Der Müll, die Stadt – und wer davon lebt

von Nils Brock

(Berlin, 20. November 2009, npl).- Die Abfallhalden von Mexiko-Stadt wachsen täglich um 20.000 Tonnen. Vom Straßenfeger über den Müllfahrer bis zur „Müllmafia“ auf den Deponien verdienen Tausende damit ihren Lebensunterhalt. Wertstofftrennung und Recycling scheitern bislang an den Interessengegensätzen unter den Beteiligten.

Gleich hinter dem Flughafen „Benito Juárez“ versteckt Mexiko-Stadt seinen Müll. Hier wächst die Metropole seit einem halben Jahrhundert in die eigenen Abfälle hinein, überbaut die meterhohen Schichten aus Plastikbeuteln, zementiert die vor sich hingärenden urbanen Reststoffe, planiert und begrünt die Ränder der täglich um 20.000 Tonnen wachsenden städtischen Deponien wie „Bordo Poniente“ oder „Tirador Neza“. Mit etwas Glück können Reisende beim Abflug einen flüchtig-fernen Blick erhaschen, vom Wind hoch gewirbelte Säulen aus Staub und Erde, vielleicht sogar Mülllaster oder Planierraupen im Miniaturformat.

Noch schwerer ist es, einen genauen Blick auf die Deponien zu erhalten. Besucher sind hier, wo täglich tausende Menschen in kniehohen Abfällen nach verwertbaren Materialien suchen, eher unerwünscht. „Dabei bekommt man auf den Halden ein scharfes Abbild des politischen Systems von Mexiko“, meint der Sozialforscher Hector Castillo Berthier. „Es geht um Machtausübung, Korruption und Ausbeutung. Man kann hier im Kleinen sehen, wie gesellschaftliche Kontrolle funktioniert, und man erhält außerdem noch einen Einblick in die riesige Endstation des urbanen Mülls.“

Bis hierher ist es ein weiter Weg, der meist irgendwo in der Stadt mit dem Gebimmel einer Kuhglocke, einer Lkw-Hupe oder dem lauten Rufen nach „Basuuuuura“, also „Müll“, beginnt. Als erste sind früh morgens die Straßenfeger, die „barrenderos“, auf den Beinen. Neben einem großen Reisigbesen haben die fast ausschließlich männlichen Reinigungskräfte zwei große Fässer auf einem rollenden Untersatz dabei. Darin sammeln sie für ein Trinkgeld die Müllbeutel von Privathaushalten und sortieren Wertstoffe wie Pappe, Glas und Aluminium aus, um sie später zu verkaufen. „Wir leben vom Mülltrennen und den Trinkgeldern“, erzählt der Straßenfeger Sergio, der seit 15 Jahren seine feste Route im Stadtteil Roma kehrt. Das ist kein armes Viertel, Sergio beschwert sich nicht. Ein Straßenfeger verdient am Tag je nach Laune und Geldbeutel der Anwohner*innen zwischen umgerechnet 15 und 30 Euro und liegt damit weit über dem gesetzlichen Mindestlohn. Bis zu 8.000 solcher „barrenderos“ sollen täglich durch die Straßen von Mexiko-Stadt ziehen, wo gut acht Millionen Menschen leben.

Feste Arbeitsverträge sind selten

„Lohn fürs Straßenfegen bekomme ich nicht“, erklärt Sergio in einer Frühstückspause, auf seinen Wagen gestützt. Eine Nachbarin hat ihm die Reste eines Brathähnchens vom Vortag geschenkt. „Arbeitsverträge von der Stadtteilregierung erhält nur die Hälfte von uns, und auch das sind Anstellungen, die nur drei Monate dauern. Nicht einmal die Lohnempfänger sind kranken- und sozialversichert.“ Sergio wirft die Hähnchenknochen in eine seiner Tonnen. „Ich verdiene mir mit dem Fegen nur die Erlaubnis, Trinkgelder zu kassieren.“

