Erfolgreich gegen die Straflosigkeit

von Kristin Gebhardt und Wolf-Dieter Vogel

(Berlin, 03. November 2010, npl).- Es war ein außergewöhnlicher Tag im Menschenrechtsausschuss des Europäischen Parlaments. Wo sonst über Vergewaltigungen im Kongo oder die Verfolgung Oppositioneller im Kaukasus berichtet wird, stand am 30. September eine Erfolgsgeschichte auf dem Programm. Vor dem Gremium sprachen zwei Juristen, die sich mit der Aufarbeitung der argentinischen Militärdiktatur beschäftigen: der Bundesrichter Daniel Rafecas und der Anwalt Rodolfo Yanzón.

 

„Schlusspunktgesetz“ gekippt

In Argentinien ist gelungen, worauf Überlebende repressiver Regimes in anderen Staaten wohl noch lange warten müssen: Die Täter*innen werden vor Gericht zur Verantwortung gezogen. Rund 30.000 Menschen verschwanden während der argentinischen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983. Oppositionelle wurden systematisch verschleppt, in geheimen Zentren zu Tode gefoltert, verscharrt oder aus Flugzeugen ins Meer geworfen.

Fast zwei Jahrzehnte lang sorgten das „Schlusspunktgesetz“ und das „Gesetz gegen den Befehlsnotstand“ dafür, dass die Täter*innen vor Strafverfolgung sicher waren. Nach einer Initiative der argentinischen Regierung erklärte der Oberste Gerichtshof im Jahr 2005 die Amnestiegesetze für nichtig. Seither laufen die Verfahren. Auch Bundesrichter Rafecas untersucht Straftaten wie illegale Verhaftungen, Anwendung von Folter, illegale Aneignung von Minderjährigen und Mord. Angeklagt sind in erster Linie Mitglieder der Sicherheitskräfte und des Militärs. Vor Gericht stehen aber auch einige Zivilist*innen, die direkt oder indirekt an der Repression beteiligt waren.

Über 1.000 Angeklagte

Über tausend Angeklagte müssen sich inzwischen vor Gericht verantworten. Dafür haben Angehörige der Opfer und Menschenrechtsorganisationen unermüdlich gekämpft. Noch während der Militärdiktatur, im Jahr 1977, protestierten die Mütter von der Plaza de Mayo erstmals im Zentrum von Buenos Aires. Doch Erfolge gab es zunächst nur im Ausland. So erließ die Nürnberger Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen die Junta-Chefs Jorge Videla und Emilio Masera, und auch italienische, spanische und französische Gerichte befassten sich mit der argentinischen Geschichte.

Anwalt Rodolfo Yanzón betonte in Brüssel: “Die Verfahren in Europa sowie die internationalen Klagen vor den Vereinten Nationen und Instanzen der Organisation Amerikanischer Staaten spielten eine wichtige Rolle. Und natürlich die Organisationsprozesse in Argentinien selbst.” Er verwies aber auch auf alte Mächte, die bis heute versuchen, die Ermittlungen zu sabotieren. Vor vier Jahren verschwand Julio López, einer der Hauptbelastungszeugen im Verfahren gegen Miguel Etchecolatz. Bis heute fehlt von ihm jede Spur. Der Prozess gegen den ehemaligen Polizisten Etchecolatz war der erste Prozess, der nach der Annullierung der Amnestiegesetze wieder eröffnet wurde. Auch viele ranghohe Militärs, Juristen und andere Beamte, die in die Militärdiktatur verstrickt waren, versuchen heute, die Verfahren zu behindern.

Paradoxe Untätigkeit in anderen Staaten

Auch Chile, Paraguay, Uruguay, Bolivien, und Brasilien haben brutale Regimes hinter sich. Mit Unterstützung der US-Regierung gingen in den Siebziger und Achtziger Jahren Soldaten und andere Sicherheitskräfte im Rahmen der „Operation Condor“ gemeinsam gegen Oppositionelle vor. “Doch in Brasilien, Chile, Uruguay und anderen Ländern gab es nie diese politische Entscheidung, wie wir sie jetzt in Argentinien haben. Das ist paradox“, kritisiert Rafecas. Schließlich hätten einige dieser Staaten jetzt linke oder sozialistisch orientierte Regierungen. „Trotzdem agieren sie gegenüber den militärischen Verbänden und den Sicherheitskräften zögerlich. Das legt die institutionelle Schwäche dieser Demokratien offen.” Brasiliens Oberster Gerichtshof lehnte im April dieses Jahres eine Revision des Amnestiegesetzes ab. Und auch in Uruguay läuft die Aufarbeitung nur schleppend an. Ein Referendum zur Annullierung des dortigen Amnestiegesetzes verfehlte letztes Jahr die notwendige Mehrheit.

