Ergeht es uns wie Amazonien?

von Jubenal Quispe

(La Paz, 10. Februar 2010, bolpress).- Mit der Meldung: „Alarm im brasilianischen Amazonasgebiet: In Brasilien, wo sich 23 Prozent der Süßwasserreserven der Welt befinden, hat das Flusssystem in den letzten sechs Monaten mehr Veränderungen durchlaufen als in den vergangenen 100 Jahren“, versuchte die spanische Tageszeitung El País am 29. Dezember 2009, die Welt wachzurütteln. Einige Wochen später berichtete die Nachrichtenagentur EFE, dass in Brasilien allein zwischen Oktober und November letzten Jahres 247,6 Quadratkilometer Amazonaswald gerodet worden seien. Fast zeitgleich meldete das bolivianische Nationale Institut für agrar- und forstwirtschaftliche Innovation INIAF (Instituto Nacional de Innovación Agropecuaria y Forestal de Bolivia), dass jedes Jahr zwischen 270.000 und 300.000 Quadratkilometer des bolivianischen Amazonaswaldes verloren gingen. Im selben Bericht hieß es, dass durch Feuer, Motorsägen und Traktoren bereits mehr als fünf Prozent der bolivianischen Wälder zerstört worden seien.

Die Peruanische Gesellschaft für Umweltrecht hat zusammen mit anderen NGOs im Januar 2010 den Bericht „Das peruanische Amazonien im Jahr 2021“ von Marc Dourojeanni und weiteren Autoren publiziert, in dem die Folgen der Ausbeutung des Amazonasgebiets beschrieben werden. Laut des Berichts stieg der Anteil des peruanischen Amazonaswalds der von Ausbeutung durch Ölgesellschaften betroffen ist, zwischen 2003 und 2009 von 15 auf 70 Prozent. Weiterhin zeigen die Autoren mit stichhaltigem Datenmaterial, dass die 52 Projekte für Wasserkraftwerke, 53 Ölförderungsgebiete, 24.818 Minenkonzessionen, 4.486 Kilometer an Straßenbauprojekten sowie 483.581 Hektar Land, auf denen Plantagen für die Produktion von Biokraftstoffen vorgesehen sind, das peruanische Amazonasgebiet in ein neues Oroya verwandeln würden. Oroya ist die traditionelle Bergbauregion Perus, die sich in ein Monster der Umweltverschmutzung verwandelt hat, in dem Kinder aus Blei geboren werden um dann, Zyanid atmend und trinkend, früh wieder zu sterben.

Das schlimmste an dieser selbstmörderischen Zerstörung Amazoniens ist die Tatsache, dass sich dieser Raubbau in vollständiger Unkenntnis der peruanischen Bevölkerung abspielte und abspielt. Wirklich. Auch wenn Sie es nicht glauben mögen. Der peruanische Staat hat seine Bürger*innen mit dem Slogan „Konsumieren Sie für den Fortschritt Perus!“ einer derartig heftigen Indoktrination unterworfen, dass sie sich in willfährige und unkritische Konsument*innen verwandelt haben. Fast niemand weiß, dass im Jahr 2041 das peruanische Amazonasgebiet nur noch mit 10 Prozent seiner Lunge atmen wird. Nicht einmal die Naturschutzgebiete werden verschont! Und wissen Sie, wer an diesem Selbstmord verdient? Brasilianische Firmen und Banken sowie andere die Umwelt zerstörende multinationale Unternehmen. 85 Prozent der Gewässer, die Peru für Wasserkraft nutzen könnte, befinden sich im Amazonasgebiet! Die Gewinner sind die Beraterkonsortien, die Baufirmen. Doch früher oder später werden wir alle verlieren. Zuerst aber die Indígenas die, heute wie in früheren Tagen, versuchen den Wald zu schützen und vom durch eine alles verschlingende Gier angetriebenen Staat geschunden werden, als wären sie die nichtswürdigste Spezies der Waldfauna.

Was aber sind die Argumente, mit denen man dieses kontinuierliche Zurückschneiden der Lunge des verwundeten Planeten rechtfertigt? Wie lässt sich in diesen Zeiten des Wandels erklären, dass die Wälder Ecuadors, Brasiliens, Boliviens und Argentiniens auf unverantwortliche Weise und wie zu Zeiten des Neoliberalismus ohne Pläne für eine nachhaltige Bewirtschaftung weiter zerlegt werden?

Tatsächlich haben in den „fortschrittlichen“ Ländern nur die politischen Akteure gewechselt. Die Entwicklungspolitik folgt weiterhin dem Paradigma des Neo-Extraktivismus, der letztlich eine Neuauflage der Entwicklungstheorie der 1960er Jahre darstellt. Es ist den Politiker*innen wichtiger, wirtschaftliche Überschüsse zu generieren, die dann in Form von Geldzuschüssen (Boni) verteilt werden können, als unser einziges Haus mit Sorgfalt zu bewirtschaften. Durch unsere verfluchte Kurzsichtigkeit essen wir unsere Zukunft und denken weder an die unvorhersehbaren Konsequenzen unserer Handlungen noch an den Schmerz zukünftiger Generationen.

