Humanitäre Krise in Michoacán trifft Frauen und Kinder

von Silvia Núñez Esquer

(Mexiko-Stadt, 11. Juli 2014, cimac).- Talía Vázquez Alatorre ist Anwältin und Aktivistin. Sie vertritt den im Juni verhafteten Bürgerwehr-Chef José Manuel Mireles Valverde. Dieser wird beschuldigt, das Abkommen zwischen den Bürgerwehren und dem Sicherheitsbeauftragten der Bundesregierung für Michoacán, Alfredo Castillo, gebrochen zu haben.

Die Anwältin schilderte die alltägliche Gewalt, die besonders die Frauen in dem Bundesstaat betrifft. Sie betont, es sei die Gewalt gegen Frauen und Kinder gewesen, die den Ausschlag für die Formierung von Bürgerwehren im Bundesstaat Michoacán gegeben habe, denn eigentlich sei bereits ein gewisser Gewöhnungseffekt in der Bevölkerung eingetreten; Wie selbstverständlich teile man die Ernte mit den Drogenhändlern, Erpressungen gehörten zum Alltag. Allem Anschein nach war das noch nicht genug, um die Bürgerwehr auf den Plan zu rufen.

Entführungen, Vergewaltigungen, Schutzgelderpressung

Ihr Mandant Mireles habe drei Töchter, erzählt die Anwältin. Die Jüngste geht in Tepalcaltepec, Michoacán, auf eine weiterführende Schule. Mireles war dort Vorsitzender der Elternvertretung. Der geschätzte Bürger und angesehene Arzt leitete bis zu seiner Verhaftung das Gesundheitszentrum. Doch innerhalb von nur einem Monat entführten und vergewaltigten Mitglieder des Drogenkartells „die Tempelritter“ vierzehn Mädchen, die mit seiner Tochter zur Schule gehen. Laut Talía Vázquez setzten sich die Drogenhändler in den Stadtpark, guckten sich die Leute an, die vorbeigingen, bis dann einer fand: „Die ist doch nicht schlecht, die nehmen wir“, und dann entführten sie das Mädchen.

In anderen Fällen kamen sie zu den Leuten nach Hause, um das Schutzgeld zu kassieren, und während die Erpressten das Geld auf den Tisch legten, meinten sie plötzlich: „Ach ja, deine Frau nehm’ ich auch mit.“ Sie vergewaltigten die Frauen und brachten sie am nächsten Tag wieder zurück, nicht selten mit den Worten: „Du kannst zugucken, wie ich deine Tochter bade, die nehmen wir nämlich heute mit.“ Bei seiner Tätigkeit als Arzt in der Ortschaft fiel Mireles irgendwann auf, dass er seit einem Jahr kaum eine erwachsene schwangere Frau, dafür aber immer mehr minderjährige schwangere Mädchen betreute, die von den „Tempelrittern“ vergewaltigt worden waren. Die meisten Mädchen wurden erst nach 15 Tagen aus der Gewalt der Drogenhändler entlassen.

Der Staat schützt die Menschen nicht mehr

Vázquez Alatorre weiß, was es bedeutet, vergewaltigt zu werden. Sie selbst wurde im Jahr 2011 Opfer einer Gruppenvergewaltigung und gründete darauf eine Hilfsorganisation für vergewaltigte Frauen und Mädchen, die sich „Mexiko gegen die Straflosigkeit“ nennt. „Was können diese Mädchen erwarten? Wer erstattet Anzeige? Wo können die Eltern überhaupt Anzeige erstatten, wenn ihre Töchter vergewaltigt wurden? Beim Staatsanwalt, der vielleicht selbst den Tempelrittern angehört? Oder es den Tempelrittern zumindest mitteilt, wer sie angezeigt hat?“, gibt die Anwältin zu bedenken. Nach Vázquez Alatorres Ansicht hat der Staat komplett versagt. Es gibt keine unabhängige Autorität mehr, an die man sich wenden und bei der man ein Verbrechen zur Anzeige bringen kann. Es gibt keine öffentliche Instanz mehr, die die Menschen schützt, darum müssen sie sich selbst kümmern.

