Erdeben: Böses Erwachen

von Gotson Pierre

(Quito, 25. Januar 2010, alai).- Es dauert noch, bis das Leben in Port-au-Prince und anderen Regionen Haitis wieder seinen normalen Gang gehen wird. Am 12. Januar wurde die Insel von einem 7,0 starken Erdbeben heimgesucht, bei dem unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 100.000 und 200.000 Menschen ums Leben kamen. Eine Nachzählung des haitianischen Katastrophenschutzes ergab eine Liste von 112.250 Toten, 194.000 Verletzten und einer Mio. Obdachlosen. Die Schäden sind von katastrophalem Ausmaß. In Port-au-Prince, Léogane, Petit-Goave (im Süden der Hauptstadt) und Jacmel (Südosten) ist die Hälfte der Häuser zerstört. Die öffentlichen Betriebe und Einrichtungen, mitunter von zentraler Bedeutung für den Staat, sind nunmehr Ruinen. „Innerhalb einer Minute ist der Staat zum Erliegen gekommen“, gab der Präsident René Préval in einer nationalen Ansprache bekannt. „Wir sind alle Flüchtlinge“, erklärte er, und rief zur „organisierten Solidarität“ auf, „ohne Chaos, ohne Panik“.

Seit dem 16. Januar befindet sich Haiti im Ausnahmezustand und am 17. Januar begann eine für 30 Tage angesetzte Staatstrauer. Es wurden Tausende von Leichen vergraben, hauptsächlich in Massengräbern im Umkreis der Hauptstadt. 80.000 Menschen, zum größten Teil bereits im verwesten Zustand, sind bereits beerdigt worden. Von daher ist es nur sehr wenigen Familien möglich gewesen, ihre Angehörigen ausfindig zu machen um von ihnen Abschied zu nehmen. Einiger Opfer wurden sogar im Hinterhof ihrer Häuser verscharrt. Einige Viertel befinden sich in einer kritischen Lage, da noch 10 Tage nach dem Drama zahlreiche Leichname unter den Trümmern begraben sind. Laut offiziellen Zahlen konnten 50 Rettungsteams aus verschiedenen Ländern, bestehend aus insgesamt 1800 Rettungskräften, 135 Überlebende aus den Ruinen borgen. Vor und während der Ankunft der ausländischen Rettungsteams kamen die Bewohner aus den anderen Stadtvierteln herbei, um zahlreiche unter den Trümmern gefangenen Menschen zu retten.

Préval, dessen offenbar fehlende Führungsstärke in einigen Kreisen kritisiert wurde, sprach seine Dankbarkeit gegenüber der internationalen Gemeinschaft aus, die Haiti sofort zur Hilfe kam. Täglich landen auf dem internationalen Flughafen Toussaint Louverture 150 Flüge, und laut UNO stehen weitere 1.000 auf der Warteliste. Die Hilfe kommt aus Ländern Amerikas, Europas, Afrikas und Asiens. Aufgrund der Schäden an den Geräten und Gebäuden der Flugkontrolle ist die Flughafenleitung nun den Vereinigten Staaten unterstellt. Diese haben 16.000 Soldaten im Land stationiert, mit Erlaubnis des Premierministers Jean Max Bellerive und des Präsidenten Préval. Als Bellerive von den Abgeordneten am 22. Januar vorgeladen wurde, um eine Erklärung für diese Entscheidung zu liefern, ist dieser nicht erschienen. Die US-amerikanische Präsenz hat Diskussionen in der haitianischen Hauptstadt ausgelöst, und einige Stimmen bezweifeln, ob dieser stattliche militärische Aufmarsch im Rahmen der Organisierung der humanitären Hilfe notwendig ist.

Die Herausforderung besteht nun in der Verpflegung der Verletzten und Betreuung der Geschädigten. Nach Angaben der Regierung sind in der Hauptstadtregion drei Lazarett-Krankenhäuser bereits in Betrieb, zudem hat das US-amerikanische Lazarettschiff US Comfort seine Arbeit aufgenommen. Desweiteren gibt es 48 Betreuungseinheiten, sowohl Stützpunkte als auch mobile Interventionseinheiten. 100 ausländische Spezialisten sind auf diese Zentren verteilt.

