugendlichen, die sich weigern, den Banden beizutreten.

Auch die Regierung bleibt von der Gewalt nicht verschont. Zwischen Januar und der zweiten Septemberhälfte 2015 wurden 51 Beamt*innen der Nationalen Zivilpolizei PNC (Policía Nacional Civil) getötet, eine Zahl die weit über der von 2014 mit 38 Morden liegt. Das Militär, das die Polizei bei Sicherheitseinsätzen begleitet, wurde ebenso zum Ziel der Pandillas, oder „Maras”, wobei mehr als ein Dutzend Militärangehörige getötet wurden, einschließlich eines Leibwächters des salvadorianischen Präsidenten Salvador Sánchez Cerén.

Abkommen der Vorgängerregierung zunichte gemacht

Der Anstieg der Morde ist laut den Sicherheitsbehörden auf den Entzug von Privilegien für inhaftierte Anführer der Banden Mara Salvatrucha und Barrio 18 zurückzuführen, welche diese unter der Regierung des Ex-Präsidenten Mauricio Funes (2009-2014) genossen. Dabei wurden ab 2012 die inhaftierten Bandenchefs aus dem Hochsicherheitsgefängnis des Departamentos Zacatecoluca – besser bekannt als „Zacatraz” – in gewöhnliche Gefängnisse verlagert. Neben der sogenannten „Tregua“, zu Deutsch „Waffenruhe“, einem Abkommen zwischen der Regierung und den Pandillas über das Ende der Feindseligkeiten unter den Banden, führten diese und weitere Privilegien zu einem Rückgang der Morde. Die Regierung des Ex-Präsidenten Funes gab allerdings niemals zu, dass die Idee und das Vorantreiben der „Tregua” von ihrer Amtsführung ausging. Die Regierung versuchte sich öffentlich als Art „Vermittlerin“ zu verkaufen, jedoch konnten Presseberichte das Gegenteil beweisen.

Die Regierung Funes hatte sich vorgenommen, die Mordzahlen zu senken und das gelang ihr auch. Vor der „Tregua” – die etwa eineinhalb Jahre andauerte – kam es in El Salvador täglich zu zwölf bis 14 Morden. Nach dem Abkommen sanken die Zahlen auf drei bis fünf Morde pro Tag.

Die zweite Regierung der linksgerichteten Partei FMLN (Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional), die seit dem 1. Juni 2014 im Amt ist, hat diese Vergünstigungen jedoch widerrufen. Die Bandenführer wurden erneut in das Hochsicherheitsgefängnis verlegt. Im Gegenzug wurden deren Feindseligkeiten heftiger und führten schließlich zu einem offenen Krieg gegen den Staat. Im September stieg die Zahl der Morde auf 24 pro Tag; die PNC schätzt, dass es Ende September 700 Mordopfer mehr geben würde. Im August kam es alle 24 Stunden zu 30 Morden.

Regierung hält an Vorgehen fest

Offiziellen Schätzungen zufolge halten sich in den Straßen El Salvadors mindestens 60.000 Bandenmitglieder auf. Innerhalb der Haftanstalten befinden sich 13.000 weitere. Von den Gefängnissen aus werden Erpressungen, Morde und andere Verbrechen mit landesweiten Ausmaßen veranlasst, wie etwa die Lahmlegung des öffentlichen Personentransports.

Der Staatssekretär für Kommunikation, Eugenio Chicas, bestätigte kürzlich gegenüber dem digitalen Nachrichtendienst El Faro, dass die Opferzahlen im kommenden Jahr ähnlich derer von 2015 ausfallen werden. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass die Regierung bei ihrem Kampf gegen die Pandillas nicht nachlassen dürfe, wozu massive Festnahmen der Mitglieder sowie verstärkte Repression in den von Banden kontrollierten Gebieten gehören.

Andere Regierung, gleiche Fehler

“Bei derart hohen Zahlen zu glauben, die Morde würden auf magische Weise ein Ende nehmen; dazu wird es nicht kommen. Die Auseinandersetzung mit dem Verbrechen kann derzeit nur zu dem führen, was wir bereits vor uns haben: jede Menge Opfer. Wir bedauern dies, glauben allerdings, es handelt sich dabei um den einzigen Weg und dieser ist unsere Strategie.”

Politische Beobachter der Linken glauben, die Regierung des Präsidenten Sánchez Cerén wiederhole bei ihrem Kampf gegen die Pandillas die Fehler der Rechten, die 20 Jahre lang mittels der Partei Alianza Republicana Nacionalista ARENA regierte – mit dem Unterschied, dass die neue Regierung sogar noch repressiver sei. Allerdings wird die Repression von den Bürger*innen unterstützt, die der Angst und Gewalt überdrüssig sind.

