Dem Fortschrittsmärchen die Show stehlen

von Nils Brock

(Berlin, 07. September 2015, npl).- Im peruanischen Regenwald, nahe der brasilianisch-kolumbianischen Grenze, wird derzeit der Widerstand geprobt. In der Hauptrolle: die Cocama-Indigenas, die sich gegen die zunehmende Kanalisierung des Marañon-Flusses im Rahmen des Infrastrukturprojekts IIRSA zur Wehr setzen. IIRSA, das ist ein markliberaler Masterplan, um die Infrastruktur Südamerikas für Extraktivismus und Monokultur zu optimieren. Gegenstimmen finden oft kein Gehör. Die Cocamas werfen deshalb verstärkt ihr kulturelles Kapital in die Waagschale – eine interessante, aber auch erfolgreiche Idee?

Der Marktstand von Ana Paredes ist der ideale Ort um den Tag mit einer Nudelsuppe zu beginnen. Eigentlich serviert sie ihre Spezialität in der Markthalle der peruanischen Provinzstadt Nauta. Eigentlich, denn vor drei Wochen ist der Marañon über die Ufer getreten, der nördliche Quellfluss des Amazonas. Wegen der Überschwemmung muss Paredes ihre Suppe nun auf einem Behelfstisch in der Calle Junín anbieten. „Die Markthalle am Ufer, in der wir verkaufen, ist für solche Situationen nicht ausgelegt“, stellt die Frau klar, während sie ihren Schöpflöffel schwingt. Auf der Straße zu verkaufen sei jedoch nur eine Notlösung. „Eine richtige Lösung, das wäre ein neuer Markt.“

IIRSA – oder die Fortschreibung eines fehlgeleiteten Entwicklungs-Paradigma

Doch dafür sei kein Geld da, heißt es im Rathaus. Dabei hat die Stadtverwaltung im vergangenen Jahr den Großteil der urbanen Flussränder parzelliert und gewinnbringend verkauft. Denn das Ufer des Marañons ist ein begehrtes Spekulationsobjekt geworden. Der Grund dafür: IIRSA, die “Initiative für die Integration der regionalen Infrastruktur Südamerikas”. Offiziell ins Leben gerufen wurde dieser Masterplan zum Straßen- und Eisenbahn bauen, Kraftwerke errichten, Flüsse ausbaggern und Strommasten setzen im Jahr 2000. Doch der marktliberale Entwicklungs-Eifer in der Amazonasregion reicht noch viel weiter zurück. In Peru beispielsweise begann die Regierung bereits in den 1960er Jahren mit dem Bau einer großen Fernverkehrsstraße, der Marginal, die tief in die Amazonasregion führt. „Der peruanische Staat, aber auch weite Teile der Zivilgesellschaft, haben den Amazonas immer als ein Gebiet verstanden, dass nur darauf wartet, wirtschaftlich ausgebeutet zu werden“, meint der Anthropologe Ladislau Landa. „Doch die Kolonisierung schlug völlig fehl. Konflikte mit der indigenen Bevölkerung brachen aus. Es kam zu einer Übernutzung der Böden, die eben nicht für eine intensive Landwirtschaft gemacht sind. Das Entwicklungs-Paradigma versagte gründlich und doch schreibt es sich bis heute fort.

Doch was hat die Provinzstadt Nauta mit diesen Entwicklungsplänen zu tun? Ziemlich viel, wie Leonardo Tello Imaina, Leiter des örtlichen Community Radios Ucamara vor dreieinhalb Jahren herausfand. „Hier in unserem Gebiet soll der Fluss in eine Wasserstraße für große Schiffe umgewandelt werden, die vom Atlantik her, über Manaus den Amazonas hochfahren würden,“ sagt der Mittvierziger. Dann erklärt er wie das IIRSA-Vorhaben den schwankenden Wasserspiegel des Marañons in den Griff bekommen will, um den Fluss ganzjährig schiffbar zu machen. „Vorgesehen ist ein permanenter, 30 Meter breiter Kanal in der Flussmitte. Das macht uns Sorge. Denn die Veränderungen des Flussbetts werden unter anderem dazu führen, dass in 10-15 Jahren die Ufer wegbrechen.“ Die Bewohner*innen wären gezwungen, wegzuziehen.