In punkto neo-extraktivistischer Politik gibt es keinen Unterschied zwischen den heutigen indigenen, den sozialistischen oder den neoliberalen Regierungen Lateinamerikas. Als Beispiel zitiere ich einige Aussagen von Regierungspräsidenten, in denen sie die Verteidiger*innen des Amazonas herabsetzen:

Rafael Correa (Ecuador): „Umweltschützer sind Erpresser. Es ist nicht die Bevölkerung, die protestiert, sondern eine versprengte Truppe von Terroristen. Die Umweltromantiker und infantilen sozialistischen Träumer wollen die Regierung destabilisieren“ (02.12.2007). „… wir werden keine Aufstände dulden, die Wege blockieren und privates Eigentum gefährden (…). Es ist absurd, auf mehreren Millionen Dollar zu sitzen und wegen romantischer Vorstellungen und Träumereien nein zum Bergbau zu sagen“ (11.10.2008).

Evo Morales (Bolivien): „Kameradinnen und Kameraden, bei allem Respekt, wir können nicht nach dem Prinzip handeln: Ich gönne mir selbst nichts, aber die anderen sollen auch nichts bekommen. Weder selbst essen, noch andere essen lassen. Für uns alle muss gelten: „Zuerst die Heimat“ (30.10.2008). „… wovon also wird Bolivien leben? Wenn einige NGOs sagen „Kein Öl in Amazonien“? (…) Dann sind sie der Ansicht, das bolivianische habe Volk kein Geld, könne keine Entwicklung auf dem Human Development Index vorweisen (…) aber sie werden auch sagen, dass es keine Juancito Pinto-Prämie [für den Schulbesuch, Anm. d. Ü.] geben solle, keine Altersrente, und auch keine Juana Azurduy-Prämie [Mutterschaftsgeld, Anm. d. Ü.] (…)“ (10.07.2009).

Alan García (Peru): „… nicht einmal ein Zehntel dieser Ressourcen wird ausgebeutet, weil wir hier immer noch darüber diskutieren, ob der Bergbau die Umwelt zerstört, was ein Thema des vergangenen Jahrhunderts ist (…). Um gegen die Erdölförderung anzugehen, haben sie die Figur des „unkontaktierten Ureinwohners des Regenwalds“ geschaffen, dessen Existenz zwar nicht bewiesen aber wahrscheinlich sei und dessentwegen Millionen Hektar von Land nicht erkundet werden dürften und dessentwegen das peruanische Öl unter der Erde bleiben soll, während der Weltmarktpreis für ein Barrel Erdöl 90 US-Dollar beträgt (…). Der alte kommunistische Antikapitalist des 19. Jahrhunderts hat sich im 20. Jahrhundert als Protektionist verkleidet. Im 21. Jahrhundert nennt er sich nun Umweltschützer. Und all das aufgrund von Tabus längst überwundener Ideologien, aufgrund von Faulheit, Gleichgültigkeit oder getreu dem Motto: „Wenn ich nichts tue, soll auch niemand anderes etwas tun“ (28.10.2007).

Wie Sie sehen, wird Amazonien ohne Unterschied sowohl durch neoliberale als auch durch progressive Regierungen vernichtet. Die einen wie die anderen erklären die Verteidiger*innen des Amazonasgebiets zu Feinden des Fortschritts. Wenn in Peru die Indígenas nach Lust und Laune ermordet werden, so ist das Recht auf Vorherige Befragung, dass die Indígenas in Bolivien immerhin in der neuen Verfassung haben verankern können, für die Entwicklungspolitik der Regierung ein Klotz am Bein. So erklärt sich denn auch deren Ankündigung „besagtes Recht zu reglementieren, um zu zeigen, dass die indigene Bevölkerung kein Vetorecht besitzt“. Aber, liegt es denn nicht in unserer Verantwortung, von unseren Regierungen des „Wandels“ Pläne für eine ganzheitliche und nachhaltige Bewirtschaftung zu fordern?

Je mehr wir uns beim Klimawandel der kritischen Schwelle nähern, je unausweichlicher wird es, über unsere Kurzsichtigkeit hinauszudenken. Niemand ist dagegen, mit Hilfe der natürlichen Ressourcen größere Überschüsse zu erwirtschaften, geschweige denn diese in der Bevölkerung zu verteilen. Allerdings zeigen uns Oroya und Potosí, dass die Folgen des rücksichtslosen Ressourcenabbaus die ohnehin kurzen Leben einer verarmten Bevölkerung weiter verkürzen und nicht den Prozess der Verarmung stoppen oder umkehren.

Die Prospektion und Ausbeutung (was für ein hässlicher Begriff) von Amazonien verläuft völlig ungesteuert, ohne jeglichen Plan für eine ganzheitliche und nachhaltige Bewirtschaftung. Der einzige Plan ist, dass es keinen Plan für ein langfristiges Engagement im Amazonasgebiet gibt. Geschweige denn umfangreiche Informationen, Rücksprache mit den Bürger*innen oder Transparenz in der Zusammenarbeit mit den unmittelbar Betroffenen.

Hören Sie, wir reden hier nicht von der Mondoberfläche. Man ist dabei, nicht nur die Biodiversität, einschließlich der betroffenen Kulturen auszulöschen, sondern die letzten Lungenbläschen des von Raubtieren befallenen Planeten! Ohne das Amazonasgebiet wird es nicht nur keine exotischen Orte mehr zu besichtigen geben. Die Erschöpfung der Süßwasserquellen wird beschleunigt! Einer der letzten Klimakorrektoren des immer heißer werdenden Planeten wird zerstört! Uns wird unsere letzte Sauerstoffquelle genommen! Und wir schauen unbekümmert zu, ohne zu verstehen. Vielleicht, weil unser Schicksal das des Amazonasgebiets sein wird.

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