Von seinen Einkünften muss Sergio wie alle Kollegen einen Teil gleich bei der Arbeit wieder ausgeben. Manchmal gilt es mit ein paar Pesos einen Verkehrspolizisten zu beruhigen oder Angestellte vom kommunalen Ordnungsamt zu schmieren, um nicht seine Route zu verlieren. Und ständig muss er Geld an die Fahrer der städtischen Müllautos abdrücken, damit sie die von ihm gesammelten Abfälle mitnehmen. „Ein Müllauto ist Teil eines gut organisierten Familienbetriebs“, beschreibt Hector Castillo die motorisierten Abfallentsorger. „So wie die Straßenfeger ihre Putzrouten an Kinder oder Verwandte weitergeben, werden auch die Jobs auf den Müllautos in der Familie und im Freundeskreis verteilt.“

Die Crew eines Müllautos besteht in der Regel aus einem „patrón“, der meistens fährt, dazu ein bis zwei fest angestellten Müllmännern sowie weiteren „macheteros“, informellen Handlangern für die körperlich schwersten Arbeiten. Die Stadtverwaltung verfügt über 2000 Müllautos, zahlt Fahrern und Angestellten monatlich 180 Euro Lohn für die Müllabfuhr und die Instandhaltung des Fahrzeugs. „Wir sind alle auch Mechaniker. Wenn der Wagen stehenbleibt, müssen wir aus eigener Tasche Ersatz beschaffen“, sagt Müllmann Manuel. Der muskulöse Mann schaufelt gerade in der Nähe der Metrostation „UAM-I“ im Stadtviertel Iztapalapa lose Abfallmassen in die Presse seines riesigen schwarzen Lasters, den alle im Viertel den „Zauberer von Oz“ nennen. Im Wegzaubern von Müll sind Manuel und seine Kollegen Experten. Denn die Bewohner*innen der vierstöckigen Häuserblocks auf ihrer Route haben es sich zur Gewohnheit gemacht, die Müllsäcke nachts an einer Straßenecke zu deponieren. Vor der Markthalle werfen alle ihre Abfälle ab, die die Müllabfuhr verpasst haben oder sich um das Trinkgeld für die Müllsammler drücken wollen. „Eigentlich müsste das Ordnungsamt eingreifen und zumindest Sammelcontainer aufstellen, aber es geschieht nichts. Klar ist nur, dass wir eins auf den Deckel kriegen, wenn wir den Dreck nicht wegmachen“, schimpft Manuel.

Die einträglichsten Kunden sind für die Müllmänner ohnehin Restaurants und Schreibwarengeschäfte. Hier bieten sie täglich informell, aber gegen einen festen Tarif und zu festen Abholterminen, ihre Dienste an. Je nach Anzahl der Geschäftskund*innen auf seiner Strecke kann der „patrón“ seine Einkünfte fast verzehnfachen. Besonderes Glück hat, wer auf seiner Route ein Fischrestaurant hat: Dort ist man gesetzlich dreimal täglich zur Entsorgung der stinkenden Abfälle verpflichtet. Niemand kennt dieses Gesetz besser als die städtische Müllabfuhr.

Die Deponie platzt aus allen Nähten

Doch auch die Müllmänner müssen einen Teil ihrer Gewinne dafür ausgeben, Ordnungsamt und Polizei zu schmieren, um Bußgelder oder Strafen abzuwenden. Auch an den 13 großen Müllverladestationen werden die Fahrer erneut zur Kasse gebeten. Hier werden die Abfälle in die Container großer Sattelschlepper umgeladen, die dann zum „gordo“, der großen Deponie „Bordo Poniente“ am Flughafen rollen. Die derzeit einzige, mehr als 600 Fußballfelder große Müllkippe von Mexiko-Stadt ist eigentlich schon seit zwei Jahren voll. Seitdem platzt sie aus allen Nähten. Dabei sollte Mexiko-Stadt längst eine moderne Mülltrennungsanlage und eine neue Deponie erhalten. Doch bisher hat sich noch kein geeigneter Ort gefunden.

