Gegen die Erosion des Machtgefüges setzt Boliviens weiße Elite auf Autonomiebestrebungen

von Thomas Guthmann

(Berlin, 07. August 2008, npl).- Anmerkung der Redaktion: Aus Anlass der Eskalation, die die rechte Opposition in Bolivien vorantreibt, dokumentiert Poonal diesen Artikel vom August 2008.

Von der Bühne, die am Platz der Banner in Cochabamba aufgebaut ist, weht der Wind seichte Popmusik herüber. Es ist ein lauer Sommerabend in der bolivianischen Stadt und das Comité Cívico hat für den Jahrestag des 11. Januar zu einer Kundgebung geladen. Menschen lauschen der Musik oder flanieren den Prado, den Prachtboulevard Cochabambas hinunter zum Plaza Colón, um in das beginnende Nachtleben der Großstadt einzutauchen.

Anlass der Gedenkveranstaltung sind die Zusammenstöße zwischen Land- und Stadtbewohner*innen in der zentralbolivianischen Metropole im Jahr zuvor. Bereits am Vormittag hatten Campesinos und Indígenas gemeinsam mit Student*innen von der Universität in die Innenstadt eine Demo abgehalten. Am 11. Januar 2007 gab es bei Auseinandersetzungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen zwei Todesopfer und mehr als 200 Verletzte. Vom Land waren im Dezember 2006 die einfachen Leute in die Stadt gekommen. Von den Kleinstädten und Dörfern des fruchtbaren Tals und der Kokaanbauregion Chapare waren sie in die Departement-Hauptstadt gekommen, um gegen die Autonomiebestrebungen der Provinzregierung zu protestieren.

Der Präfekt Manfred Reyes Villa hatte zuvor angekündigt, für das zentralbolivianische Departement die Autonomie auszurufen. Die Protestierenden, Anhänger*innen des Präsidenten Evo Morales, besetzten daraufhin die Stadt, versuchten den Regierungssitz von Reyes Villa einzunehmen und forderten seinen Rücktritt. Die Anhänger*innen des Präfekten organisierten Gegenproteste und forderten die Campesinos auf, die Stadt wieder zu verlassen. Dabei kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen Anhänger*innen des Präfekten und seinen Gegner*innen. Die Bilanz: Ein Campesino wurde erschossen und ein Jugendlicher zu Tode stranguliert.

Bei den Gedenkveranstaltungen dieses Jahr blieb es ruhig. Keines der beiden Lager, die sich momentan in Bolivien unversöhnlich gegenüber stehen, wollte eine neue Konfrontation. Die Ereignisse in Cochabamba stehen stellvertretend für die Situation, in der sich Bolivien momentan befindet. Nirgends sind die beiden Lager in Bolivien geografisch so nah und in ähnlicher Stärke präsent, wie in der drittgrößten Stadt des Landes. Die Kornkammer Boliviens, 2600 Meter über dem Meeresspiegel, wird vom Präfekten Manfred Reyes Villa regiert, ein konservativer Politiker des Landes, der schon lange politisch in Cochabamba aktiv ist. In der Hauptstadt des Departements wohnen viele Anhänger*innen des Comité Cívico (Zivilen Komitees), eine Art rechte Bürgerbewegung, die durch den Amtsantritt von Evo Morales insbesondere von den gutbetuchten Bolivianer*innen, aber auch aus der Mittelschicht Zulauf erhalten hat.

Im Osten des Departements liegt das Chapare, eine Coca-Anbauregion. Hier hat Evo Morales seine politische Karriere als Funktionär der Koka-Bauerngewerkschaft gestartet und hier befindet sich eine der wichtigsten Basen der MAS, der Bewegung zum Sozialismus, deren Vorsitzender Evo Morales ist.

Man sagt, wem Cochabamba gehört, dem gehört auch Bolivien. Regiert wird das Departement momentan von der Opposition. Im Gegensatz zu den vier Departements des östlichen Tieflandes, Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija, hat in Cochabamba allerdings bisher keine Befragung über mehr Autonomie stattgefunden. Denn anders als Santa Cruz ist in Cochabamba die Frage der Autonomie umstritten.