Also schlossen sich die Gründer*innen der Ortschaft, die Viehzüchter*innen und andere zusammen, um über das Problem zu reden. Dabei kamen die persönlichen Erfahrungen der einzelnen auf den Tisch; lauter Erlebnisse, über die niemand gerne spricht. „Sie haben meine drei Töchter entführt und vergewaltigt. Sie haben sie auch wiedergebracht, aber nun habe ich Angst. Lasst sie uns umbringen, wir können das nicht länger tolerieren, und wir haben niemanden, an den oder die wir uns wenden können.“

Die Väter werden verhaftet, nicht die Vergewaltiger

„Die Gewalt gegen die Mädchen geht weiter. Es werden immer wieder Mädchen entführt und vergewaltigt, aber nun kommt noch ein neues Phänomen dazu: die ’Witwen der Bürgerwehr-AktivistInnen’“, erklärt die Anwältin. „Damit sind die Familien gemeint, die besonders schutzlos leben, weil der Familienvater im Gefängnis sitzt, nur weil er verhindern wollte, dass seine Tochter vergewaltigt wird. Statt den Vergewaltiger einzusperren, verhaften sie den Familienvater“, empört sich Vázquez Alatorre.

Die humanitäre Krise in Michoacán hat beträchtliche Ausmaße angenommen. Kinder sind der Gewalt des organisierten Verbrechens schutzlos ausgeliefert. Der einzige, der sie beschützen würde, ist ihr Vater, und der sitzt im Gefängnis. In einigen Familien haben sie alle männlichen Verwandten umgebracht, den Vater, den Großvater, die Onkel und die Brüder. Nur die Frauen sind übrig geblieben. „Ich habe keine Ahnung, wie man eine Waffe bedient, das habe ich noch nie gemacht, aber glauben Sie mir: Mittlerweile wäre ich dazu bereit“, erzählt die Aktivistin, die täglich neue Drohungen erhält, nachdem sie ihre Vergewaltigung zur Anzeige gebracht hatte. „Die Situation in Michoacán kann nur als humanitäre Krise betrachtet werden, ganz besonders, was das Leben der Frauen betrifft.“

Frauen organisieren sich selbst

Die Frauen der Familien, die alle männlichen Familienmitglieder durch tödliche Angriffe verloren haben, haben sich zusammengeschlossen. Zwei oder drei von ihnen kümmern sich um den Garten oder das Saatfeld der Familie. Dabei sind sie stets bewaffnet, um einen Angriff abwehren zu können. Sie sind die Reserve der Bürgerwehr, und gleichzeitig stehen sie in vorderer Reihe, da es niemanden mehr gibt, der sie verteidigen würde.

Laut Vázquez wurden die meisten der jungen Frauen, die sich in der Bürgerwehr organisieren, vorher selbst Opfer von Vergewaltigungen. Demnach wollten sich nicht mit der Schutzgelderpressung abfinden, sondern weigerten sich zu zahlen, wenn die Drogenhändler kamen. Als nächstes müssten sie dann allerdings fürchten, dass ihre Mütter oder sie selbst umgebracht werden.

Doktor Mireles sei verhaftet worden, weil die Bürgerwehr ihre Waffen nicht herausgeben wollte, erzählt die Anwältin. Der Regierungsbeauftragte Castillo hatte unerfüllbare Bedingungen aufgestellt und daraus ein Medienspektakel gemacht. „Von Menschen, die bedroht und von bewaffneten Kriminellen belagert werden, kann man nicht verlangen, dass sie die Waffen niederlegen. (…) Das ist alles nur eine medienwirksame Farce, die mit der realen Situation nichts zu tun hat.“

„In Mexiko ist es sowieso schwierig, Vater oder Mutter zu sein, aber Vater oder Mutter in einem Kriegsgebiet zu sein, wo sie dich oder deine Tochter vergewaltigen und wo sie deinen Sohn töten, das ist fast nicht mehr zu leisten. Die Drogenhändler belagern die Dörfer. Sie riegeln sie ab. Es gibt kein Wasser, kein Essen, die Kinder hungern. Das ist der Alltag der Frauen in Michoacán. Wir haben die Nase gestrichen voll.“

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