Das Leben als Leihgabe

von Lydia Cacho

(Mexiko-Stadt, 02. August 2010, cimac).- [Artikel aus der Reihe Plan B]*

Immer häufiger werden Journalist*innen Opfer von Morden und Entführungen. Der großartige Journalist Miguel Ángel Granados Chapa hat eine präzise Analyse über dieses Problem veröffentlicht. Sein Fazit: Wenn wir uns nicht mit den Betroffenen solidarisieren, verkommen unser Leben und unsere Freiheit zu einer Leihgabe. Ich würde sagen, fast 100 Millionen Mexikaner*innen leben täglich mit dem Gefühl, dass heute der letzte Tag ihres Lebens sein und allein schon den Mund aufzumachen den Tod bringen könnte.

An die 100 Personen, so erzählte man mir, wurden allein in Cuencamé, im Bundesstaat Durango, von Mitgliedern der Drogenmafia entführt, um diese Menschen dann wie Sklaven auf Feldern arbeiten zu lassen, sie in der Buchhaltung oder als Fahrer auszubeuten. Ihren Familien bleibt nur die Angst, die sie tagtäglich aufs Neue heimsucht. In Chihuahua wünschen sich Tausende von Menschen, der Gewalt zu entfliehen, doch haben sie nicht die Möglichkeit, sich einen anderen Wohnort zu suchen.

Millionen Menschen sind nicht in der Lage, ihre Kinder zu ernähren. Menschen aus den Gemeinden im Bundesstaat Sinaloa hoffen inständig, dass ihre Kinder sich nicht die ortsansässigen Killerbanden zum Vorbild nehmen. Allabendlich schließen Besitzer*innen von Kleinbetrieben in Laredo und Tijuana ihre Geschäfte mit der Angst, dass sie in der Nacht von brutalen Schutzgelderpressern geweckt werden könnten, die behaupten werden, sie hätten ihren Anteil nicht erhalten.

In Michoacán durchsuchen Mütter die Schultaschen ihrer Kinder, um sicherzugehen, dass ihnen niemand Haschisch oder Extasy verkauft hat. In Tlaxcala und Puebla habe ich mehrere Tage lang Gespräche mit indigenen Frauen geführt, die mir wieder und wieder von ihrer ständigen Angst erzählten, dass irgendein Zuhälter ihre 12- oder 13-jährigen Töchter entführt und sie an die Mädchenhändlerringe in New York oder in La Línea in Mexikos Hauptstadtdistrikt verkauft. Die Händler*innen des Großmarktes Central de Abastos würden gern zur Befreiung Hunderter Sklaven beitragen, die von den Menschenhändler*innen in den Lagerräumen versteckt gehalten werden, doch auch sie sind gelähmt von ihrer Angst.

An regnerischen Abenden kauern ungefähr 20 Straßenkinder, die von der häuslichen Gewalt auf die Straße getrieben worden sind, unter einer blauen Plastikplane. Sie sind abhängig vom Klebstoffschnüffeln und während sie ihre erbettelten Brötchen herunterschlingen sagen sie zu mir: „Wer weiß schon, ob wir morgen noch am Leben sind.“

Als würde das irgendetwas ändern, erheben im ganzen Land Tag für Tag zu jeder Stunde Männer und Frauen ihre Stimmen und fordern Gehör, fordern, dass ihre Geschichte anerkannt wird, dass ans Licht kommt, dass die Behörden korrupt und kriminell unterwandert sind und ihre Arbeit nicht tun. Sie wollen, dass bekannt wird, dass diese Situation die Ursache dafür ist, dass die Familie wegen einer Entführung, einer Vergewaltigung, einer geraubten Tochter, einem von den Drogenbanden angeworbenen Kind, einem drogenabhängigen Jugendlichen oder einem ermordeten Vater völlig zerrüttet werden kann. Denn es gibt keine Schulen für ihre Kinder, keine Medizin für die Großeltern und keine angemessenen Behandlungen für psychisch Kranke.

Wir Journalist*innen und Fotograf*innen gehen hinaus um zuzuhören, das wahre Leben zu dokumentieren. Mit ungebrochenem Optimismus glauben wir daran, dass unsere – im Allgemeinen schlecht bezahlte – Arbeit dazu beitragen kann, dass sich Meinungen bilden, Menschen mobilisiert werden, dass sie Mitleid und Zorn fühlen und, dass unser Tun im besten Fall Reaktionen auslöst, die in unserem Land und in unserer Gesellschaft etwas bewegen, auf dass der Ungerechtigkeit ein Ende gesetzt wird, auf dass die Entführten gefunden, die Familien wieder vereint und die Bestechlichen bestraft werden. Auf dass unsere Töchter nach Hause zurückkehren. Um es kurz sagen: auf dass sich die Verhältnisse ändern.

Aus diesem Grund veranlassen Politiker*innen, Polizist*innen und Kriminelle immer wieder, dass wir entführt, eingeschüchtert und getötet werden oder einfach „verschwinden“. Nein, wir sind nichts Besonderes, und das müssen wir auch nicht sein, doch unsere Arbeit steht im Dienst der Gesellschaft. Sie wollen uns zum Schweigen bringen, weil sie die Stimme des Volkes zum Schweigen bringen wollen. Sie wollen die Berichterstattung kontrollieren, um die öffentliche Meinung manipulieren zu können. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein gesellschaftliches Gut. Wer die Überbringer*innen von Informationen umbringt, tötet auch die Nachricht.

* Die Kolumne Plan B erscheint montags und donnerstags in CIMAC, El Universal und mehreren mexikanischen Tageszeitungen. Der Name „Plan B“ steht für die Überzeugung, dass immer auch eine andere Sichtweise der Dinge existiert, dass immer auch Faktoren Einfluss nehmen, die im traditionellen Diskurs, dem „Plan A“, nicht berücksichtigt werden.

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