An die Spitze der landesweiten Opposition gegen die neue Politik der MAS aus La Paz stehen daher nicht Reyes Villa, sondern Rubén Costas, Präfekt aus Santa Cruz, und Branco Marincovic vom Zivilen Komitee Pro Santa Cruz. Hier fand die erste Abstimmung für mehr Autonomie statt. Santa Cruz folgten drei weitere Departements aus dem Tiefland. Bei allen Abstimmungen gab es nach Angaben der Opposition eine überwältigende Zustimmung für mehr Autonomie. Der Präfekt von Cochabamba, Reyes Villa, hat dagegen bisher auf die Durchführung eines Referendums zugunsten der Autonomie verzichtet, wohlwissend, dass ein Bürgerentscheid möglicherweise nicht zu realisieren ist.

So umstritten, wie das Departement Cochabamba, ist die Macht in Bolivien. Für die alten Eliten des Andenstaates ist im Dezember 2005 die Welt aus den Fugen geraten. Nie hätten die Großgrundbesitzer*innen und Minenunternehmer*innen des Landes, die die Republik seit der Unabhängigkeit 1825 regierten, es für möglich gehalten, dass ein Indio einmal ihr Präsident werden könnte.

Die Ober- und Mittelschicht des Landes nahm ‚Indios’ bis zur letzten Präsidentschaftswahl zumeist als billige Arbeitskräfte wahr, die als Tagelöhner*innen oft wie Leibeigene auf ihren Ländereien schufteten oder sich als Dienstmädchen in den städtischen Haushalten plagten. Wie in vielen Regionen Lateinamerikas ist es auch in Bolivien normal, eine Muchacha zu haben, die für einen Hungerlohn rund um die Uhr zur Verfügung steht.

Aber in kaum einem anderen Land erfuhr das Apartheidsystem der spanischen Kolonialherren eine so konsequente Fortsetzung nach der Staatsgründung, wie in Bolivien. Die Spanier waren zwar gegangen, aber die Kinder der Spanier führten nach der Gründung der Republik 1825 das alte System fort. Erst mit der Revolution von 1952 erhielt die indigene Bevölkerung das Wahlrecht und zumindest auf dem Altiplano konnte eine starke Gewerkschaftsbewegung kleine Reformen durchsetzen. Den Reformen zum Trotz blieben die indigenen Bevölkerungsgruppen des Landes jedoch weitgehend von der Macht ausgeschlossen.

Die Selbstverständlichkeit des Machtbesitzes durch eine kleine weiße Ober- und Mittelschicht ist durch den Erfolg von Evo Morales und seiner MAS grundlegend erschüttert worden. Plötzlich sieht man die Cholitas-, Ketschua- und Aymara-Frauen mit Strohhüten oder Melonenhüten und Ballonröcken – den Polleras – nicht mehr nur als Marktschreierinnen oder billige Arbeitskraft im Haushalt, sondern als Vorsitzende der Verfassunggebenden Versammlung, wie Silvia Lazarte, oder als Abgeordnete im bolivianischen Senat. Mit Evo Morales hat Bolivien nicht nur seinen ersten indigenen Präsidenten bekommen. Der Aufstieg der MAS zur stärksten Fraktion im Parlament von La Paz brachte ein anderes Bolivien in öffentliche Ämter.

Ein Zustand, der für viele weiße Bolivianer*innen schwer erträglich ist. Rassistische Entgleisungen sind bei den Gegner*innen von Evo Morales daher an der Tagesordnung. Auf Veranstaltungen der Cívicos, der außerparlamentarischen oppositionellen Gruppen, werden Evo Morales und sein Kabinett als Hurensöhne und einfältige Indios aus dem Hochland beschimpft. Im Mai zwangen Gegner*innen von Morales aus Sucre im Departement Chuquisaca eine Gruppe von Indígenas sich auszuziehen und hinzuknien. Anschließend verbrannten sie die Whipala, die Fahne der Aymara, und sangen die Hymne von Sucre. Übergriffe wie diese finden gegen Indígenas in Bolivien spontan und organisiert statt, v.a. gegen die, die MAS-Sympathisant*innen sind. Mit dem Hass auf den politischen Gegner geht ein aggressiver Rassismus einher, der geprägt ist von einer jahrhundertealten Tradition der Verachtung der Indígenas.

Der Angriff auf die Campesinos in Sucre hatte das Comité Interinstitucional der Stadt zu verantworten. Ähnlich wie das Comité Cívico aus Cochabamba eine Organisation konservativer Bolivianer*innen. In fast allen Departements Boliviens organisiert sich die Opposition in Zivilen Komitees. In der Hauptsache engagieren sie sich für mehr Autonomie für die jeweiligen Departements. So organisierte das Zivile Komitee Pro Santa Cruz im Mai das Referendum für die Autonomiestatuten.

Viele ihrer Mitglieder sollen gleichzeitig Mitglieder paramilitärischen Organisationen sein. Zwei Dutzend dieser paramilitärischen Gruppen, so die Regierung in La Paz, gibt es. Die bekannteste davon ist die Unión Juvenil Cruceñista. Die ‚Jugendbewegung’ des Zivilen Komitees Pro Santa Cruz gilt als organisierter Schlägertrupp, der immer dann in Aktion tritt, wenn es darum geht, den politischen Gegner einzuschüchtern. Die Unión Juvenil Cruceñista ist für den Schutz der Veranstaltungen des Zivilen Komitees Pro Santa Cruz zuständig und immer dann zur Stelle, wenn sich in Santa Cruz Protest gegen die Autonomie regt. Dabei arbeiten sie auch im Auftrag der Großgrundbesitzer*innen des Tiefland-Departements.

Immer wieder kommt es auch zu Übergriffen gegen landlose Bauern, zumeist Mitglieder des Volks der Guaraní, die von den Großgrundbesitzer*innen in vielen Fällen in sklavenähnlichen Zuständen gehalten werden. Wer sich dagegen wehrt oder gar Ansprüche auf zu Unrecht enteignetes Land stellt, gerät schnell ins Visier der paramilitärischen Gruppen oder der Unión Juvenil Cruceñista. Bis heute leben, so schätzen Menschenrechtsorganisationen, 5000 bis 7000 Guaraní in sklavenähnlichen Verhältnissen. Oft wird ihnen unter Androhung der Gewalt das Land weggenommen. Anschließend werden sie gezwungen, als Tagelöhner*innen zu arbeiten. Ein Zwölfstundentag ist dabei keine Seltenheit, auch Misshandlungen sind an der Tagesordnung.

Die Landreform nach der Revolution von 1952 kam im Tiefland nie an. Hier im fruchtbaren Osten ist die Landkonzentration besonders hoch. 35 Familien besitzen über fünf Millionen Hektar des fruchtbarsten Land in der riesigen Ebene im Osten Boliviens, wo der Amazonas beginnt. Alleine die Familie von Branco Marincovic, dem Anführer des Zivilen Komitees Pro Santa Cruz, soll 150.000 Hektar Land besitzen. Land, dass die Familie zumindest in Teilen schon lange hätte abgeben müssen. Denn bereits vor rund zehn Jahren wurde ein Gesetz verabschiedet, das besagt, dass ungenutztes Land an Landlose verteilt werden soll.

Da damals in La Paz die alten Eliten regierten kam es aber nie zur Umsetzung der Landverteilung. Jetzt beantwortet der Großgrundbesitzer Branco Marincovic die Bemühungen der MAS-Regierung, die Landfrage zu lösen, mit der Forderung nach Autonomie. Dabei haben die Cívicos in Santa Cruz im Gegensatz zu ihren Verbündeten in Cochabamba den Vorteil, dass die Idee der Autonomie im tropischen Tiefland einen viel größeren Anklang findet.

Santa Cruz de la Sierra hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten vom verschlafenen Provinzstädtchen in das wirtschaftliche Zentrum Boliviens entwickelt. 1,5 Millionen Menschen beherbergt die Stadt mittlerweile. Das Geld verdient man hier mit landwirtschaftlichen Exporten und dem Verkauf von Erdgas- und Erdölvorkommen aus Tarija. Entlang der Einfallstraßen ins Stadtzentrum reihen sich Geschäfte für Landmaschinen aneinander und verkaufen riesige Mähdrescher. Im Stadtzentrum zeigen die durch den lokalen Boom reich gewordenen Cambas mit protzigen Gebäuden und Nobeljeeps ihren Reichtum.

Santa Cruz ist heute die Boomregion Boliviens. 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden dort erwirtschaftet – vor allem mit Landwirtschaft und dem Verkauf von Erdöl- und Erdgaserträgen. 34 Prozent aller bolivianischen Exporte kommen von hier. Der größte Teil der Öl- und Erdgasreichtümer liegen im Südosten Boliviens. Die meisten Öl-Konzerne haben in der Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra ihren Sitz. Über diese Reichtümer will das Departement in Zukunft gerne selbst bestimmen.

Es ist aber nicht nur der Reichtum, der die Lust auf Separatismus bei den Cruzeños anstachelt. Schon immer waren sich Santa Cruz und La Paz fremd. Lange Zeit bestand Bolivien nur aus dem kargem silber- und zinnreichen Hochland mit seiner starken indigenen Einfärbung. Das Tiefland galt als menschenleerer Urwald. Erst der Krieg um den Chaco gegen Paraguay in den 1930er Jahren des vergangenen Jahrhunderts brachte das tropisch heiße Tiefland ins Bewusstsein der Hochlandbewohner.

Noch heute dauert die Fahrt von Santa Cruz nach La Paz 15 Stunden und bis heute drängt sich der Eindruck der unterschiedlichen Kulturen auf. Macht im Tiefland die indigene Bevölkerung gerade mal 15 Prozent der Bevölkerung aus, zählt sich im Hochland die überwältigende Mehrheit der Menschen zu einer indigenen Volksgruppe. Hier am Titicacasee, dem höchstgelegenen Binnensee der Erde, befinden sich die Kultstätten der Aymara und Ketschua, der beiden größten ethnischen Gruppen des Landes. Gemeinsam stellen sie über die Hälfte der bolivianischen Bevölkerung. Hier im Hochland ist das eigentliche Kernland der MAS, auch wenn sie im Chapare im Departement Cochabamba entstanden ist.

Durch den Silber- und Zinnreichtum war das Hochland früh industrialisiert und dicht besiedelt. Die Minenstädte Oruro und Potosí waren bereits Metropolen, als selbst Rio de Janeiro und Buenos Aires noch verschlafene Städtchen waren, und die bolivianischen Zinnbarone waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert berühmt für ihre Verschwendungssucht. Den Bergen den Reichtum entrissen haben die Indígenas. Sie schufteten in den Minen und aus dieser Erfahrung heraus entstanden die kämpferischen Minengewerkschaften. Als die Zinnminen aufgrund der gefallenen Weltmarktpreise sanken, wanderten viele Mineros ins Tiefland. Dort wurden sie Kokabauern, wie die Familie von Evo Morales. Ihre Organisationserfahrung aus den Gewerkschaften brachten sie mit. Deswegen organisierten sie sich auch im Chapare in Gewerkschaften. Als die Kokaleros in den 1980er Jahren den Einheiten der Armee gegenübertreten mussten, die auf Geheiß der USA einen Krieg gegen das Kokain im Chapare entfachten, entwickelten sich die Kokalerogewerkschaften schnell zu schlagkräftigen Organisationen.

Die Bauerngewerkschaften und Landlosenbewegung des Tieflands bilden gemeinsam mit den Aymara-Organisationen im Hochland die Pfeiler der Macht von Präsident Evo Morales. Die MAS, die Bewegung zum Sozialismus, war Ende der Neunziger im Chapare entstanden. Sie ist weniger eine Partei als ein Sammelbecken verschiedener indigener Basisorganisationen und Gewerkschaften, Nachbarschaftskomitees und kleinerer linker Organisationen.

Diese bilden vor allem im Hochland, aber auch in Cochabamba, eine schlagkräftige und kampferprobte Basis der Regierung. Beim Kampf gegen die Wasserprivatisierung in Cochabamba (siehe Poonal Nr. 796) und beim Kampf für die Nationalisierung der Erdgasressourcen, haben sie ihre Aktionsfähigkeit unter Beweis gestellt. Bei dem sogenannten Krieg ums Gas 2003 zeigten diese Bewegungen selbst der bolivianischen Armee ihre Grenzen auf. Als die Vorgängerregierung von Evo Morales, Gonzalo Sanchez de Lozada, bolivianisches Erdgas zu einem Spottpreis an multinationale Erdölkonzerne liefern wollte, riegelten die Bewohner*innen von El Alto die Zufahrtswege zum Regierungssitz La Paz ab. Obwohl das Militär mit schwerem Gerät ausrückte, mussten die Generäle schlussendlich vor den mobilisierten Massen kapitulieren. Goni, wie die Menge Sanchez de Lozada nannte, musste in die USA ins Exil flüchten.

Vergeblich hatte die Lokalregierung in Santa Cruz damals versucht, Sanchez de Lozada zu überreden, vom Tiefland aus weiter zu regieren. Die Erosion des alten Machtgefüges war aber nicht mehr aufzuhalten. In dieser Situation bekam die Idee für Autonomie in den Tiefland-Departements eine neue Dynamik. Für die alten Eliten Boliviens ist es der vorerst letzte Versuch, die enorme Machterosion des vergangenen Jahrzehnt aufzuhalten. In den vergangenen drei Jahren ist es der Opposition so gelungen, ein teilweises Gegengewicht zu schaffen und die Erosion ihrer politischen Macht vorübergehend aufzuhalten.

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