Interview: Wirtschaftswissenschaftlerin Sanhueza fordert Reform der Sozialversicherung

Von Andrea Martínez

(Montevideo, 26. April 2017, la diaria).- Die Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Sanhueza hat in Cambridge promoviert und forscht an der Universität Diego Portales in Santiago de Chile. Sie unterstützt die Gruppen, die eine Reform der Sozialversicherung in Chile fordern, da sie der Ansicht ist, dass das aktuelle System nur für eine Minderheit funktioniert. Außerdem ist sie einer der führenden Köpfe des Bündnisses Breite Front (Frente Amplio), einem Zusammenschluss von Parteien und Bewegungen der Linken, das beabsichtigt, an den Wahlen 2017 teilzunehmen und Reformen in verschiedenen Bereichen voranzutreiben.

la diaria: Um was geht es bei der Debatte um die Rentenkassen in Chile?

Claudia Sanhueza: Das chilenische System ist extrem: Es gibt keine öffentlich verwaltete Sozialversicherung. Stattdessen sind die privaten Rentenkassen AFP (Administradoras de Fondos de Pensión) für alle zuständig. Der öffentliche Etat der Sozialversicherung ist minimal im Vergleich zu dem, was die OECD-Mitgliedsstaaten im Schnitt dafür ausgeben.

Ein Drittel dieses Etats wird für die Kosten verwendet, die aus dem Übergang von einem System in das andere entstehen. Das zweite Drittel ist für das Rentensystem des Militärs bestimmt, die die einzigen sind, die noch ein öffentliches Sozialversicherungssystem haben.

Das letzte Drittel geht an einen Hilfspfeiler des Systems, mit dem diejenigen unterstützt werden, die keine Rente erhalten konnten. Diese staatliche Ausgabe ist klein, aber es ist die größte Ausgabe im Rentenbereich in Chile, denn die Rentenkassen arbeiten mit privaten Ersparnissen. Bereits vor dem Jahr 2006 wurde ermittelt, dass die Bevölkerung in naher Zukunft nicht über ausreichende Ersparnisse verfügen wird, um ihre Rente zu bezahlen.

Warum?

Claudia Sanhueza: Die Beiträge zur Rentenkasse sind niedrig, sie liegen bei zehn Prozent des Gehalts. Außerdem haben Arbeiter*innen niedrige Gehälter und häufig nur befristete Arbeitsplätze, weshalb die Beitragsdichte sehr gering ist. Auf dem Papier mag das Konzept der individuellen Ersparnisse für alle funktionieren. In Wirklichkeit jedoch dient es nur einer Minderheit, die einen stabilen Arbeitsplatz mit hohem Einkommen hat und ihre Ersparnisse in einem komplexen Finanzsystem zu verwalten weiß.

Das gegenwärtige Sozialversicherungssystem erfüllt nicht die Prinzipien der Sozialversicherung: 80 Prozent der Renten liegen heute unter dem Mindesteinkommen [264.000 chilenische Pesos im Monat, umgerechnet ungefähr 400 US-Dollar]. Im letzten Jahr entstand eine gewaltige soziale Bewegung, als die Höhe der Militärrenten bekannt wurden, die viel, viel höher sind als die Renten der restlichen Bevölkerung. In Chile gibt es aktuell ein größeres Bewusstsein dafür; ich glaube, dass das bei uns allen angekommen ist, nicht nur bei der Mittelschicht.

Hält die Gesellschaft ein öffentliches System der Sozialversicherung für notwendig?

