Etappensieg für Demonstrant*innen – Billiger Busfahren in Brasilien

von Andreas Behn, Rio de Janeiro

(Berlin, 20. Juni 2013, taz).- Auf den ersten Blick haben die Demonstrant*innen einen großartigen Sieg errungen. In São Paulo und Rio de Janeiro werden die Fahrpreiserhöhungen für Busse und Bahnen zurückgenommen. Dies war die wichtigste und zugleich einzig konkrete Forderung der Protestbewegung, die Brasilien seit Wochen in Atem hält. 


 

Entgegenkommen ist Mogelpackung

Unwillig traten die Bürgermeister der beiden größten Städte Brasiliens am Mittwochnachmittag vor die Presse und verkündeten ihr Einlenken. Die Lage im Land war unhaltbar geworden. Sieben Prozent Tariferhöhung für marode und überfüllte Busse und Bahnen hatten ein Fass zum Überlaufen gebracht. Unzählige Demonstrationen, brutale Polizeieinsätze und schließlich eine Viertelmillion Menschen auf den Straßen veränderten das Kräfteverhältnis in einem Land, in dem die Menschen meist lieber am Kneipentisch murren und die Politik den ungeliebten Politiker*innen überlassen. 


Trotz des Etappensieges gingen die Demonstrationen auch am Mittwochabend weiter. Allein in der Metropole São Paulo gab es vier Protestzüge, im Großraum von Rio de Janeiro gingen Tausende auf die Straße. Lange Zeit blieb es friedlich, später kam es zu den üblichen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Einige feierten das erreichte Ziel, andere hielten sich an die Parole, dass es nicht nur um Buspreise, sondern um Rechte geht. Sie fordern mehr Ausgaben für Bildung und Gesundheit und prangern die Milliardenkosten für WM und Olympische Spiele sowie die korrupte, intransparente Regierungsform an. 


Bei genauem Hinsehen entpuppt sich das Entgegenkommen der Stadtregierungen als Mogelpackung. Rios Bürgermeister Eduardo Paes sagte unumwunden, dass die Einnahmeausfälle der privaten Busunternehmen in Höhe von mindestens 100 Millionen Euro jährlich „an anderer Stelle im Haushalt eingespart“ werden müssten. Ohne zu sagen, wo er sparen wolle, verglich der rechte Politiker die Höhe des Verlusts mit der jährlichen Finanzierung von Familienkliniken durch den Stadthaushalt. 


Teuer und schlecht

Es wird also nur neu gerechnet, ohne zu hinterfragen, warum die wunderbare Stadt am Zuckerhut ebenso teure wie schlechte Verkehrsmittel hat. Offiziellen Zahlen zufolge geben die Menschen mit einem Familieneinkommen von bis zu 1.000 Euro in Rio fast zehn Prozent ihres Geldes für Transportmittel aus, doppelt so viel wie im Landesdurchschnitt. Zudem lag die gesamte Tariferhöhung in den vergangenen zehn Jahren ein Drittel über der Inflationsrate.

Unter den Aktivist*innen macht sich jetzt die Sorge breit, wie es weitergehen soll. Für Donnerstag ist ein nationaler Aktionstag angesetzt, er wird auf alle Fälle beibehalten, so die Beschlusslage mehrerer Plena in Rio de Janeiro. Doch für eine euphorische Stimmung reicht es nicht. Viele meinen, das Problem sei nicht nur, nun neue konkrete und erfüllbare Forderungen zu stellen. Die Bewegung selbst droht an Kontur zu verlieren. 


Indiz dafür sei der radikale Diskurswechsel, den Regierungspolitiker*innen und vor allem die Medien nach dem eindrucksvollen Protestmontag vollzogen hat. Statt von Randalierer*innen und Chaot*innen zu sprechen, sind die Demonstrant*innen über Nacht zu Bürger*innen geworden, die – so Präsidentin Dilma Rousseff – „unsere Demokratie gestärkt“ haben. Die rechte Presse kritisiert nur noch die Gewalt und macht sich ansonsten schon zum Fürsprecher der Bewegung.

Radikale Forderungen ausgeblendet

Ganz unauffällig gibt sie dabei mittlerweile auch die Themen vor: Immer wieder werden Bilder mit der Nationalflagge gezeigt, auf Schildern wird nur noch ganz allgemein „Korruption“ kritisiert, in Zitaten beschweren sich die Demonstrant*innen vor allem über die Inflation, die hohen Steuern oder die Misswirtschaft. Radikale Forderungen, die die herrschenden Zustände und die sozialen Ungerechtigkeiten hinterfragen, werden ausgeblendet. 


Andere sehen es optimistischer, die Bewegung sei nun mal sehr breit und vielfältig. Und den Medien gelinge es nicht immer, zu manipulieren, schon gar nicht, wenn die Situation außer Kontrolle geraten ist. Viele setzten auch darauf, dass erfolgreiches Demonstrieren ansteckend ist. Irgendwann müsse ja die Politisierung der Leute beginnen.

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