„Die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern sind äußerst schwierig. (…) Momentan halten sich mehrere hundert Personen in der Nähe der staatlichen Universitätsklinik HUEH (Hôpital de l’Université d’état d’Haiti) auf, die allermeisten warten auf eine chirurgischen Eingriff“, bezeugt ein Freiwilligenhelfer von Ärzte der Welt MDM (Médecins du Monde). Es müssen viele Amputationen vorgenommen werden, „da die Verletzten mehrere Tage ohne sanitäre Behandlung und unter mangelhaften Hygienebedingungen ausharrten, und die entzündeten Verletzungen schweren Wundbrand hervorgerufen haben“, rechtfertigen sich die Ärzte. Dieser Einschätzung wird von einigen haitianischen Spezialisten widersprochen. Diese meinen, dass man geeignetere Behandlungsmethoden anwenden könnte.

Hunderttausende Bewohner*innen der Hauptstadt sind in ca. 500 auf öffentlichen Plätzen aufgestellten provisorischen Herbergen untergebracht, im Champ de Mars und in anderen Vierteln, in denen mangelnde Gesundheitsbedingungen herrschen. Sowohl die Bewohner*innen von Port-au-Prince, die ihre Häuser verloren haben, als auch diejenigen, deren Häuser verschont geblieben sind, bevorzugen vorwiegend im Freien zu schlafen, um kein Risiko einzugehen; die Wohnungen und Häuser sind in ihrer Mehrheit mit Rissen bedeckt. In einigen Gegenden beobachtet man immer noch Häusereinstürze aufgrund der ständigen Nachbeben, von denen nicht weniger als 50 registriert wurden. Eines von ihnen mit der Stärke von 5,9 hat am 20. Januar die Angst unter der Bevölkerung wieder aufleben lassen.

Die Regierung gibt an, dass die Wasser- und Lebensmittelversorgung gestaffelt wird, unter Hilfe des Welternährungsprogramms PAM (Programme alimentaire mondial), des nationalen Programms für Schulessen PNCS (Programme National de Cantines Scolaires) und anderen Programmen, in deren Rahmen momentan ca. 400.000 Helfer*innen aktiv sind. Auf dem Markt sind die Preise für Wasser und Grundnahrungsmittel empfindlich gestiegen. Die Schlangen vor den Läden, Bäckereien und anderen Verkaufspunkten werden immer länger. Die öffentlichen Märkte haben zügig ihre Arbeit wieder aufgenommen, allerdings mit weniger Betrieb als zuvor. Der Ansturm auf die Banken ist beträchtlich, die Bankkund*innen verlangen Bargeld. Trotz der Festlegung der maximalen Auszahlungssumme auf 2.500 US-Dollar sind seit dem 22. Januar bei einigen Banken die Devisenbestände aufgebraucht.

Bezüglich der Elektrizitätsversorgung räumt man bei den nationalen Elektrizitätswerken ein, dass es zur Zeit nicht möglich ist zu bestimmen, wann das Stromnetz in Port-au-Prince wieder in Betrieb genommen werden kann. Laut eigener Einschätzung sind Stromproduktion, -weiterleitung und -verteilung von beträchtlichen Schäden betroffen. Die Medien nehmen allmählich ihre Arbeit wieder auf, nachdem auch sie schwer getroffen wurden. Die Einrichtungen von Radio Tele Guinen sind eingestürzt, ein Kameramann kam dabei ums Leben. Die Büros der Online-Agentur AlterPresse sind zerstört, dort gab es jedoch keine Opfer. Die Einrichtungen des Fernsehkanals Canal 11 und des Senders Magik 9 sind genauso betroffen wie die Einrichtungen weiterer Medien. Die Telekommunikation ist immer noch mit technischen Problemen konfrontiert, es ist weiterhin schwierig Telefonanrufe zu tätigen. Es wurde bisher kein Termin genannt, wann die Universitäten ihren Betrieb wieder aufnehmen können; zahlreiche Schulen und höhere Bildungseinrichtungen wurden vom Beben zerstört.

Unterdessen ist eine von der Regierung geförderte große Migrationsbewegung in Richtung der anderen Städte im Gange. Laut Regierung, welche Transportmittel zur Verfügung stellte, haben bereits mehr als 235.000 Menschen die Hauptstadt verlassen. Weitere hunderte Menschen drängen sich vor den Gittern der Botschaften der Vereinigten Staaten, Kanada und Frankreich, um zu versuchen aus dem Land zu kommen. Die Auswanderwilligen fürchten nicht nur die Nachbeben vergangener Woche, sondern auch die sich abzeichnende Verschärfung der Sicherheitslage. Am 12. Januar flüchteten mehrere tausend Inhaftierte aus den Gefängnissen, einige von ihnen werden als besonders gefährlich eingestuft. (Original: AlterPresse)

– Gotson Pierre ist haitianischer Journalist und Mitglied des alternativen Info-Netzwerks AlterPresse.

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