Kultureller Widerstand gegen Ressourcenplünderung und Monokultur

Es waren Cocama-Indigenas, die Nauta im Jahr 1830 gründeten und es sind vor allem Cocamas, die sich nun gegen ihre Vertreibung wehren. Radiomacher Tello ist einer von ihnen und hat nichts unversucht gelassen, die Bagger zu stoppen. Er recherchierte, dass Peru im Jahr 1994 die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO unterzeichnet hatte, die Indigenen unter anderem das Recht einräumt, befragt zu werden, bevor auf ihrem Land Projekte realisiert werden. „Die aktuelle Regierung setzte dieses Gesetz schließlich auch in Kraft“, bestätigt Antropologe Landa. „Doch noch immer üben Öl- und Bergbauindustrie starken Druck aus, um wirkliche Verhandlungen mit den indigenen Völkern zu verhindern.“

Was dem entgegensetzen? Tello und seine Kolleg*innen von Radio Ucamara glauben, dass die Cocama nur eine Chance haben, sich gegen den Zeitgeist rücksichtsloser Ressourcenplünderung und Monokultur zu wehren: Sie sollten sich auf ihre Kultur und ihre spirituelle Beziehung zum Marañon-Fluss besinnen. „Für uns ist der Fluss nicht einfach ein Kanal aus dem wir Fisch und andere Ressourcen rausholen. Es gibt bei uns immer noch Schamanen, die mit Hilfe der Flussgeister heilen“ sagt Tello. Und diese Geschöpfe leben nach Vorstellung der Cocama unter eben jenen Sandbänken und Untiefen, die großen Container-Schiffen im Weg sind. Wird dort gebaggert, ist sich der indigene Radiomacher sicher, „dann wird den Schamanen auch die Möglichkeit genommen, die Geister als Beschützer der Gesundheit, des Lebens und der Gemeinschaft der Cocama anzurufen.“

Radio Ucamara als Sprachrohr einer indigenen Bewegung

Überzeugende Argumente. Aber werden sie reichen, ein Megaprojekt kontinentalen Ausmaßes zu verhindern? Zumindest Anthropologe Landa, der in den vergangen Jahren viele indigene Kämpfe begleitet hat, bleibt skeptisch. „Den Widerstand auf kulturelle Füße zu stellen, erfordert viel Geschick, macht es notwendig, neue Beziehungen zu knüpfen, sich medial und in der Öffentlichkeit unheimlich aktiv kundzutun,“ sagt Landa und verweist darauf, wie wenig informiert die Bevölkerung in den Städten und auf dem Land immer noch sei. Rádio Ucamara stellt sich diesem Problem und zwar nicht nur mit kritischen Nachrichten und Debatten, sondern auch mit Cocama-Sprachkursen und einem Programm in dem die Geschichten von Geistern wie dem Tuyumáma wiederbelebt werden.

Die 66-Jährige Doña Julia ist eine der Frauen, die sich als Moderatorinnen für diese Sendungen gewinnen lassen hat. Ihr Onkel war Schamane und als Kind begleitete sie ihn oft, wenn er Krankenbesuche machte. „Er rief dann die Bewohner der Unterwasserstädte zur Heilung herbei“ erinnert sich Frau und zieht ihren Mund zu einem runzligen Lächeln zusammen. „Ich hatte immer viel Angst, versteckte mich hinter meiner Mutter. Und dann hörten wir sie draußen, wie sie mit all ihrem Gewicht auf der Veranda polterten und mit ihren Schnäbeln gegen die Wände klopften.“

Es sind solche Geschichten, die allen Zweifler*innen zum Trotz inzwischen ein wirkmächtiges Element im juristischen Kampf der Cocama geworden sind. Sie ermöglichen es, den Fluss nicht nur als Ressource zu verteidigen, sondern auch seine Geister zu beschwören, als unberührbares Kulturerbe der Cocama. Vor zwei Monaten trugen sie ihren Teil zu einem Etappensieg bei: Eine einstweilige Verfügung stoppte bis auf Weiteres die Flussbagger. Doch IIRSA ist noch lange nicht gestoppt. Und so nutzen die Cocama die Verschnaufpause, um sich auf die kommenden Konfrontationen vorzubereiten. Im Fall von Doña Julia und Leonardo Tello heißt das vor allem eines: weiter Radio zu machen. Denn mit dem Radio zu arbeiten sei eben ganz wichtig. „Nur so können wir in der Bevölkerung eine gemeinsame Basis aufbauen, die immer noch ein bisschen fehlt. Und wir werden diese Macht nutzten, um damit verantwortungsvoll neue kommunikative Räume zu öffnen“, verspricht Tello.

Dieser Artikel ist Teil unseres diesjährigen Themenschwerpunkts:

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