Ohne Aufarbeitung keine Demokratie

Ohne Aufarbeitung der Vergangenheit könne eine Gesellschaft nicht vorankommen, meint Richter Rafecas. Die Prozesse sind für ihn ein grundlegender Schritt zur Konsolidierung der Demokratie. Von einer Versöhnung zwischen Opfern und Tätern hält er nicht viel. “In Argentinien wurde sehr viel Energie in Initiativen zur Versöhnung gesteckt. Staat, Politiker und Medien haben dem sehr viel Gewicht gegeben. Trotzdem ist die Strategie fehlgeschlagen“, stellt der Jurist fest. Sein Resümee: „Wir haben nur Zeit verloren. 15 Jahre nach diesen immensen Anstrengungen sind wir keinen Schritt weiter.” Ohnehin stellt der Richter in Frage, ob eine Versöhnung überhaupt möglich ist: “Wie will man versöhnen, wenn eine der beiden beteiligten Seiten einfach nicht mehr da ist. Die Menschen wurden ermordet oder verschwunden gelassen, in den meisten Fällen konnte man ja nicht einmal ihre Reste finden. Sie werden indirekt durch Angehörige und Menschenrechtsorganisationen vertreten, die unter keinen Umständen eine Versöhnung in Betracht ziehen.”

Gerichtsverhandlungen im Fernsehen

Nachdem die argentinische Regierung die Amnestiegesetze aufgehoben hat, war das öffentliche Interesse an einer juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit zunächst gering. Viele Bürger*innen sahen keinen Sinn darin, Verbrechen zu untersuchen, die vor 30 Jahren begangen worden waren. Das änderte sich im Verlauf der Verfahren. Als die Zeug*innen vor Gericht berichteten, was sie erlebt hatten, solidarisierten sich viele mit den Opfern und begleiteten die Verfahren. Die Täter*innen wurden geächtet, Forderungen nach hohen Strafen wurden laut. Heute werden Verhandlungen im Fernsehen übertragen und Gerichtsurteile auf den Straßen mit Hupkonzerten gefeiert. Richter Rafecas: “Das ist wie ein positiver Teufelskreis. Die Prozesse laufen und damit wächst das öffentliche Interesse an der Wahrheit. Daraus entsteht Empörung, Forderungen nach Gerechtigkeit werden lauter. Das wiederum treibt die Verfahren voran.”

Für die Angehörigen und die Überlebenden sind die Urteile mehr als eine späte Genugtuung. Gesellschaftliche Anerkennung hilft, das Erlittene zu überwinden. Für Opfer von staatlicher Willkür und Gewalt beginnt die Heilung solcher Traumata oft erst, wenn die Aufarbeitung auch im sozialen und kulturellen Raum stattfindet. Nach 30 Jahren sprechen viele Menschen vor Gericht erstmals über die Grausamkeiten, die ihnen angetan wurden. Scham, Hass und Ohnmacht bestimmten bislang ihr Leben, häufig war die Kommunikation in den Familien gestört.

Zeugenaussage befreiend für Opfer

Gerade deshalb wirken die Verfahren weit über die Rechtsprechung hinaus, erklärt Anwalt Yanzón, der auch Präsident der Menschenrechtsorganisation “Stiftung Argentinische Liga für Menschenrechte” ist. „In dem Moment, in dem die Opfer ihre Zeugenaussage machen, beginnen sie sich zu befreien. Das ist immens wichtig und geht über den Schmerz hinaus, den es auslöst, wenn sich Menschen mittels Worten wieder in die geheimen Lager begeben, wenn sie sich erneut an die Personen erinnern, die gefoltert wurden und verschwunden sind und wenn sie sich wieder die Gesichter und Gräueltaten der Täter vor Augen führen.“

Darüber hinaus betont der Verteidiger die große Bedeutung, die diese Prozesse im Kampf gegen die Straflosigkeit in anderen Regionen der Welt haben. Vor dem Menschenrechtsausschuss des Brüsseler Parlaments stellte er klar: “Das Europäische Parlament und die europäische Gemeinschaft müssen dieses Beispiel unterstützen. Denn wenn wir scheitern, wird alles scheitern. Man wird dann auch in Kolumbien nichts machen können, nicht in Chile, nicht in Birma, nicht in Afrika.”

(Foto oben: Mütter der Plaza de Mayo, Foto: subcomandanda/flickr)

(Foto unten: Daniel Rafecas, Foto: Wolf-Dieter Vogel)

 

Vergleiche hierzu auch den Audiobeitrag der Autor*innen im Rahmen der Kampagne http://www.npla.de/de/onda/serien/menschenrechte/content/1112 kostenlos angehört oder heruntergeladen werden kann.

 

 

Weitere Informationen:

Videomitschnitt: Wolf-Dieter Vogel im Europäischen Parlament im Gespräch mit Bundesrichter Dr. Daniel Rafecas und Anwalt Rodolfo Yanzón

Dokumentation des ECCHR

Tauziehen um Genprobe (Von Valeria Durán, in: Lateinamerikachrichten Juli/August 2010)

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