Das unsichtbare Lateinamerika

Von Alfredo Serrano Mancilla*

(Mexiko-Stadt, 12. August, la jornada-poonal).- Temer bleibt der Präsident Brasiliens, ohne jemals eine Stimme an einer Wahlurne gewonnen zu haben. Macri, auch bekannt durch „Panama Papers“, lässt zu, dass Milagro Salas als politischer Gefangener in einem argentinischen Gefängnis sitzt. Santos ist in den Skandal um das Unternehmen Odebrecht verwickelt, da er für seine Präsidentschaftskampagne in Kolumbien im Jahr 2014 eine Million US-Dollar erhalten haben soll. Was Peña Nieto betrifft, so wurden während seiner Amtsführung 36 Journalist*innen in Mexiko umgebracht, weil sie ihrer Arbeit nachgegangen sind, zu informieren. Im vergangenen Jahr regierte Kuczynski Peru mit 112 Dekreten und vermied es so, die Legislative einschalten zu müssen.

Schmutzige Machenschaften und keine Erklärungsnöte

All das scheint jedoch nicht wichtig. Das einzige Land, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist Venezuela. Brasilien, Argentinien, Kolumbien, Mexiko und Peru werden von den schmutzigen Machenschaften, die in ihren Demokratien vor sich gehen, freigesprochen durch diejenigen, die sich ‚Internationale Gemeinschaft‘ nennen. Die konservative Achse scheint davon befreit, Erklärungen abzugeben angesichts fehlender Wahlen, politischer Verfolgung, Korruptionsskandalen, fehlender Pressefreiheit oder der Verletzung der Gewaltenteilung. Sie können tun, was sie wollen, weil nichts an das Licht der Öffentlichkeit gelangt. Alles wird komplett von den großen Medien unter der Oberfläche gehalten und auch von vielen internationalen Organisationen, die sich selbst zu „Hütern der Anderen“ ernennen. Und sie können auch handeln, ohne irgendeinem internationalen finanziellen Druck unterworfen zu sein – ganz im Gegenteil.

In diesen Ländern hat die Demokratie zu viele Risse, um Lehren nach außen zu erteilen. Das Konzept der niedrigen demokratischen Intensität erlaubt es ihnen, all ihre Fehltritte zu normalisieren, ohne dass die Notwendigkeit bestünde, viele Erklärungen abzugeben. Und in den meisten Fällen wird dieser Prozess begleitet von der Zustimmung und Propaganda bestimmter geheimnisvoller Messgrößen, von denen wir nicht einmal wissen, wie sie zustande gekommen sind.

Eines der besten Beispiele ist die Einschätzung des “angesehenen”, Nachrichtendienstes der britischen Wochenzeitschrift “The Economist”, der seinen “Demokratie-Index” auf der Basis von Antworten entsprechender “Expertenbewertungen” erhält, ohne dass der Bericht selbst Details oder präzise Angaben darüber macht. So beschränkt sich die Demokratie auf eine “Black Box”, in der diejenigen gewinnen, die über die größte Medienmacht verfügen.

„Unsichtbarkeit“ darf keine Entschuldigung sein

Aber das ist noch nicht alles: Dieser konservative Block ist genauso wenig geeignet, sich mit Demokratie im Wirtschaftssektor zu brüsten. Es kann keine wirkliche Demokratie in Ländern geben, in denen so viele Menschen davon ausgeschlossen werden ihre sozialen Grundrechte in Anspruch zu nehmen, um ein würdiges Leben zu führen. In Kolumbien gibt es mehr als acht Millionen Menschen, die in Armut leben, in Peru mehr als 6,5 Millionen, in Mexiko mehr als 55 Millionen. In der Ära ‚Macri‘ sind mehr als 1,5 Millionen hinzugekommen und seit der Amtsführung von Temer leiden ungefähr 3,5 Millionen Menschen mehr unter Armut. Eigenartig daran ist, dass die „Anpassungen“ dieser Regierungen zu Ungunsten der Bevölkerung ihnen auch nicht dabei helfen, effiziente wirtschaftliche Modelle vorweisen zu können. Die Wirtschaften aller Länder stagnieren – und das ohne Aussicht auf Erholung.

Dieses unsichtbar gemachte Lateinamerika darf uns nicht als Entschuldigung dafür dienen, uns nicht um die mit diesen Veränderungsprozessen einhergehenden Herausforderungen zu kümmern. Nochmals: in dieser Zeit der großen geopolitischen Dynamiken müssen wir dafür sorgen, dass das Unsichtbare nicht zum Synonym wird für ’nicht existent‘. Dieses andere, gescheiterte Lateinamerika muss aufgedeckt und seine Probleme thematisiert werden.

*Leiter der CELAG

CC BY-SA 4.0 Das unsichtbare Lateinamerika von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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