Die Massen werden zuhause bleiben

von Andreas Behn

(Berlin, 11. Juni 2014, taz).- Nein, die Massen werden nicht wieder auf die Straßen gehen. Niemand in Brasilien erwartet Demonstrationen mit Hunderttausenden, die im Juni 2013 völlig überraschend ein heftiges politisches Erdbeben ausgelöst haben. Die Probleme sind die gleichen, der Unmut heute sogar größer. Doch seit dem Confed-Cup ist ein Jahr vergangenen, die politischen Vorzeichen haben sich verändert und mit ihnen die Dynamik der Proteste.

Die Debatte über die Missstände der Fußball-WM und wie sehr oder wenig die Bevölkerung von dem Spektakel profitieren wird, ist inzwischen politischer Alltag geworden. Damit gerieten auch Kritik und Proteste ins Fahrwasser althergebrachter Konfrontation. Das links-rechts-Schema ist weitgehend wieder hergestellt, die geht-mich-doch-nichts-an-Fraktion ist wieder die Mehrheit. Zwar ist Konsens, dass mit dieser WM vieles nicht stimmt – ein Riesenerfolg der Juni-Demos, die weniger „Sozialproteste“ waren als eine gelbe Karte der aufstrebenden Mittelschicht für abgehobene Politiker*innen und falsche Versprechen. Doch heute kochen viele ihr eigenes Süppchen, und die Regierung ist vorgewarnt.

Die Mobilisierung wird derzeit vor allem von sozialen Bewegungen getragen, von denen viele den Confed-Cup verschlafen hatten und dann teilweise wegen ihrer Nähe zu den linken (Regierungs)parteien und ihrer roten Fahnen von den Großdemos vertrieben wurden. Ein aktuelles Beispiel ist die Bewegung für Wohnraum. Ähnlich wie die Landlosenbewegung MST besetzt die Bewegung Obdachloser Arbeiter (Movimento dos Trabalhadores Sem Teto) leerstehende Gebäude und Stadtflächen, und führt insbesondere in der Metropole São Paulo die größten Protestmärsche mit bis zu 20.000 Teilnehmer*innen an.

Protest ist politischer geworden

Der Protest ist politischer geworden und hat sich die Forderungen der WM-kritischen Komitees zu eigen gemacht. Die klare linke Ausrichtung wird aber viele pauschal Unzufriedene davon abhalten, auf die Straße zu gehen. Hinzu kommt die Angst vor Gewalt, sowohl der Polizei wie des Schwarzen Blocks. Seit Monaten setzt die Regierung auf diesen Hebel, indem sie den Unmut in gute und böse Demonstrant*innen spaltet und ostentativ ein hartes Durchgreifen der Polizei gegen Randalierer*innen ankündigt. Nicht zuletzt hat auch die Furcht um Imageschäden der Lust vieler Brasilianer*innen am Demonstrieren einen Dämpfer aufgesetzt.

Die Streiks wiederum, die in den vergangenen Wochen das Bild eines Landes im Aufruhr vermitteln, sind nicht unbedingt Proteste gegen die Fifa-Missstände. Zwar gehört eine gerechtere Verteilung des Wohlstands zu den Forderungen der Straße, doch viele Gewerkschafter*innen nutzen das Scheinwerferlicht taktisch für die eigenen Interessen. Das gilt vor allem für die Polizei und Bus- wie U-Bahnfahrer, die jüngst für viel Chaos gesorgt haben.

Diese Polizisten haben nichts mit der Protestbewegung gemein, und die Busfahrer entschieden mehrheitlich, ihre Demos von dem WM-Protest fernzuhalten, um „die Anliegen nicht zu vermischen“. Nur die Lehrergewerkschaft in Rio, der es neben Löhnen auch um eine Bildungsreform geht, fühlt sich explizit als Teil der WM-Kritik. Da das Gros der Gewerkschaften der regierenden Arbeiterpartei PT nahesteht, dürfte es dieser gelingen, spektakuläre Ausstände während der WM mit Verhandlungen hinter den Kulissen zu verhindern.

Patriotismus statt Demonstrationen

Auch die Rechte wird anders als 2013 nicht darauf setzen, die Proteste inhaltlich zu vereinnahmen und dann zu puschen. Vielmehr hofft sie darauf, dass Pannen und eventuelle Gewaltausbrüche das angeschlagene Image der PT-Regierung weiter negativ beeinflussen. Brasilien-Fahnen und gelb-grün bemalte Gesichter werden statt auf den Demonstrationen vor allem vor den Fernsehern Präsenz markieren.

Unklar allerdings ist, wie die Mobilisierung in den sozialen Netzwerken sein wird. Bisher ist es dort erstaunlich ruhig, doch das war vor dem Confed-Cup ähnlich. Nur eines wird sich mit Sicherheit wiederholen: Überzogene und brutale Polizeieinsätze. Die haben vergangenes Jahr die Wut gesteigert und könnten trotz aller Angst auch jetzt wieder mobilisierend wirken.

Das gilt auch für Aufstände in den Favelas, wie im April, als an der Copacabana ein beliebter Tänzer unter ungeklärten Umständen erschossen wurde. Mit brennenden Barrikaden an den Übergängen von Touristen- und Armenvierteln ist nur zu rechnen, wenn die Polizei dazu den Anlass gibt.

Die Geschichte wird sich also auch in Brasilien nicht wiederholen. Doch viel und vielfältigen Protest wird es geben, erstmals aus Anlass einer Fußball-WM.

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