Claudia Sanhueza: In Chile ist die Durchführung von Reformen mühsam. Das politische System hat sich sehr von den Bürger*innen entfernt, und die institutionellen Vorgaben – wie etwa das System der privaten Rentenkassen – sind sehr schwer zu verändern. Dadurch entsteht eine Art Isolierung, wir sind halb gelähmt. Die Wirtschaftselite versteht nicht, dass es eine politische Forderung nach einem anderen Sozialversicherungssystem gibt. Die Situation ist sehr kompliziert. Vor kurzem gab die Regierung bekannt, dass sie eine Abgabe von fünf Prozent auf Seiten der Arbeitgeber*innen einführen wird: Drei Prozent sind für individuelle Sparkonten bestimmt, die allerdings von einer öffentlichen Einrichtung verwaltet werden. Zwei Prozent gehen an ein solidarisches System der Sozialversicherung mit kollektiven Konten und Verteilung, wie etwa in Uruguay. Das ist alles, was erreicht wurde. Sogar bei dieser Lösung beschweren sich die AFP, dass ihnen die Verwaltung dieser fünf Prozent nicht übertragen worden ist.

Was ist passiert zwischen dem Beginn der Regierung unter Michelle Bachelet, als verschiedene tiefgreifende Reformen versprochen wurden, und dem jetzigen Zeitpunkt, wo diese Reformen auf eine Minimalvariante reduziert wurden?

Claudia Sanhueza: Das ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Auf der einen Seite glaube ich, dass die regierende Partei der Neuen Mehrheit (Nueva Mayoría, ein 2013 entstandener Zusammenschluss verschiedener Parteien aus dem linken und Mitte-Links-Spektrum) zum jetzigen Zeitpunkt zwei Seelen hat – die „Sozialdemokrat*innen mit ihrem Rahmen des Möglichen“ und die „Neoliberalen mit menschlichem Antlitz“, die in ständigem Streit miteinander begriffen sind. Am Anfang übernahm die Regierung die Forderungen der sozialen Bewegungen, so zum Beispiel die nach kostenloser Bildung. Es war ein sozialdemokratischerer Diskurs sichtbar, aber ohne dass der gesamte Zusammenschluss dahinter gestanden hätte.

Im ersten Jahr war es sehr schwierig, die Reformen anzuschieben, weil sie die ganze Zeit von Gegenstimmen innerhalb der Partei torpediert wurden. Der rechte Flügel war sehr verzweifelt angesichts dieses Reformeifers, und das, obwohl die Reformen nicht sonderlich radikal waren. Diesen wurde schließlich ein Diskurs entgegengestellt, wonach die Reformen schlecht seien, weil sie Unsicherheit verursachten, die Investitionen und Wachstum bremsen würde. Tatsächlich stagnierte das wirtschaftliche Wachstum als Folge der internationalen Situation und der Lage im Inland. Außerdem kamen eine Menge Finanzierungsproblematiken im Politikbetrieb zutage hinzu sowie eine Reihe von Korruptionsfällen. Das führte zum kompletten Kollaps der Regierung. Bis dahin hatte die Regierung die Möglichkeit gehabt, ihr politisches Kapital in die Waagschale zu werfen, um die Reformen tatsächlich voranzutreiben. Doch die Korruptionsfälle führten zum politischen Absturz der Regierung. Diese kam völlig von ihrem Kurs ab, und die Neoliberalen mit menschlichem Antlitz gewannen erneut die Oberhand.

Die Regierung nutzte diese Forderungen aus der Bevölkerung dann nicht als Druckmittel gegen die Rechte bei den Verhandlungen.

Claudia Sanhueza: Genau das passiert jetzt mit der Rentenreform: Eine Million Menschen gehen auf die Straße, und die Regierung eignet sich ihre Forderungen nicht an. Sie macht es sich schwer, sie diskutiert viel mehr mit den Führungskräften der AFP als mit den Arbeiter*innen, und so verliert sie sich. Und innerhalb der Koalition sind die Unterschiede zu groß; Koalitionen weisen immer eine gewisse Breite an Zielen und Überzeugungen auf, aber eine Sache sind graduelle Meinungsverschiedenheiten mit einem gemeinsamen Ziel und eine andere unterschiedliche Vorstellungen von der Richtung, die verfolgt werden soll. In der Nueva Mayoría existieren gegensätzliche Richtungen, deshalb geht es nicht voran. In diesem Kontext glaube ich, dass das Frente Amplio auch eine Rolle spielen wird; ich hoffe, dass zu irgendeinem Zeitpunkt Gruppen der Nueva Mayoría, die schon Reformen vorantreiben wollen, sich dem Frente Amplio anschließen.

Aber besteht beim Frente Amplio, dem Parteien mit ebenso vielfältigen ideologischen Richtungen angehören, nicht dasselbe Risiko wie bei der Nueva Mayoría?

Claudia Sanhueza: Dieses Risiko gibt es immer. Aber ich glaube, dass innerhalb des Frente Amplio weniger Differenzen bestehen als bei der Nueva Mayoría. Außerdem sind wir davon überzeugt, dass wir die Meinung der Bürger*innen tatsächlich vertreten können. Wir glauben, dass Politik nicht nur durch politischen Institutionen, sondern auch mit den Leuten gemacht wird. Wir arbeiten sehr hart daran, mit der Bevölkerung zusammenzuarbeiten. Denn das neoliberale System hat auch eine äußerst neoliberale Kultur geschaffen, sodass wir alle Entscheidungen derart treffen, dass die eigenen Vorteile maximiert werden. Es gibt keinen Raum für eine kollektive Versorgung. Das ließ sich beispielsweise bei der Reform der Sekundarschulen auf dramatische Weise erkennen: Als die staatlich finanzierten Schulen kostenlos wurden, die Immatrikulationsgebühr abgeschafft und eine Auswahl der Schüler*innen nach sozial-ökonomischen Gründen verboten wurde, protestierten die Eltern massiv vor dem Kongress. Sie sagten: „Wenn das Bildungssystem kostenlos wird, wird doch jeder in diese Schulen kommen.“

Wie sind die Aussichten, dass die notwendigen Reformen in Chile durchgeführt werden?

Claudia Sanhueza: Es gibt mindestens drei Faktoren: die wirtschaftliche Elite, das politische System und die sozialen Bewegungen. Die wirtschaftliche Elite müsste erkennen, dass eine gleichberechtigtere Gesellschaft in Chile notwendig ist. Wir haben eine große Ungleichheit in allen Bereichen, im Wirtschaftlichen, aber auch auf der Ebene der Bürger*innen und der Kultur. Das macht die Gesellschaft unregierbar. Die Elite möchte in einem ruhigen Land leben, aber eine solche Ungleichheit beizubehalten macht die Demokratie und den sozialen Frieden unmöglich. Die Elite wird nur auf einer einzigen Weise merken, dass das Land tatsächlich nicht regierbar wird: Wenn Millionen ständig auf den Straßen protestieren. Das ist tatsächlich ein wenig der Fall, es gibt viel mehr Proteste wie früher.

Das politische System muss reformiert werden, viel mehr, als in dieser Legislaturperiode passiert ist. Es muss verändert werden, um mit jeder Reform die Bevölkerung in noch stärkerem Maße zu vertreten. Die neuen Kräfte haben eine große Verantwortung, wenn es darum geht, das Vertrauen der Bürger*innen in das System wiederherzustellen. Denn die Leute wählen nicht, sie wollen nichts von der Politik wissen. Zwar ist die Bevölkerung in den letzten Jahren politisch aktiver, aber das zeigt sich weder in der Wahl noch in einer Teilnahme in der Politik. Vielmehr beteiligt sie sich im nicht-institutionellen Bereich, in sozialen Organisationen, deren Zahl sich in den letzten Jahren verdoppelt hat.

Ich glaube, dass den Leuten bewusst wird, dass Ziele nur erreicht werden, wenn man kollektiv handelt. Außerdem verändert sich die Gesellschaft selbst, sie wächst und hat neue, wachere Generationen. Hoffen wir, dass wir diesen Prozess etwas steuern können, denn es gibt keinen anderen Weg.

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