Die neue Rechte in Lateinamerika

von José Natanson (Le Monde Diplomatique)

(Montevideo, 24. November 2014, comcosur).- Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in Brasilien, das Musterbeispiel Henrique Capriles in Venezuela und die Umfragen in Argentinien – all das stellt eine stärker umkämpfte Wahllandschaft dar, als dies früher der Fall war, wobei es die fortschrittlichen Regierungen schwieriger haben, ihre Macht zu behalten. Besonders sticht die Bildung einer neuen politischen Rechten hervor, die demokratisch, post-neoliberal und sogar bereit ist, ein neuartiges soziales Gesicht zu zeigen (fast würden wir sagen, populistisch, wären wir dem Begriff nicht so überdrüssig, in seinem abwertenden Sinne aber auch seiner – zu anderem Zeitpunkt wertvollen, heute eher ermüdenden – epistemologischen Aufwertung). Aber lassen wir uns nicht ablenken und versuchen wir die neue Rechte zu beschreiben:

Die demokratische Wende der Rechtsparteien

Das demokratische Wesen der neuen Rechten ist wahrhaft eine Neuheit in der Region. Tatsächlich haben die konservativen Kräfte im Laufe der Geschichte nur selten der Versuchung widerstanden, an die Türen der Kasernen zu klopfen, wenn sie merkten, dass sich ihre Interessen mittels der Wahlurnen nicht durchsetzen ließen. So geschah es 1955, 1966 und 1976 in Argentinien, 1964 in Brasilien, 1973 in Uruguay und in den 1980er Jahren in ganz Mittelamerika. Aber auch in Chile während der Regierung Allendes oder in Guatemala unter Arbenz, als die Konservativen der Meinung waren, die Radikalisierung der Linksregierungen hätte unzumutbare Ausmaße erreicht. All dies ereignete sich natürlich in einem militarisierten politischen Kontext, in dem das Militär als ein weiteres Mittel des politischen Spiels diente und in dem auch die Linke ab und an darauf zurückgriff, wie etwa 1968 in Peru und im Jahr 2000 in Ecuador.

Aber all das hat sich geändert und die Rechte Lateinamerikas hat mittlerweile die Demokratie als einzig mögliches System akzeptiert (das schlimmste System, das der Mensch erfunden hat, abgesehen von allen anderen, laut Churchills berühmten Sinnspruch). Dies heißt natürlich nicht, dass die Rechte nun absolut auf Putschversuche, Vorstöße zur Destabilisierung und autoritäre Fehltritte verzichte, wie die jüngeren Erfahrungen in Honduras, Paraguay, Ecuador und Bolivien zeigen. Es gibt jene, die zum “golpe sin sujeto”, dem Putsch ohne eindeutiges Subjekt, greifen, die neue Art der außer-institutionellen Machtverschiebung des 21. Jahrhunderts (1). Außerdem sind da diejenigen, die sich weigern, saubere Wahlniederlagen zu akzeptieren, was wiederum nicht ausschließlich eine Schwäche der Rechten ist, worauf die Vorwürfe des Wahlbetrugs schließen lassen, die Andrés Manuel López Obrador nach den Wahlen von 2006 in Mexiko entfachte.

Der demokratische Ursprung der neuen Rechten

Am wichtigsten ist darüber hinaus jedoch, dass die hartnäckigsten Gruppen innerhalb der Kräfte der neuen Rechten eine Minderheit darstellen. Diese Kräfte sind viel komplexer und widersprüchlicher als es eine einseitige Betrachtungsweise oft eingestehen will. Im Allgemeinen bildeten sich die Parteien und Kandidaten der Rechten gegen Ende der autoritären Regime und in einigen Fällen boten sie diesen sogar die Stirn. So geschah es mit der brasilianischen PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira), eine modernisierte Partei aus Professionellen und Intelektuellen, die sich den Protesten gegen die Militärdiktatur anschloss. Oder der Fall Sebastián Piñeras und seine berühmte Nein-Stimme in der Volksabstimmung gegen Pinochet, was die Parteien jedoch später nicht daran hinderte, Allianzen mit Kräften zu bilden, die eng mit den Diktaturen verbunden waren, wie die brasilianische Partei der Demokraten DEM (Democratas) oder die chilenische UDI (Unión Demócrata Independiente). Alles in allem lässt sich der demokratische Charakter der neuen Rechten – über deren Überzeugungen hinaus, auf die wir, da wir ja keine Psycholog*innen sind, lieber nicht näher eingehen wollen – über seinen Ursprung erklären.

