J’accuse – Menschenrechtsverletzungen an MigrantInnen

von Angela Isphording, Mexiko-Stadt

(Berlin, 21. Oktober 2010, npl).- Vom 8. bis zum 11. November findet in Puerto Vallarta, Mexiko das Global Forum on Migration and Development (GFMD) statt. Zum vierten Mal treffen sich Mitgliedsstaaten der UNO, um gemeinsam über Migrationsfragen zu diskutieren. Unter dem Motto „Partnerschaft für Migration und menschliche Entwicklung – gemeinsamer Wohlstand, gemeinsame Verantwortung“ wird die Diskussion des letzten Jahres über den Nutzen und die Nutzung von Migration weitergeführt. Auf dem von der spanisch-mexikanischen Bank BBVA Bancomer gesponsertem Parallelforum der Zivilgesellschaft werden handverlesene Organisationen und Akteure zu ähnlichen Themen wie z.B. „Aufbau von Partnerschaften mit dem Privatsektor“ diskutieren. Viele MigrantInnenorganisationen verurteilen beide Initiativen und sprechen dem mexikanischem Staat das Recht ab, eine Prestige-Veranstaltung zu dem Thema zu organisieren. Stattdessen rufen sie zum „Alternativen Weltforum der Menschen in Bewegung“ und dem ersten „Internationalen Tribunal des Gewissens“ auf.

 

„Ich klage den mexikanischen Staat an, für das Verschwinden von Zehntausenden mittelamerikanischen Migrant*innen verantwortlich zu sein“

(Padre Luis Angel Nieto auf einer Pressekonferenz in Mexiko-Stadt am 6.10.2010).

Im Februar 2009 reiste das Komitee der Familienangehörigen von Migrant*innen COFAMIDE nach Mexiko, um von den mexikanischen Behörden eine Aufklärung des Verschwindens von knapp 300 ihrer Landsleute zu fordern. Leider handelt es sich dabei nicht um einen Einzelfall. Wie viele Menschen genau auf ihrem Weg über Mexiko in die USA jährlich „verschwinden“ ist nicht bekannt; genausowenig wie die Gesamtzahl der Mittelamerikaner*innen, die auf der Suche nach einem besseren Leben den gefährlichen Weg auf sich nehmen. Die einzig exakte Zählung betrifft diejenigen, die verhaftet und abgeschoben wurden: 2009 nahm das mexikanische Immigrationsinstitut INM (Instituto Nacional de Migración) 64.061 Ausländer*innen fest, die meisten aus El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua. Davon wurden 60.143 abgeschoben oder gingen freiwillig zurück (Instituto Nacional de Migración, Centro de Estudios Migratorios, Boletín mensual de estadísticas migratorias 2009). Die mexikanische Menschenrechtskommission CNDH schätzt die Zahl der Transit-Migration auf über eine halbe Millionen Menschen. Sie zahlen dafür zwischen 4.000 und 15.000 US-Dollar -informellen Schätzungen zufolge ist der Menschenhandel für das organisierte Verbrechen mittlerweile fast so lukrativ wie der Handel mit Drogen. Etwa drei Milliarden US-Dollar teilen sich die Kartelle mit korrupten Polizisten auf beiden Seiten der Grenzen.

„Ich klage den mexikanischen Staat an, für die über 5.000 Menschen verantwortlich zu sein, die jährlich beim Versuch, die Grenze zu überqueren zu Tode kommen“

(Padre Luis Angel Nieto auf einer Pressekonferenz in Mexiko-Stadt am 6.10.2010).

Während das Augenmerk der mexikanischen Regierung nach Norden gerichtet ist – dort, wo an der Grenze zu den USA über 750 Menschen im Jahr den Tod finden, viele von ihnen Mexikaner*innen – ist sie im Hinblick auf die Südgrenze zu Guatemala und Belize hin blind. Dabei finden gerade hier die meisten Menschen den Tod. In diesem indigen und ländlich geprägten Territorium, wo das organisierte Verbrechen Hand in Hand mit den staatlichen Institutionen arbeitet; hier wo die Hoffnung auf ein besseres Leben in Vergewaltigung, Verschleppung oder dem Tod endet. Doch der Tod lauert überall in Mexiko. Die Grenze ist keine geographische Trennlinie zwischen drei Ländern, sondern vielmehr ein Repressionsapparat, der ganz Mexiko mit Verwahrungsanstalten und Migrationskontrollen überzieht. So werden die meisten Migrant*innen im Bundesstaat Oaxaca abgefangen – gute 200 km von der eigentlichen Grenze entfernt. Die Finanzierung der Grenzwächter wird unter anderem aus Geldern des Plan Mérida bestritten -unter dem Schutzmantel der Terrorismusbekämpfung verschieben hier die USA klammheimlich ihre Grenze nach Süden.

„Ich klage den mexikanischen Staat an, die Entführung Zehntausender Migrant*innen auf mexikanischem Territorium zu ignorieren“

(Padre Luis Angel Nieto auf einer Pressekonferenz in Mexiko-Stadt am 6.10.2010).

