Der Preis des Schweigens

von Lucía Lagunes Huerta*

(Mexiko-Stadt, 10. Mai 2011, cimac).- Die Vergewaltigung innerhalb der Familie gleicht dem Missbrauch von Kindern und der Vergewaltigung von Nonnen und Gläubigen in der Kirche: Jeder weiß davon, täuscht aber Unwissenheit vor.

Jahrelang sind diese Themen von der Gesellschaft vermieden worden – seltsamerweise mit dem Argument, dass darüber zu sprechen die Institution der Familie und der Religion verletzen würde.

Selbst wenn heute in Mexiko in 30 von 32 Bundesbehörden Inzest festgestellt wird (Puebla und Tlaxcala nicht eingeschlossen), werden diese Taten in 23 Bundesstaaten als „Verbrechen gegen die Institution der Familie“ untersucht. So legt man das Gewicht auf die Familienehre statt auf das Mädchen, das von einem Verwandten missbraucht wurde.

“Precious” ist kein Einzelfall

Mit 16 Jahren ist Claireece “Precious” Jones zum zweiten Mal von ihrem Vater schwanger. Als die Geschichte dieses Mädchens auf die Großleinwand gebracht wurde, zeigte das, was das System alles durchgehen ließ, bis jemand eine Gelegenheit nutzte, das Schweigen zu brechen. Doch „Precious“ widerfuhr keine Gerechtigkeit: Der Vater wurde weder bestraft noch verurteilt und die Mutter wird als die Böse hingestellt.

Wie “Precious” geht es vielen Mädchen auf der Welt. Vor einem Jahr wurde ein zehnjähriges Maya-Mädchen verpflichtet ihren Sohn zu bekommen, der aus der Vergewaltigung durch ihren Vater entstanden ist. Ihr Haus war einige Tage in den Medien, doch danach kehrte das Schweigen zurück.

So viele Töchter und Söhne gibt es heutzutage, die aus Inzest entstanden sind. So viele Mädchen werden täglich von denjenigen missbraucht, die vorgeben sie zu lieben und zu beschützen. So wird ihnen beigebracht, den Missbrauch und die Vergewaltigung zu akzeptieren, die vor den Augen der Familie und der wohlerzogenen Gesellschaft stattfinden.

Die Gesellschaft zahlt den Preis

Der Preis für das Schweigen zahlen diese Mädchen und unsere ganze Gesellschaft. Denn die Untätigkeit macht uns zu Komplizen häuslicher und außerhäuslicher Gewalt. Gewalt, die sich ausbreitet und jeden Tag mit verschiedenen Argumenten gerechtfertigt wird.

Die institutionelle Gewalt, die sich als Krieg gegen das organisierte Verbrechen verkleidet, hat fast 34.000 Tote gefordert. Die Gewalt rechtfertigt man weiterhin auf derselben Grundlage wie die Familienehre, wenn es sich um Inzest handelt.

Das gesellschaftliche Schweigen, zu dem man Hunderte von Inzestopfern gezwungen hat, lässt eine Straftat im Dunkeln, die uns als Menschheit dauerhaft schadet. Bis hin zu der Tatsache, dass sich die Diskussion nun um Zahlen statt um die Leben der Menschen dreht. Es ist jedoch nicht die Summe, die das Verbrechen oder die Gewalt ausmacht. Ein Leben sollte genügen, um jede Tat zu stoppen, die das Frauen- und Menschenrecht auf ein Leben ohne Gewalt verletzt.

Ya basta

Es ist nötig das Schweigen zu durchbrechen, um von der Gegenwart aus die Zukunft zu gestalten. Die Mädchen müssen täglich in ihrem Zuhause respektiert werden. Für sie reicht es nicht, mit ihnen über Respekt zu sprechen – sie müssen täglich respektiert werden.

Man muss in der Praxis lehren, dass keine Person das Recht hat sich über eine andere zu stellen, zumal die heutige mexikanische Kindheit Opfer täglicher Gewalt ist. Wir sagen, Schluss mit der Gewalt zum Zwecke der Machtausübung!

(Die Autorin ist Leiterin von CIMAC)

 

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