Die Neuerfindung Lateinamerikas (2. Teil)

von Luis Hernández Navarro*, Mexiko-Stadt

(Quito, 26. Dezember 2013, alai-poonal).- Der aktuelle wirtschaftliche Boom Lateinamerikas ist eng mit dem Eintritt Chinas in der Hemisphäre verbunden. Der asiatische Drache ist ein heißhungriger Konsument von Lebensmitteln, Mineralien und Metallen sowie Brennstoffen, die in der Region produziert werden. Die Investitionen Chinas waren von zentraler Bedeutung dafür, dass die Region die Wirtschaftsrezession von 2009 ohne weitreichende Schäden überstehen konnte.

Der chinesische Drache

Die chinesische Präsenz in der Hemisphäre nimmt in allen Bereichen rasant zu: bei Handelsaustausch, Direktinvestitionen, Finanzierung und sogar bei den kulturellen Aktivitäten. Solange es nicht zu einem Niedergang des Wachstums oder schweren politischen Konflikten in der asiatischen Nation kommt, deutet nichts darauf hin, dass diese Tendenz sich ändern könnte.

Die Investitionen aus dem Land Mao Tse-tungs in Lateinamerika stiegen von 15 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000 auf 200 Milliarden US-Dollar im Jahr 2012 an. Im Jahr 2017 könnten sie die Summe von 400 Milliarden US-Dollar erreichen. Das Handelsvolumen Chinas mit Brasilien, Chile und Peru überstieg den Handelsaustausch, den diese Länder mit den USA hatten.

Der Gigant aus dem Osten war zudem das zweitwichtigste Handelsziel von Argentinien, Costa Rica und Kuba. 40 Prozent der landwirtschaftlichen Exporte der Region gehen nach China1. Die Direktinvestitionen Chinas in diesem Bereich überstiegen 8,5 Milliarden US-Dollar. Zwischen 2005 und 2011 bewilligte die asiatische Nation zudem Kredite an die Länder der Hemisphäre in einer Höhe von 75 Milliarden US-Dollar. Es handelt sich um Investitionen und Kredite, die nicht an die Akzeptanz von Entwicklungsdogmen, ideologischen Überlegungen oder strikt politischen Kritiken geknüpft sind. China benutzt stets die Termini Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe.

Wirtschaftliche Grenzen erweitern

Wie die Zeitung El País berichtet, ist die Abhängigkeit der lateinamerikanischen Wirtschaft von China inzwischen so groß, dass das Bruttoinlandsprodukt der Region bei einem einprozentigen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in Chinas jeweils um 0,4 Prozent mitwächst. Wächst der asiatische Drache um 10 Prozent, nehmen die Exporte Lateinamerikas um 25 Prozent zu.

Die wachsende Präsenz Chinas in einer Zone, die traditionell die Einflusszone der USA gewesen ist, ist von Washington bisher nicht mit Feindseligkeiten beantwortet worden. Das Imperium hat versucht, die Wirkung der östlichen Macht einzugrenzen und zu verwalten sowie sie auf die strikt ökonomische Sphäre zu beschränken.

Peking seinerseits agiert vorsichtig und betont seine vorrangige Absicht, die wirtschaftlichen Grenzen zu erweitern. Von El País interviewt, erklärte Daniel P. Erikson, Berater des Büros für Angelegenheiten der westlichen Hemisphäre im US-Außenministeriums ebenso vorsichtig, die wachsende Wirtschaft des asiatischen Landes zwinge dieses dazu, neue Märkte zu suchen. Eine Notwendigkeit, die Lateinamerika aus denselben Motiven teile.

Der russische Bär und die kanadischen Bergbauunternehmen

Angeschoben von seinen wachsenden Waffenverkäufen nach Lateinamerika, hat Russland seine Präsenz in der Region neu geordnet. In den Fünfjahreszeiträumen 1999 bis 2003 und 2004 bis 2008 stiegen die Waffenexporte des russischen Bären in den Subkontinent um 900 Prozent. Es handelt sich um den wichtigsten neuen russischen Markt für Kriegsprodukte.

Russland versorgt die Region zu besten Zahlungs- und Lieferbedingungen ohne politische Konditionierungen mit militärischer Ausrüstung. Mit Venezuela hat es gemeinsame Manöver durchgeführt. Die Geschäfte Russlands in Lateinamerika gehen jedoch über den Waffenbereich hinaus. Das alte Zarenreich investiert ebenfalls in Öl, Metallindustrie, Wohnungsbau, Wasserkraft sowie die Busproduktion.

