Indigene Völker leiden seit über 500 Jahren unter einer Diktatur

von Egon Dionísio Heck*

(Fortaleza, 31. März 2014, adital).- Die Erinnerung an den 50. Jahrestag des Militärputsches von 1964 – Beginn einer weiteren Diktatur – könnte ein geeigneter Moment sein, über die Ureinwohner*innen Brasiliens zu informieren, ihnen Verständnis, Respekt und Wertschätzung entgegenzubringen. Es geht nicht nur darum, den Völkermord und das Massaker an fast tausend indigenen Völkern anzuerkennen – im Schnitt also zwei ausgelöschte Völker pro Jahr seit Ankunft der portugiesischen Kolonialherren – , sondern den 305 überlebenden Völkern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

WM-Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit nutzen

Das Land der Indigenen muss anerkannt, demarkiert und respektiert werden. Bevor bei der Weltmeisterschaft der erste Ball rollt, wird die Welt wissen, warum die historische Schuld gegenüber den indigenen Völkern noch nicht beglichen wurde. Bevor das erste Tor fällt, muss sich das Gastgeberland rechtfertigen, warum noch immer nicht indigene Gebiete abgegrenzt wurden, so wie es Brasiliens Verfassung und die internationale Gesetzgebung bestimmen. Es gibt keine Zeit mehr, das Ganze zynisch auf „nach der WM“ hinauszuschieben.

Der 1997 gestorbene Ethnologe Darcy Ribeiro erinnerte uns daran, dass die den Ureinwohner*innen erklärten Kriege und die Ausrottungsdekrete zum Mord an über fünf Millionen Indigenen führten, die auf dem heutigen Gebiet Brasiliens lebten. Wir wissen nur wenig über diese Vernichtungsgeschichte. Die Geschichte, die die Kolonialherren, die politischen und wirtschaftlichen Eliten erzählten, preist die Herrscher und Mörder der Indigenen und verschweigt zugleich ihren heldenhaften Widerstand.

Indigene Sichtweisen gewinnen an Bedeutung

Glücklicherweise gibt es aber Anzeichen dafür, dass sich etwas ändert. Sowohl in der brasilianischen Gesellschaft als auch in der indigenen Bewegung bestehen Initiativen, die das herrschende Bild umzukehren versuchen. Die Wahrheitskommission und die Indigene Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit sind Signale, wenn auch noch zaghafte und begrenzte, die eine neue Richtung weisen.

1968 erscholl der Ruf der überlebenden Indigenen in Brasilien und auf der Welt: der über 7.000 Seiten starke „Figueiredo-Bericht“ prangerte Massaker und Gewalttaten an den Ureinwohner*innen an. Zuvor hatte sich 1953 eine Untersuchungskommission im Senat, 1963 dann eine in der Abgeordnetenkammer, mit der Thematik beschäftigt. Das Drama der indigenen Völker in Brasilien fand Widerhall auf der ganzen Welt. Die brasilianischen Regierungen und der Staat kamen nicht mehr umhin, Maßnahmen zu treffen. Die Militärdiktatur schaffte 1967 den 1910 gegründeten „Schutzdienst für Indigene“ (Serviço de Proteção ao Índio) ab und ersetzte ihn durch die noch heute bestehende Indigenenbehörde FUNAI (Fundação Nacional do Índio). Über hundert Beamte wurden angeklagt.

„Entwicklung“ – beschleunigte Entrechtung der Indigenen

Massaker, Gewalt und die Verweigerung von Rechten sind bis heute Realität für Brasiliens indigene Völker. Sie erleiden seit über 500 Jahren eine wahre Diktatur. Beleg hierfür ist die aktuelle, angeblich auf Entwicklung ausgerichtete Politik Brasiliens, die in Konflikt mit den Rechten der indigenen Völker gerät und diese nicht respektiert, vor allem was ihr Land betrifft.

Um den Prozess der Auslöschung der indigenen Völker in Gang zu bringen, entwickelte die Militärdiktatur, namentlich der Innenminister Rangel Reis, ein Projekt, das die „Emanzipierung“ der Indigenen vorsah. Auf diese Weise sollte indigenes Land in die Hände von Großgrundbesitzer*innen gelangen. Das „Indigenen-Statut“ aus dem Jahr 1973 (das übrigens heute noch in Kraft ist) hatte vorgegeben, die Demarkierung aller indigenen Gebiete bis 1978 abzuschließen. Nun aber wurden 80 Prozent der Indigenen kurzum zu Nicht-Indigenen erklärt, die kein Recht auf Land haben.

Das Projekt wurde zwar aufgrund des Drucks, den die indigenen Völker und die brasilianische Gesellschaft ausübten, zunächst aufgegeben, doch sollte es später mehrere Male wieder auftauchen – vor allem in den 1980er Jahren, als Obristen bei der FUNAI das Sagen hatten. In dieser Zeit wurden auch von Oberst Hausen die berüchtigten rassistischen Kriterien dafür entwickelt, wer Indigener ist. Das Projekt wurde von indigenen Völker und ihre Verbündeten in der brasilianischen Gesellschaft gemeinsam zu Fall gebracht: Die Regierung nahm Abstand. FUNAI vom Erbe der Militärdiktatur belastet

Die Indigenenpolitik der brasilianischen Militärdiktatur richtete in der FUNAI einen starken Militärapparat ein, initiiert von Nationalem Sicherheitsrat (Conselho de Segurança Nacional) und dem Geheimdienst Serviço Nacional de Informação. Ziel: Kontrolle und Unterdrückung sowohl der indigenen Völker als auch ihrer Verbündeten. Die meisten Posten innerhalb der FUNAI besetzten nun Militärs – Aktive oder Reservisten. Zählte die FUNAI 1967 bei ihrer Gründung 700 Beamte, so waren es nur wenige Jahre später mehr als 7.000. Heute ist die FUNAI nicht mehr militarisiert, die Indigenenbehörde weist aber starke Spuren aus der Zeit der Diktatur auf.

Festzuhalten ist: Die indigenen Völker haben das Integrationsprojekt besiegt. Ihr Widerstand hat dafür gesorgt, dass die Lage eine deutlich andere ist als jene, die ihre Feinde ersehnten. Statt einer Auslöschung der indigenen Bevölkerung kam es zu einem überraschenden Wachstum. Betrug die Zahl der Indigenen in Brasilien 1964 zu Beginn der Militärdiktatur weniger als 100.000, so sind es heute fast eine Million, die sich auf 305 Völker im ganzen Land verteilen. Die demokratische Verfassung aus dem Jahr 1988 erkennt Bräuche, Sprachen, Glauben und Traditionen der indigenen Völker und ihre angestammten Rechte auf dem Land ihrer Vorfahren an. Es sind diese Errungenschaften, gegen die sich aktuell die gewalttätigen Angriffe der anti-indigenen Kräfte in Brasilien richten.

Egon Dionísio Heck ist Generalsekretär des Indigenenmissionsrates Cimi.

 

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