Das post-neoliberale Programm der neuen Rechten

Die neue Rechte ist nicht nur demokratisch, sondern auch post-neoliberal. Auch wenn ihre Wirtschaftsprogramme die bekannten Vorschriften einer marktfreundlichen Politik enthalten, erscheinen nur selten explizite Hinweise auf eine Politik der Deregulierung, Privatisierung und kommerziellen Öffnung, die den wesentlichen Kern des Washington Konsensus darstellen. Einmal mehr ist diese Strategie weniger auf eine geheime List des politischen Marketings zurückzuführen, als auf den Kontext: All diese Reformen wurden bereits umgesetzt und auch wenn es Korrekturen und Gegenreformen verschiedenen Ausmaßes gab, sind diese im Allgemeinen weiterhin gültig.

Zum Beispiel liegt der durchschnittliche Zolltarif Lateinamerikas – Indikator der kommerziellen Öffnung – momentan bei 14 Prozent gegenüber 42,5 Prozent im Jahr 1985. Die Lohnkosten – Indikator der Flexibilisierung – sanken um 40 Prozent und die öffentlichen Ausgaben – Indikator der staatlichen Interventionen – stiegen von 20,5 auf 35 Prozent (2). Anders ausgedrückt, den Vorschlägen [der neuen Rechten] fehlt es an expliziten Hinweisen auf den Neoliberalismus nicht etwa deshalb, weil dieser unbeliebt ist, sondern vor allem, weil er bereits umgesetzt wurde.

Um das Argument nochmals zu verdeutlichen, die schwache Dosis an explizitem Neoliberalismus in den Wirtschaftsprogrammen der neuen Rechten bedeutet keinenfalls, sie mit den offiziellen Programmen der Linken gleichzusetzen. Eine Rechte ohne Linke ist geometrisch unmöglich und politisch absurd. Unterschiede werden immer existieren. Entscheidend ist, diese analytisch zu erfassen und sie im richtigen Verhältnis zu betrachten. Zum Beispiel hätte ein Sieg von Aécio Neves in Brasilien, wie auch der von Lacalle Pou in Uruguay oder Mauricio Macri in Argentinien nicht, wie es dort heißt, den Rückkehr zur Amerikanischen Freihandelszone, dem FTAA bzw. ALCA (Free Trade Area of the Americas/Área de Libre Comercio de las Américas), bedeutet – selbst wenn dies Neves’ Ziel gewesen wäre – aus dem einfachen Grund, dass die Unternehmer*innen aus São Paulo dies gar nicht zugelassen hätten. Desweiteren aber auch deshalb nicht, da die Strategie der USA nun vielmehr darin besteht, bilaterale Freihandelsabkommen zu unterzeichnen, als sich auf unmögliche Verhandlungen mit [regionalen] Blöcken einzulassen.

Mögliche Flexibilisierung des Mercosur

Hingegen könnte [ein Sieg der neuen Rechten] durchaus zu einer “Flexibilisierung” des Mercosur, dem Gemeinsamen Markt Südamerikas, führen, wobei dieser Vorschlag von der Opposition aller fünf Mitglieder des Mercosur unterstützt wird. Allerdings ist nicht leicht zu verstehen, was dies genau bedeuten würde, da der Gedanke gewöhnlich abstrakt formuliert wird. Es scheint auf eine Umgestaltung des Blocks hinauszulaufen, von der Zollunion, die er momentan ist, zu einer Freihandelszone, wofür die berühmte 31. Klausel abgeschafft werden müsste, die es den Mitgliedern untersagt, im Alleingang Handelsabkommen mit Dritten auszuhandeln.

Eine Veränderung diesen Typs, durch die der Mercosur Modellen offener Integration näher kommen würde, wie dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA oder der Pazifik-Allianz, würde bedeuten, sich vom Einheitszoll zu trennen (der andererseits voll von Lücken, Ausnahmen und Sonderregelungen ist), von den Projekten zur Integration der Produktion (mit Ausnahme von kaum entwickelten Bereichen wie der Automobilindustrie) und der strukturellen Konvergenz der Wirtschaftspolitik (die allerdings ohnehin auf Wunschäußerungen bei den Gipfeltreffen der Präsident*innen beschränkt ist). Mit anderen Worten, mehr als sich vom Mercosur “abzuwenden”, würden solche Veränderungen seinen ursprünglich kommerziellen Geist wiederherstellen. Wir sollten nämlich nicht vergessen, dass der Gründungsvertrag im Jahr 1991 von Carlos Menem und Fernando Collor de Mello [und anderen] mit dem Ziel unterzeichnet wurde, die Verhandlungen unter den dynamischsten Unternehmersektoren der beteiligten Länder zu erleichtern.