Kanadas bedeutendste Visitenkarte in Lateinamerika sind die Bergbaukonzerne. Laut Daten von 2008 kontrollieren die kanadischen Firmen etwa 37 Prozent der Produktion im Bergbausektor.

Derzeit sind 286 Unternehmen mit 1.500 Minenprojekten aktiv, auch wenn nicht alle sich in der Phase der Rohstoffförderung befinden2. Doch alle ziehen eine Schleppe hinter sich her, die aus dem Umgehen von Steuerzahlungen, Abzockerei, massiver Verschmutzung, Problemen im öffentlichen Gesundheitswesen, Korruption, Enteignung und Gewalt gegen Opponent*innen besteht.

Kanada ist weltweit führend im Bergbau. 75 Prozent aller Bergbaufirmen in der Welt werden in Kanada registriert und 60 Prozent sind in Toronto an der Börse vertreten. Viele von ihnen sind nur rein formal kanadischen Ursprungs, denn in der Realität handelt es sich um Konzerne mit australischem, schwedischen, israelischem, belgischen und US-Kapital.

Die kanadische Bergbaugesetzgebung ist flexibel und großzügig mit den Investor*innen, was die Steuerregelungen anbetrifft. Investor*innen werden auf finanziellem, diplomatischem und gerichtlichem Gebiet begünstigt. Börsennotierte Unternehmen dürfen potentielle Rohstoffvorkommen inwertsetzen. In der Tat erzielen einige der Konzerne ihre Gewinne aus der Börsenspekulation mit potentiellen Vorkommen.

In allen Ländern Lateinamerikas, in denen kanadische Bergbauunternehmen offenen Tagebau betreiben, hat es schwerwiegende Konflikte mit den Gemeinden gegeben. Heute handelt es sich dabei um ein hervorstechendes Merkmal in den Beziehungen zwischen Lateinamerika und seinem anderen Nachbarn im Norden.

Die Neuerfindung

Lateinamerika befindet sich in einem Prozess der Neuerfindung als Hemisphäre. Seine Zukunft ist noch nicht festgelegt, sein Schicksal noch nicht festgeschrieben. Die Hemisphäre ist dabei, ihren Platz in der Welt neu zu definieren.

In der zurückliegenden Dekade hat die Region außergewöhnliche Einnahmen durch den Verkauf von Rohstoffen und durch Kapital für Wertpapiere verzeichnet. Befördert wurde dies noch durch die von den verschiedenen Zentralbanken zur Verfügung gestellte, üppige Liquidität und historisch niedrige Zinssätze. Doch heute neigt sich dieser Zyklus seinem Ende zu.

Darum impliziert die Neuerfindung notwendigerweise eine neue Definition, was den Platz in einer multipolaren Welt angeht.

In einer Welt, in der es gilt, die derzeitige Rolle der Region als Rohstofflieferant zu modifizieren. Denn diese Rolle bringt Lateinamerika in eine instabile und verletzliche Lage. Die Hemisphäre braucht eine Industrie mit Spitzentechnologie und einem stärker entwickelten verarbeitenden Gewerbe. Gleichzeitig muss sie den Binnenmarkt unter fairen und gerechten Bedingungen entwickeln. Wenn dies der Region nicht gelingt, dann werden ihre von José María Torres in seinem Gedicht „Die Zwei Amerikas” verkündeten Träume der Integration und der Unabhängigkeit sehr schwer zu verwirklichen sein.

Anmerkungen:

1 http://www.wilsoncenter.org/sites/default/files/ LAP_120810_Triangle_rpt.pdf

2 Siehe: “La minería canadiense en América Latina. Un panorama contemporáneo”, de Arthur Phillips, Mary Roberts, Alix Stoicheff y Saviken Studnicki-Gizbert.

* Der Autor Luis Hernández Navarro koordiniert die Kommentarsparte der mexikanischen Tageszeitung La Jornada und schreibt dort als Leitartikler.

Der vorliegende Text erschien zuerst im Dezember 2013 in der Nummer 490/491 der von alai herausgegebenen Zeitschrift América Latina en Movimiento.

Teil 1 der deutschen Übersetzung erschien vergangene Woche bei poonal und kann hier nachgelesen werden:  Die Neuerfindung Lateinamerikas (Teil 1)

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