Zudem müssten neue Wege gefunden werden, die Abfälle effizienter zu trennen. Sonst würde auch eine neue Müllkippe in kürzester Zeit wieder überquellen. Zum Recycling aussortiert werde bis zur Ankunft in der Müllverladestation bisher nur Material, das wenig Platz wegnimmt, viel wiegt und stark nachgefragt wird, erklärt Luz Maria Piza vom städtischen Umweltamt. Die Versuche der Stadtverwaltung, die Einwohner*innen zum Trennen von organischem und anorganischem Müll zu bewegen, seien vorerst gescheitert. So werden von den täglich knapp anderthalb Kilo Abfall pro Kopf weniger als ein Viertel wiederverwertet. Zwar falle weniger Müll an als in Europa oder den USA, auch die Recycling-Quote sei besser als die der nördlichen Nachbarn, sagt Luz Maria Piza. „Doch ohne Alternativen zur derzeitigen Deponie müsste es im Interesse aller sein, noch weniger Müll zu erzeugen oder wenigstens besser zu trennen.“

Wer ist schuld daran, dass die Mülltrennung nicht klappt und der Müllberg immer schneller wächst? Während die Müllmänner ihrer Kundschaft Faulheit oder Ekel vor den eigenen Abfällen bescheinigen, macht das Umweltamt die Müllabfuhr verantwortlich. „Aus Angst vor privaten Recyclingunternehmen boykottieren die Müllmänner bisher alle Projekte zur Wertstofftrennung,“, klagt Luz Maria Piza. Geht es nach ihr, werden noch dieses Jahr in städtischen Schulen, Kulturhäusern und Einkaufszentren Container zur Mülltrennung aufgestellt. Ein ähnliches Projekt für Altbatterien läuft bereits seit zwei Jahren sehr erfolgreich. Dabei setze man auf die Kooperation von Stadtverwaltung, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft, so die Umwelträtin. „Anders ist das Müllproblem in Mexiko-Stadt auch gar nicht mehr zu lösen.“

200.000 Menschen leben vom Müll

Der Müllexperte Hector Castillo kennt diese Argumente. Die Müllautos seien jedoch gar nicht dafür ausgerüstet, entsprechend den Vorgaben des Umweltamtes zu trennen, wendet er ein. „Überhaupt ist es empörend, dass die politisch Verantwortlichen den Müll hauptsächlich als technisches und nicht auch als gesellschaftliches Problem wahrnehmen. Immerhin leben in Mexiko-Stadt 200.000 Menschen direkt und indirekt vom Müll. Die Arbeitsbedingungen der ,pepenadores’ beispielsweise, also der Arbeiter*innen, die auf den Müllkippen in Handarbeit Abfälle trennen, haben sich in den vergangenen 20 Jahren kaum verbessert“, kritisiert er. „Über Müllentsorgung zu reden und diese Menschen außen vor zu lassen zeigt, dass die Bewohner*innen der Deponien noch immer nicht als Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden.“

In der über eine Million Einwohner*innen zählenden Gemeinde Ciudad Nezahualcóyotl, die im Osten an das Stadtgebiet von Mexiko-City grenzt, entsteht nun eine Mülltrennungsanlage, die auch Arbeitsplätze für die „pepenadores“ bieten soll. Das Stadtviertel hat bereits viele Anstrengungen unternommen, um der Abfälle Herr zu werden. „Wir versuchen, die Müllkutscher, die hier anstelle von Straßenfegern arbeiten, in Recyclingprogramme einzubinden“, erklärt Gemeinderat Victor Bautista. „Zusätzlich arbeiten auf der Deponie inzwischen Umwelttechniker mit einer Gruppe früherer ,pepenadores’, die täglich 180 Tonnen organische Abfälle zu Kompost verarbeiten.“

Das Ergebnis der bisherigen Anstrengungen kann sich sehen lassen: Mehr als die Hälfte der Einwohner*innen macht inzwischen bei der Mülltrennung mit. Im Gegenzug verschenkt der Stadtrat Humuserde für die Grünanlagen von Wohnsiedlungen, Kirchen und Schulen und hat sich dazu verpflichtet, auf einem bereits geschlossenen Teil der Müllhalde „Neza II“ Sportanlagen zu errichten.

