“Das Recht auf Stadt” zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Das sonntägliche Mittagessen findet bei Familie Passos traditionell vor dem Fernseher statt. Auf dem Couchtisch ihres Häuschens an der Lagune von Jacarepaguá am westlichen Stadtrand von Rio de Janeiro drängen sich Reis, schwarze Bohnen und Gegrilltes.

Auf dem Flatscreen läuft Fußball. Da überlässt Inacia Passos ihrem Mann und Sohn nur zu gern die Fernbedienung, betätigt sich ein bisschen in ihrem Vorgarten und genießt die seltene Stille. „In der Woche hörst du den ganzen Tag Lärm von der Großbaustelle da drüben“, sagt Passos. „Meine Nachbarin kann schon nicht mehr schlafen. Ich denke, es sollte mal jemand von der Stadt kommen, um den Krach zu messen, nicht wahr.“

Von der Formel-1-Strecke zum Jachthafen

Richtig laut wurde es im Stadtviertel Vila Autódromo früher nur, wenn auf der nahen Rennstrecke Nelson Piquet Formel-1-Boliden unterwegs waren. Heute baut man auf dem Areal an einer Zwischennutzung für die Olympischen Spiele 2016. Die Zukunft aber, das sind schicke Apartmentblocks mit Blick in eine nachhaltige Lagunenlandschaft samt Jachthafen. Die Stadtverwaltung wollte die 300 Familien von Vila Autódromo deshalb schon im letzten Jahr umsiedeln. Doch da sich viele Bewohner*innen wehren, ist die Räumung ins Stocken geraten.

Die Abrissbirne hat bereits viele Lücken geschlagen. „Hier wohnten unsere Nachbarn, die mochte ich sehr gerne. Aber das Haus ist weg, alle sind gegangen“, erzählt Passos bei einem Streifzug durch ihr Viertel und kommentiert bitter die Baulücken: „Schaut doch, wie die Stadtverwaltung die Gemeinde hinterlässt, sie machen einfach weiter mit der Zerstörung, mittendrin in unserem Alltag.“

Doch mürbe machen lässt sich Passos von den Schutthaufen nicht. Auch der Masseur Delton de Oliveira, der ein paar Häuser weiter wohnt, denkt nicht ans Wegziehen. Gerade bringt er einigen Jugendlichen bei, ihre Fahrräder zu reparieren. Alles Selbermachen, das wurde hier in Vila Autódromo immer schon groß geschrieben. Vor zwei Jahren entwickelten die Nachbarn beispielsweise einen eigenen Urbanisierungsplan.

Von der Deutschen Bank gab es dafür einen renommierten Preis, von der Stadtverwaltung erneut eine Absage. Doch das Argument, die Siedlung verhindere die Sanierung der Lagune, lässt Oliveira nicht gelten. „Sie wollen einen freien Zugang zur Lagune? Bitteschön, unser Projekt ist da flexibel. Wir können Platz am Ufer schaffen und die Menschen innerhalb des Viertels umsiedeln“, meint er. Freie Flächen gäbe es schließlich genug, niemand müsse wegziehen.

Ersatzwohnungen für Umzugswillige

Im städtischen Wohnungsdezernat herrscht derweil Ratlosigkeit. Wie mit denen verfahren, die nicht gehen wollen? Eine Zwangsräumung komme jedenfalls nicht in Frage, sagt Ana Cristina Diegues, Leiterin der Abteilung Wohnungsbeschaffung. „Niemand wird von uns zum Umzug gezwungen. Die Stadtverwaltung setzt da auf andere Modalitäten“, versichert sie. Außerdem biete die Stadtverwaltung Entschädigungen oder eine Wiederansiedlung im Rahmen des staatlichen Wohungsprogramms „Mein Haus, mein Leben“ an.