Pandillas zu Terrorist*innen erklärt

Die Kammer für Verfassungsrecht des Obersten Gerichtshofes erklärte die Pandillas am 26. August zu Terroristen. Die Entscheidung schließt Mitwirkende, Geldgeber*innen, Verteidiger*innen und all jene ein, die versuchen mit den Banden zu verhandeln.

“Indem der salvadorianische Staat die Pandillas zu terroristischen Gruppen erklärte, erhalten diese einen Status, der sie über die kriminellen Gruppen stellt und zu politischen Akteuren macht, deren Angriffe unmittelbar gegen den Staat und dessen Sicherheit gerichtet sind,” so der ehemalige Guerillakämpfer und Abgeordnete der FMLN, Raúl Mijango, gegenüber Noticias Aliadas. Mijango bezeichnet sich als Vermittler, als Brückenbauer zwischen den Maras und der Regierung Funes während den Verhandlungen zur „Tregua“.

“Die Gewalt ist das größte Problem El Salvadors. Wird dieses Problem nicht anständig gelöst, ist das Land nicht mehr regierbar“, warnt Mijango. Er erwägt eine Lösung, die sowohl für die politischen Parteien des Landes, als auch für die Gesellschaft und das Gesetz undenkbar ist: “Die zivilisierteste Form, um die Gewalt mit den geringsten sozialen und wirtschaftlichen Kosten zu senken und die Gewaltverursacher zum Teil der Lösung des Problems zu machen, ist der Dialog mit den Pandilleros. Man sollte nicht vergessen, dass das beste Gegenmittel aus dem Gift selbst gewonnen wird”, so Mijango.

Laut der ARENA-Partei, der ständigen Gegenspielerin des FMLN, “haben die Pandillas keinen politischen Status, nachdem sie zu Terroristen erklärt wurden. Das ist eine strafrechtliche Kategorie”, wie der pensionierte General Mauricio Vargas gegenüber Noticias Aliadas erklärt. Vargas ist derzeit Abgeordneter der ARENA und Mitglied der Kommission für Öffentliche Sicherheit des Parlaments.

„Tod den Pandilleros”

Regierung und Opposition machen sich gegenseitig für das Klima der Unsicherheit verantwortlich, das El Salvador durchlebt. Daher ist nicht verwunderlich, dass die Bevölkerung die Kommentare von Funktionären abfeiert, wie dem Vizepräsidenten des Parlaments, Guillermo Gallegos, der öffentlich „Tod den Pandilleros” fordert.

Blandino Nerio, Mitglied des FMLN und ebenso Abgeordneter der Kommission für Öffentliche Sicherheit des Parlaments, betont jedoch, dass die Ergebnisse, die von der Bevölkerung erwartet werden, nicht von einem Tag auf den anderen erreicht werden könnten: „Ein Problem, dass seit mehr als 20 Jahren existiert, kann nicht in einem Monat gelöst werden. Wir müssen die strukturellen Faktoren beseitigen, die dieses Problem der Gewalt hervorgebracht haben. Es ist nicht einfach, die Prozesse zu stoppen, die immer wieder neue Pandillas hervorbringt”, betont Nerio.

Kritik an Regierung und Gesellschaft

Jeannette Aguilar, Forscherin zu Sicherheitsthemen und Leiterin des Instituts für Öffentliche Meinung der Universität Centroamericana, hingegen übt scharfe Kritik an dem Handeln der Regierung; sie spricht von einem Rachedurst der salvadorianischen Gesellschaft und der Trägheit der Abgeordneten.

„Die Doppelmoral der salvadorianischen Gesellschaft und der Beigeschmack des Autoritarismus sind in der politischen Kultur El Salvadors nach wie vor präsent. Wir beschweren uns über die Gewalt und Kriminalität, wollen jedoch alles durch Gewalt lösen (…), die Funktionäre rechtfertigen die Kriminalität indem sie behaupten, es sei doch positiv, dass der Großteil der Toten selbst Pandilleros seien, denn diese ermutigen zum Töten. Die Funktionäre sollten selbst verhört gegen sie ermittelt werden, denn schließlich tragen sie zu noch mehr Gewalt in einem Umfeld großer sozialer Spannung bei”, erklärt Aguilar gegenüber Noticias Aliadas.

“Es gibt keine kurzfristige Lösung”, glaubt Aguilar, und ist damit wohl weit entfernt von substanzlosem Optimismus und nah an der Realität, „Korruption und die Kultur des Illegalen sind tief in unserem politischen System und den sozialen Strukturen verankert. Die Morde oder Gewalt der Pandillas sind nur eine sichtbare Form des tiefgreifenden Zerfalls und des Bruchs, der die salvadorianische Gesellschaft durchdringt.”

 

Dieser Artikel ist Teil unseres diesjährigen Themenschwerpunkts:

CC BY-SA 4.0 Kein Ende der Gewalt in Sicht von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert