„Unter dem so genannten Mapuche-Problem kann sich keiner etwas vorstellen“

von Felipe Gutiérrez Ríos (Mapuexpress)

(Concepción, 2. September 2011, medio a medio/poonal).- Der Journalist Fernando Paulsen im Interview. Der Berichterstatter des Fernsehsenders Chilevisión sprach von einer ideologischen Schieflage sowie einer Art „Klassenbewusstsein“, die in der medialen Berichterstattung insgesamt vorherrsche. Und er rügte die allgemein spärliche Berücksichtigung der soziale Bewegungen in diesen Medien.

Seine Ansichten über die Darstellung des Mapuche-Konflikts in den konventionellen Medien und die soziale Bewegung im Allgemeinen teilte uns Fernando Paulsen im Anschluss an ein Treffen mit Student*innen in Valdivia mit. Wie viele Tage müssen vergehen, bis die konventionellen Medien über einen Hungerstreik berichten? Warum wird die Berichterstattung über die Proteste der Mapuche immer auf das Errichten von Barrikaden und Gewalt reduziert? Wie kommt es, dass die StudentInnenproteste anfangs als ungerechtfertigt abgetan wurden und nun doch als gerechtfertigt gelten?

Unabhängige Medien und Berichterstatter*innen kritisieren seit Jahren das im Lande herrschende Kommunikationsvakuum bzw. das über die Forderungen sozialer Bewegungen generell überhaupt nicht berichtet wird oder dieses grob vereinfacht oder verfälscht geschieht ‒ besonders dann, wenn es sich dabei um die Mapuche handelt.

Darüber sprachen wir mit Fernando Paulsen, der mit seinen 55 Jahren bereits mehr als eine journalistische Ära in seinem Land erlebt hat: Während der von Zensur, Gefangenschaft und Tod gekennzeichneten Ära der Diktatur war Paulsen Herausgeber und später stellvertretender Direktor der Zeitschrift „Análisis“; im heutigen politisch ruhigeren Chile ist er häufig in Diskussionsrunden zu erleben und moderiert bei den Sendern La Red, TVN, Canal 13 und Chilevisión verschiedene Fernsehsendungen. Ende der Neunziger Jahre war er Chef der Tageszeitung La Tercera.

Interview während Protestaktionen in Valdivia

Zum Zeitpunkt des Interviews befand sich der hochkarätige Journalist in Valdivia, um der zweiten Umfrage zur Lebensqualität beizuwohnen. Zudem wollte er an einer Zusammenkunft von Student*innen der Universidad Austral teilnehmen. Aufgrund zeitgleich stattfindender Protestaktionen konnte Paulsen den Treffpunkt nur zu Fuß erreichen. Auf seinem Weg wurde er von einer Gruppe von Reporter*innen gefilmt, welche die Ereignisse auf den Straßen dokumentierten. Die so entstandenen Videoaufzeichnungen zeigen deutlich Paulsens Erstaunen darüber, wie sehr sich der StudentInnenprotest inzwischen ausgeweitet hat. Nach einer halben Stunde Fußweg gelangten wir zum Auditorium, das bereits übervoll war mit Student*innen, die auf seine Ankunft warteten.

Während seiner Rede dort erzählte Paulsen eine Begebenheit aus dem Jahre 1997, als er Leiter der Tageszeitung „La Tercera“ war. Die Proteste gegen den Bau des Wasserkraftwerks Ralco in der Region Alto Bío Bío waren im vollen Gange, und die staatliche Organisation Nationale Vereinigung für indigene Entwicklung CONADI (Corporación Nacional de Desarrollo Indígena) hatte Paulsen eingeladen darüber zu sprechen, wie das Verhältnis von Bewegung und Presse verbessert werden könnte. Zur großen Überraschung sämtlicher Anwesender sei damals plötzlich die indigene Führungsperson Aucán Huilcamán erschienen, habe nach einer Steckdose gefragt und dann sein Notebook eingestöpselt, um während der Versammlung mit seinen Genoss*innen vernetzt zu sein.

Fernando, in dieser Geschichte wird deutlich, dass im Kontext des so genannten Mapuche-Themas Dinge geschahen, über die niemand von euch Bescheid wusste. Warum hast du diese Geschichte bei dem Treffen gerade eben erzählt?

Fernando Paulsen: Natürlich. Wenn in den Medien immer von Protestaktionen die Rede ist, die allein von Mapuche ausgehen und sich ausschließlich auf den Staudamm in Alto Bío Bío beziehen, und sechs, sieben Monate später hast du es plötzlich mit einer neuen Organisation und einer Massenbewegung zu tun, dann ist klar, dass sich schon lange vor der ersten Pressenotiz etwas zusammengebraut hat ‒ nur wurde davon nie berichtet.

Was denkst du, warum das so war?

Fernando Paulsen: Erst einmal herrscht in den Medien ein Grundsatz, den wir vielleicht als Effizienzmaximierung der zur Verfügung stehenden Mittel bezeichnen könnten. Angenommen, du möchtest eine Nachrichtensendung mit etwa 23 Nachrichten produzieren, und du hast sieben oder acht Kameras. Wie kann ich sicherstellen, dass es dort, wo ich meine Kameras platziere, tatsächlich auch etwas Neues zu berichten gibt?

Traditionell löste man dieses Problem immer damit, dass man einen großen Teil der Kameras dort aufstellt, wo für gewöhnlich die meisten Neuigkeiten verkündet werden, und das ist in jedem Land der Welt der Regierungssitz. Das heißt, du stellst in jedem größeren Ministerium eine Kamera auf, und damit hast du ganz sicher jeden Tag deine aktuellen Nachrichten. Allerdings schaffst du dir damit gleich zwei Probleme auf einmal. Erstens: Die Regierung ist in deinen Nachrichten chronisch überrepräsentiert. Zweitens: Du berichtest nur über die Dinge, von denen die Regierung möchte, dass sie publik werden.

Als die Mapuche plötzlich zum Top-Thema wurden, warst du gerade Leiter von La Tercera. Was hast du in diesem Moment gedacht?

Fernando Paulsen: Wie gesagt, wir waren völlig auf den Widerstand der Schwestern Quintreman und das Staudammprotest in Alto Bío Bío konzentriert, und sechs Monate später gab es plötzlich erfolgreichen Widerstand in drei Regionen. Für mich war klar: Das konnte nicht von heute auf morgen entstanden sein, da musste schon im Vorfeld einiges stattgefunden haben, aber darüber hatte niemand berichtet, jedenfalls nicht in der nationalen Presse.

Ich meine, dabei geht es nicht allein um die Frage Top-Thema ja oder nein. Wenn man das Thema in der Presse anders angegangen wäre, wenn man zum Beispiel „Konflikt um Waldnutzung“ geschrieben hätte statt immer nur „Mapuche-Konflikt“, hätte man schon gleich ganz andere Voraussetzungen für eine bessere Berichterstattung geschaffen.

Fernando Paulsen: Für mich liegen die Antworten auf der Hand. Einerseits versteht niemand die Realität der Mapuche bzw. niemand kann sich unter dem so genannten Mapuche-Problem etwas vorstellen. Und zweitens, findet das alles weit genug von Santiago entfernt statt. Damit ist es dann auch nicht mehr so wichtig, ob du richtig liegst oder falsch ‒ dieses Phänomen gibt es häufig in den Medien. Je weiter weg der Konflikt verortet ist, je weniger er unsere Hauptstadt betrifft, desto größer ist der Spielraum bei der Berichterstattung oder, um es anders zu sagen, desto weniger entscheidend ist die Frage, ob exakt und wahrheitsgetreu berichtet wird. Und wenn der Berichterstatter keine Ahnung hat, dann berichtet er so über die Situation, als ob es sich um Nachrichten aus dem Ausland handle, und die Öffentlichkeit denkt dann, es ginge um ein regionales Problem.

Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass es da keinen ideologischen Hintergrund gibt.

Fernando Paulsen: Ich glaube, es geht nicht so sehr um Ideologie im politischen Sinne, sondern um eine Ideologie der sozialen Unterschiede, um den Klassenunterschied und wie gesagt um den Abstand, und letzteres ist wie gesagt, kein unbedeutender Faktor. Während der Diktatur war ich in den USA und habe über die Frauenbewegung berichtet. Darauf kam die Antwort, dies sei kein Thema in Chile, dort ginge es nur um die Diktatur. Jetzt passiert genau dasselbe: Man muss die Leute davon überzeugen, dass die Mapuche jetzt Thema sind.

Auf jeden Fall gibt es weiterhin eine gewisse Schieflage. Warum wurde im Fernsehen nicht von der präparierten kugelsicheren Weste des Polizisten berichtet, der Mendoza Collío erschossen hat?

Fernando Paulsen: Das Fernsehen hat doch darüber berichtet.

Und meinst du, das hat die gleichen Auswirkungen wie zum Beispiel das Video mit dem Polizisten, der ein Skateboard auf den Kopf gehauen kriegt?

Fernando Paulsen: Du versuchst, Schlüsse zu ziehen aus dem Vergleich von Dingen, die ich nicht für vergleichbar halte, weil es unterschiedliche Phänomene sind. Damit kommen wir meiner Ansicht nach nicht weiter. Nehmen wir den Hungerstreik als Beispiel. Ungefähr 50 Tage lang fällt kein Wort über den Hungerstreik, und auf einmal eine ganze Flut von Nachrichten, nämlich die der letzten 50 Tage verteilt auf acht. Das liegt daran, dass Journalist*innen mit Themen oder Ereignissen immer umgehen, als wären es Zitronen, die man bis auf den letzten Tropfen auspressen muss.

Ein Freund von mir sagt immer, Chile sei das einzige Land auf der Welt, in dem es nicht möglich sei, in den Nachrichten über zwei wichtige Meldungen gleichzeitig zu berichten. Immer wird eine von der anderen erdrückt. Das heißt, wenn es etwas über die Handelskette La Polar zu berichten gibt, dreht sich alles um La Polar. Dann gehen die StudentInnenproteste los, und es wird so getan, als wäre mit La Polar nie etwas gewesen.

Bei den Demonstrationen geben sich Reporter immer eher indifferent und sagen so etwas wie: „Sprechen Sie mit meinem Herausgeber.“ Vor kurzem ist ein Video veröffentlicht worden, da sagt ein Student zu einem Journalisten: „Es gibt keine schlimmere Lüge als die halbe Wahrheit.“ Das ist ungefähr das, worum es geht. Man kann nicht direkt behaupten, dass sie lügen, aber es ist immer so eine Art halbe Wahrheit.

Fernando Paulsen: Damit das klar ist: Ich will die Presse nicht verteidigen, im Gegenteil, ich rege mich jeden Tag über die Medien auf. Deshalb habe ich im Januar die Presseabteilung von Chilevision verlassen, weil ich nicht bereit bin, mich in meiner Berichterstattung an einem Tag wie gestern auf Nebenschauplätze wie die Anzahl der geknackten Geldautomaten zu konzentrieren. Aber was man schon verstehen sollte, ist die Tatsache, dass unsere Medien viel weniger ideologisch beeinflusst sind, als man denkt. Wenn über irgendwas wenig berichtet wird, denkt wird immer gleich an ideologische Hintergründe gedacht.

Der Fluss Cruces in Valdivia ist ein typischer Fall. Der Journalist erhält einen Bericht der Universidad Austral. Dieser besagt, der Fluss sei verschmutzt. Der Journalist erhält auch den vom Unternehmen in Auftrag gegebenen Bericht der Universidad Católica de Valparaíso. Letzterer Bericht behauptet das Gegenteil. Der Journalist, der selbst keine Möglichkeiten hat herauszufinden, wie es um den Fluss steht, ist ratlos. Was also tut er? Er stellt der Öffentlichkeit beide Seiten dar und überlässt es ihr, darüber zu entscheiden. Und damit stiehlt er sich ganz eindeutig aus seiner Verpflichtung. Das erscheint mir besonders besorgniserregend.

Denn in einem Fall wie dem Mapuche-Konflikt könnte man so zu dem irrigen Schluss kommen, dass es sich um zwei gleichrangige Positionen handelt, hier die Stammesführer, da die Polizei, jeder mit seiner Position, aber da gibt es keine Gleichheit. Der Gemeindeführer lebt dort, er hat das Problem vor seiner Haustür, der Polizist wurde eingesetzt, um der öffentlichen Sicherheit wegen Repression auszuüben und die öffentliche Sicherheit zu kontrollieren. Also stehen sie sich nicht auf Augenhöhe gegenüber. Und in den Medien werden die Positionen einfach so gleichgesetzt, die Öffentlichkeit erhält den Eindruck: Aha, hier bestehen zwei Positionen. In Wirklichkeit hat es jedoch nie zwei Positionen gegeben. Journalisten beziehen keine Stellung. Sie sind nicht diejenigen, die uns erklären, warum die Mapuche mit einem Vorschlag unzufrieden sind, denn das würde ja bedeuten, man hätte sie dazu autorisiert, die Situation zu analysieren oder zu interpretieren. Zudem würde das auch voraussetzen, dass die Journalisten verstehen, worum es geht.

Als du bei der Zeitschrift Análisis warst, war die Presselandschaft noch vielfältiger…

Fernando Paulsen: Also, damals waren wir ideologisch extrem unausgewogen. Alles, was sich nicht gegen die Diktatur richtete, hat uns nicht interessiert.

Na gut. Aber: damals gab es ein breiteres Spektrum, heute gibt es nur noch rechte Medien.

Fernando Paulsen: Du gehst von den Eigentümern aus. Aber wenn du schaust, wer für diese Medien arbeitet, dann kommst du mit deiner Beurteilung nicht hin.

Und die Verleger?

Fernando Paulsen: Das sind auch nicht alles Rechte.

Na, ich weiß nicht.

Fernando Paulsen: Nein, was dich aufbringt, und das ist auch wirklich brutal, ist, dass Verleger und Journalisten mit ihrer Art, die Realität darzustellen, einen quasi dazu zwingen, die Fakten zu stereotypisieren, sie zu kategorisieren und zu vereinfachen. Wenn du dann die Rating-Punkte im Kopf hast und gleichzeitig daran denken musst, dass die Berichterstattung für jedermann verständlich sein sollte, dann neigst du dazu, ein Bild zu nehmen ‒ das mit dem Skateboard zum Beispiel ‒ statt dich mit langen, komplexen Analysen aufzuhalten.

Ich habe den Eindruck: Immer wenn die Journalisten ein Thema vorschlagen, über das sonst niemand berichtet, dann argumentiert der Herausgeber damit, dass es sich nicht gut verkauft, selbst, wenn ihn das Thema interessieren würde. Denn er denkt, es sei besser, sich nicht einzumischen. Und so verschwinden die unangenehmeren Themen von der Bildfläche.

Fernando Paulsen: Was die Zeitung angeht, gebe ich dir recht. Beim Fernsehen läuft das ganz anders. Da suchen sie nach Themen, die aufrütteln, also ein ganz schlichter Ansatz. Beim Fernsehen haben wir also genau das umgekehrte Problem. Da wird es nämlich dann schwierig, wenn man detaillierter über ein Thema berichten will. Angenommen, du willst über die Studentenproteste vor dem Senat berichten, und dann musst du Camila Vallejos Rede auf einen einzigen Satz zusammenkürzen.

Was hältst du von der Berichterstattung der Presse über die StudentInnenbewegung?

Fernando Paulsen: Ich habe den Eindruck, dass die Regierung seit Lavín versucht hat, alles so darzustellen, als werde die gesamte Bewegung von der Kommunistischen Partei aus dirigiert. Da haben wir diese beiden Personen, Camila Vallejo und Jaime Gajardo. Wer von den beiden ist schwächer? Offensichtlich Gajardo, also stürzen sie sich auf ihn, das Ansehen der Lehrergewerkschaft steht hinter dem der Studentenbewegung weit zurück, denn Camila Vallejo ist jung und schön, und er hat den Fehler begangen, Innenminister Hinzpeter vorzuhalten, er habe nichts aus dem Holocaust der Nazis gelernt. Aber dieser Plan hat nicht funktioniert. Es ist nicht gelungen, die Studentenbewegung durch Angriffe auf Gajardo als Stellvertreter der Kommunistischen Partei zu schwächen. Und ansonsten fährt man eben die klassische Schiene: die Berichterstattung wird immer auf das Thema Gewalt reduziert.

Wie du schon sagst, El Mercurio machte seinerzeit ordentlich Stimmung gegen Gajardo, und ich würde sagen, dass die Bewegung jetzt mediale Unterstützung von El Mercurio erhält.

Fernando Paulsen: Ich denke, es geht gibt da einen bestimmten ideologischen Hintergrund, und wenn nicht ideologisch, dann geht es um einen Klassenunterschied. Aber meistens stimmen die Positionen der Verfasser von Nachrichten nicht mit denen der Besitzer des Mediums überein.

Das heißt, ich würde nicht grundsätzlich abstreiten, dass es enge Verbindungen zwischen der Regierung und den Besitzern der Zeitungen gibt, das hat aber weniger ideologische Hintergründe. Vielmehr geht es hier um gemeinsame Interessen. Agustín Edwards, Inhaber der Zeitung El Mercurio, ist ebenso daran interessiert, dass die Ruhe wieder hergestellt wird, wie der Unternehmer Alvaro Seieh, denn wenn das System, in dem sie selbst so erfolgreich funktionieren, ernsthaft ins Wanken gerät, verlieren beide.

Deshalb, nochmals das Beispiel La Polar: Die Ankündigung Longueiras, den Handelssektor überprüfen zu wollen, war ein deutlicher Warnstoß. Ihre Reaktion darauf lautet: „Was hat der Handel damit zu tun, wenn es bei La Polar Unregelmäßigkeiten gibt”, aber sie erschrecken sich, weil es auch sie betrifft. Zwar fürchtet jetzt niemand die Rückkehr des Kommunismus, aber man möchte nicht, dass da jemand schlafende Hunde weckt. Sie selbst denken nämlich: „Warum irgendetwas ändern, mit Lagos ging es uns doch gut.“

 

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