Die erschütternde Nachricht vom Tod der 72 Migrant*innen im nordmexikanischen San Fernando, Tamaulipas im August dieses Jahres erreichte auch die internationale Berichterstattung. Die US-amerikanische Tageszeitung „New York Times“ ließ sich zu dem Kommentar hinreißen, dass die USA den Drogenbaronen nicht nur die Versorgung der amerikanischen Bevölkerung mit Drogen überließe, sondern auch ihren Bedarf an Migrant*innen reguliere. Die mexikanische Menschenrechtskommission CNDH geht davon aus, dass im Jahr etwa 20.000 Migrant*innen in Mexiko entführt werden und das organisierte Verbrechen damit etwa 50 Millionen Dollar Gewinn mache. Im vergangenen Jahr publizierte die Organisation eine Studie mit dem Namen „Willkommen in der Hölle der Entführungen“, in der auf der Grundlage von Interviews mit Betroffenen die Mechanismen des „Business“ dargelegt wurden: die Migrant*innen werden aufgegriffen, an einen abgelegenen Ort gebracht und dort solange gefoltert und vergewaltigt, bis ihre Familienangehörigen in den USA die verlangte Summe beglichen haben. Wer nicht zahlt wird umgebracht. Der Bericht legt auch die Verquickung zwischen dem organisierten Verbrechen und den staatlichen Organen Mexikos offen. Auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 25. August 2009 gab Mauricio Farah Gebara, der Verantwortliche für diese Studie, resigniert zu Protokoll, dass die Staatsanwaltschaft bislang keinem der Hinweise nachhaltig nachgegangen sei.

„Ich klage den mexikanischen Staat der Vernachlässigung und Unterlassung in einigen Fällen und der Mittäterschaft in anderen Fällen an“ 

(Padre Luis Angel Nieto auf einer Pressekonferenz in Mexiko-Stadt am 6.10.2010).

Auch im Fall der 72 Toten von San Fernando, Tamaulipas ist bislang wenig geschehen. Der UNO-Sonderberichterstatter für Migration Jorge Bustamante machte in einem Interview Ende August „Mitglieder der Polizei auf lokaler, bundesstaatlicher und nationaler Ebene“ für die Verbrechen verantwortlich und erachtete ein Eingreifen von UNO und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) für notwendig, „damit die mexikanische Regierung der Sache nachgeht“. Seiner Meinung nach nähert sich Mexiko immer mehr „dem Bild eines failed state an“ (AFP 30.8.2010).

Wer Aufklärung fordert oder die Migrant*innen unterstützt, gerät schnell selbst ins Fadenkreuz: sowohl Menschenrechtsverteidiger*innen als auch Schutzhäuser für Migrant*innen (Refugios) wurden wiederholt von Sicherheitskräften und dem organisierten Verbrechen angegriffen. Emblematische Beispiele sind die katholischen Priester Padre Alejandro Solalinde aus Ixtepec, Oaxaca und der Bischof von Saltillo Raúl Vera, die sich immer wieder der Staatswillkür und der Gewalt der Mafia entgegenstellen. Raúl Vera wurde dieses Jahr mit dem angesehenen Rafto-Preis ausgezeichnet. Die norwegische Stiftung will nach eigener Aussage mit dem Preis „auf die dramatische Situation der Menschenrechte in Mexiko hinweisen“. Die mexikanische Regierung reagierte nicht auf die Auszeichnung des Bischofs.

Je juge… Internationales Tribunal des Gewissens

Angesichts dieser Situation hat Mexiko nach Aussage von Camilo Pérez Bustillo, Professor für Menschenrechte an der Universität von Mexiko-Stadt (UACM) „weder die nötige moralische noch die politische Legitimation, um als Gastgeber des Global Forum on Migration and Development aufzutreten“. Pérez Bustillo ist Mitglied des internationalen Netzwerks von Migrant*innen, Flüchtlingen und Vertriebenen Miredes, das die Federführung für das Tribunal übernommen hat. Nach Ansicht der Veranstalter*innen unterstützen Initiativen wie das GMDF die vorherrschende Tendenz der Migrationspolitiken, die hegemonischen Interessen des Weltwirtschaftssystems zu stützen und die Migrationsbewegungen entsprechend dessen Bedürfnissen zu steuern. Das herrschende Entwicklungsmodell basiert auf der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen. Um die richtigen Arbeitskräfte an den richtigen Ort zur richtigen Zeit und zu den richtigen Kosten zu gewährleisten, werden Mauern gebaut, Grenzen verschoben, ganze Territorien militarisiert und Migrant*innen kriminalisiert. Demgegenüber fordern die Organisator*innen des Tribunals das Recht zu migrieren (Bewegungsfreiheit), das Recht NICHT zu migrieren (Gewährleistung ökonomischer, sozialer und kultureller Rechte, sowie eine nachhaltige, ressourcenschonende Entwicklung) und die Gewährleistung staatsbürgerlicher Rechte am Wohnort, unabhängig von Herkunft, Rasse, Geschlecht, Religion oder Nationalität. Die Initiative wird von der „Internationalen Lelio Basso Stiftung für die Rechte der Völker“, sowie einer Reihe von Persönlichkeiten (u.a. Noam Chomsky, Mumia Abu Jamal und Leonard Peltier) unterstützt. Die erste Sitzung wurde während des Weltmigrationsforums in Quito abgehalten; das Tribunal wird zum zweiten Mal vom 4.-9. November in Mexiko-Stadt tagen. Unter anderem stehen folgende Fälle auf der Tagesordnung: das Massaker von San Fernando, die Verfolgung und Deportation der Roma in Europa, Vertreibung indigener Völker in Kolumbien und Chile, sowie die ausstehenden Zahlungen der USA an mexikanische Wanderarbeiter (Braceros). Die (nicht rechtlich bindenden) Urteile werden den in Puerto Vallarta tagenden Regierungen durch eine eigens dafür organisierte Karawane überreicht werden.

 

Weitere Informationen:

http://tribunalmigrante.saltoscuanticos.org/

http://www.gfmd2010mexico.org/

http://www.gfmd.org/mexico-2010/

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