Hingegen ist auf dem anderen Teil der Deponie, der noch in Betrieb ist, eine Rundumsanierung nicht so leicht. Hier regiert wie überall auf den Halden von Mexiko-Stadt die „Müllmafia“. Sechs Gruppierungen organisieren in „Neza II“ hunderte Arbeiter*innen. Auf dem „Bordo Poniente“, der Deponie für Mexiko-Stadt, sind sogar mehrere tausend solcher Müllarbeiter*innen im Einsatz. Im Schichtbetrieb durchwühlen sie die Ladungen der ankommenden Müllwagen und Pferdekarren. Beim Abkippen der Abfälle verschwinden die „pepenadores“ jedes Mal in einer dichten Staubwolke. Mit Kapuzen und Tüchern schützen sie sich notdürftig vor dem fliegenden Dreck. Viele Arbeiter*innen leiden unter Schnupfen und Husten. Alt wird in diesem Job niemand. Rund sechs Stunden lang durchsuchen Teams aus Männern und Frauen die ankommenden Müllwagen und bringen ihre Ausbeute zu den ebenfalls von den „Müllmafias“ organisierten Verkaufsstellen. Dort bekommen sie ein Zehntel des Preises, den später Fabriken für die recyclebaren Rohstoffe bezahlen. Der Stadtrat mischt sich nicht ein, sondern wacht nur über die korrekte Lagerung der Abfälle. Immerhin sind die hierarchischen Organisationen der Arbeiter*innen auf den Müllkippen ein wichtiges Wählerpotential. Wer es sich mit den Bossen verscherzt, muss bei der nächsten Wahl Gegenstimmen fürchten.

Müll sammeln für das Studium

Zahlreiche „pepenadores“ wohnen auf den Deponien, in einfachen Unterkünften aus Pappe und Holz. Offiziell ist das verboten, aber viele der Arbeiter*innen haben kein Geld für eine andere Unterkunft. Einige haben in den garagenähnlichen Sozialwohnungen Platz gefunden, die mancherorts auf geschlossenen Halden gebaut wurden. Die 16-jährige Cristina Leon Olvera wohnt in einer dieser Anlagen. Sie fährt mit ihrer Schwester jeden Tag mit dem Bus zur Arbeit. „Eigentlich wollte ich nie auf einer Deponie arbeiten wie meine Mutter“, erzählt die junge Frau, den Gazesack mit PET-Flaschen in einer Hand, während sie sich mit der anderen den Staub von der Stirn wischt. „Aber am Ende war es der einzige Job, den ich gefunden habe, und jetzt versuche ich, ein bisschen zu sparen, um zu studieren.“ Das Fach ist ihr völlig egal. „Hauptsache eine kurze Studienzeit, damit ich mir den Spaß auch leisten kann“, sagt sie und lacht.

In zwei Jahren soll die Müllkippe „Neza II“ geschlossen werden. Wie viele der Arbeiter*innen dann tatsächlich in der nahen Recyclinganlage einen Job finden, ist ungewiss. Doch jetzt ist keine Zeit, darüber zu spekulieren. Das nächste Müllauto kippt bereits wieder unzählige Plastikbeutel ab. Papier und Zellophanfetzen wirbeln durch die Luft. Ein Flugzeug donnert im Steigflug über die Deponie. Niemand schaut auf, alle sind längst wieder in einer Staubwolke verschwunden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: welt-sichten, Nr. 4/2008 zum Thema “Müllprobleme”, www.welt-sichten.org/

(hierzu gibt es auch einen Audiobeitrag: “Mexiko – Von Müll und Menschen” des Autors im Rahmen der Kampagne “Knappe Ressourcen? – Gemeinsame Verantwortung!” des NPLA mit der URL: http://www.npla.de/onda/content.php?id=916)

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