Nur einen Kilometer von Vila Autódromo entfernt kann man sich davon ein Bild machen. Dort hat die Stadtverwaltung zwischen grünen Hügeln die Modellsiedlung Parque Carioca geschaffen. Vor dem Gemeinschaftsschwimmbad stehen an diesem Nachmittag Jugendliche Schlange. Etwas weiter hat es sich Rosilane das Dores auf einem Spielplatz zum Stillen bequem gemacht. Nein, sie wollte eigentlich nicht aus Vila Autódromo ausziehen, aber ihr Haus dort sei in einem schlechten Zustand gewesen: „Wir hatten ständig feuchte Wände, kein Ort um ein Baby aufzuziehen“, meint die junge Frau. „Als sie mich und meinen Mann fragten, ob wir nicht tauschen wollten, mit einem Apartment hier, sagten wir ja.“ Ihre neue Wohnung hat zwei Zimmer, Küche, Bad, keinen Schimmel. Gleich um die Ecke gibt es einen Supermarkt und einen Kindergarten.

Recht auf Stadt – mehr als nur Sozialwohnungen

Tatsächlich hat Brasilien im Jahr 2009 mit “Mein Haus, mein Leben” ein ambitioniertes Sozialbauprogramm initiiert. Allein in Rio de Janeiro sind dutzende Wohnprojekte entstanden, die zusammengenommen eine Kleinstadt bilden würden. Doch ist damit auch das Recht auf Stadt erfüllt?

„Nein“ sagt der Rechtsanwalt Benedito Roberto Barbosa aus Sao Paulo, der seit Jahren die Recht-auf-Stadt-Bewegung unterstützt. „Damit das Programm Minha Casa Minha Vida unseren Forderungen nach dem Recht auf die Stadt nachkommt, muss es auf die diversen Lebenssituationen der Menschen eingehen, meint Barbosa. „Und das geht nur, wenn sie nicht an die Peripherie gedrängt werden, wo es so etwas wie „Stadt“ gar nicht gibt.“ Außerdem fehle in der Bevölkerung vielfach der soziale Zusammenhalt, aber auch architektonisches und juristisches Wissen, um sich aktiv in die Planung einzubringen.

Diese Beteiligung sei ein entscheidender Faktor, um die Verdrängung der ärmeren Bevölkerung zu verhindern, findet auch die Stadtforscherin Irene Mello. Zwar garantiere Brasilien das Recht auf Stadt in der Verfassung. Doch die konkrete Umsetzung sei problematisch, eine kollektive Wohnpraxis ist nicht gewollt. Vila Autódromo, wo die Anwohnerorganisation zunächst eine verschworene Gruppe bildete, zeige dies nur all zu deutlich.

„Denn die Stadtverwaltung verfolgte von Anfang an die Strategie, die Wohnfrage zu individualisieren und einen nach dem anderen zum Umzug zu bewegen“, kritisiert Mello. „Aber es gibt eben immer noch eine Gruppe, die sich wehrt.“

Und dieser Gruppe stand Ende 2014 ein wichtiger Termin bevor. Eine Delegation des Oberlandesgerichts hatte sich angekündigt um Fakten zu präsentieren: Wann wird wer wohin umgesiedelt. Dafür will die Stadtverwaltung nun insgesamt über sieben Millionen Euro Entschädigungen auszahlen. Vor allem Bewohner*innen deren Grundstücke direkt am Seeufer gelegen sind, haben sich auf diesen Deal eingelassen. Doch viele Nachbar*innen haben auch diesen Vorschlag ausgeschlagen und wollen falls nötig bald wieder Protestaktionen organisieren.

„Meine Stadt ist, wo ich jetzt lebe“, sagt Inacia und fügt hinzu: “Wir sind es, die unser Recht einfordern müssen, verstehst du, wir haben ein Recht auf Land, ein Recht auf Wohnraum. Und genaue darum kämpft Vila Autódromo. Und wir werden das Recht bekommen, hier zu bleiben.“

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