Der soziale Kompromiss der neuen Rechten

Schließlich hat die neue Rechte auch ein soziales Gesicht. Ihre Führungskräfte versprechen, die Programme, die im letzten Jahrzehnt begonnen wurden, weiterführen zu wollen und machen der Linken sogar ihren Symbolismus streitig. Dies geschah beispielsweise bei Capriles, der versicherte, im Falle eines Wahlsieges die von Chavez begonnenen Missionen [diverse Programme zur Armutsbekämpfung und für soziale Gerechtigkeit] nicht abzuschaffen. Er nannte außerdem seinen Wahlkampfstab nach Simón Bolívar und zeigt sich bei seinen Wahlauftritten sogar in den Farben gelb, blau und rot. Die Tatsache, dass die Kandidat*innen anderer Länder zur gleichen Strategie gegriffen haben und sogar über deren “caprilización” (dt. “Caprilisierung”) (3) diskutiert wird, zeigt, dass Venezuela, wie bereits bei Hugo Chávez, der es als erster Anführer der neuen Linken an die Regierung schaffte, eine erstaunliche Vorreiterfunktion besitzt.

Ehrlich oder gekünstelt, das soziale Gesicht der neuen Rechten macht sie konkurrenzfähig und ermöglicht es ihr, den Kampf um die öffentliche Meinung in den großen Städten mit ihrer traditionellen Klientel zu verbinden. Letztere sind mitunter Nachfolger der Diktaturregime, wie die UDI in Chile und die DEM in Brasilien, oder gingen aus den alten populistischen Parteien hervor, wie im Falle der Blancos in Uruguay oder bei Macri in Buenos Aires. Dort hat die republikanische PRO (Propuesta Republicana) einen grossen Teil des dichten Netzes der Justizialistischen Partei PJ (Partido Justicialista) der Hauptstadt übernommen und konnte in all ihren Wahlen deutliche Siege in den Kommunen im Süden der Stadt verzeichnen.

Unterschiede zur Führungskräfte der klassischen Rechten

All dies steht im Kontrast zur ideologisch sehr viel stärker geprägten klassischen Rechten, was sich im Aufritt ihrer [fast ausschließlich männlichen] Führungskräfte widerspiegelt. Im Unterschied zu den alten Dinosauriern, im allgemeinen Ökonome wie Alsogaray, Cavallo oder López Murphy, setzt sich die neue Rechte aus Unternehmern, Managern oder Sportlern zusammen, von Mauricio Macri zu Vicente Fox und von Samuel Doria Medina zu Daniel Scioli. Tatkräftige Männer, fast immer jung oder darum bemüht so zu wirken, die ganz nach Berlusconi die liberale Tradition mit der konservativen verbinden. Sie legen eine programmatische Gewandtheit an den Tag und das Gespür für den richtigen Moment, ihre Listigkeit zu demonstrieren, der ihren beschwerlichen Vorgängern fehlte.

Veränderungen unter der Wählerschaft

Die zuvor analysierten Charakterzüge spiegeln sich in zwei großen Veränderungen im Bereich der Wahlen wider. Die erste betrifft einen Wechsel der Wählerschaft der Linken, die einen Teil ihrer ursprünglichen Unterstützung unter der Mittelklasse verloren hat und sich immer mehr in den breiten Sektoren der unteren Einkommensklasse verankert. Dies zeigt die Verschiebung der Wählerschaft der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) von Südbrasilien in die Nordost-Region, aber auch das Vordringen des uruguayischen Linksbündnisses Frente Amplio in das Landesinnere. Sogar Evo Morales, der in den Präsidentschaftswahlen in Bolivien triumphierte, erhielt im Zentrum der Hochebene weniger Stimmen als zuvor.

Die zweite Neuheit, die allerdings mit mehr Ruhe untersucht werden müsste, ist die Schwierigkeit der fortschrittlichen Regierungen, die Stimmen der jungen Wähler*innen zu gewinnen, die immer mehr dazu tendieren, zur Opposition überzugehen. Vielleicht deshalb, da die dramatische Erfahrung des Neoliberalismus für sie nur eine verschwommene, ferne Erinnerung ist. Aus all diesen Gründen und auch wenn es die neue Rechte bisher noch nicht an die Macht geschafft hat, zeigt sich diese als neue und konkurrenzfähige Akteurin in der Politik Lateinamerikas.

1. Siehe Juan Gabriel Tokatlian, “El neogolpismo”, Le Monde diplomatique, edición Cono Sur, Nº 178, mayo de 2014.

2. Eduardo Lora, “Las reformas estructurales en América Latina. Qué se ha reformado y cómo medirlo”, BID.

3. www.artepolitica.com

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