Das Gute an dieser WM

von Andreas Behn

(Berlin, 07. Juni 2014, taz).- Verpasste Chance? Alles falsch gemacht? Brasilien auf dem absteigenden Ast? Dort wie hier ist täglich zu lesen, dass der Fußball-WM ein Fiasko droht, dass Gewalt und Proteste das Szenario bestimmen, dass Misswirtschaft und Planungsmängel die Fußballbegeisterung der Brasilianer*innen ersticken. Die Wirklichkeit ist etwas komplexer. Das mediale Bild ist bereits verzerrt, es erfasst nur einen Teil der Problemursachen und verdeckt den Blick auf überraschende Errungenschaften. Protest und Fußballfieber werden zu unrecht gegeneinander ausgespielt und völlig vergessen, das die WM2014 bestimmt die Politischste in der bisherigen Fußballgeschichte wird.

Eine „verpasste Chance“ setzt voraus, dass diese Chance überhaupt bestand. Doch schon die Massenproteste im vergangenen Juni haben deutlich gemacht, dass ein Mega-Event nach Fifa-Kriterien keine Chancen beinhaltet. Stadien ohne Stehplätze, die die lokalen Fankultur missachten, Verkehrstrassen, die Flughäfen mit Sportstätten verbinden, und aufpolierte Stadtzentren, damit die Reichen dort flanieren können, gehen immer zu Lasten der Bevölkerung. Sogar das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) belegte soeben in einer Studie, dass jedes internationale Sportspektakel für das Gastgeberland unterm Strich immer ein Verlustgeschäft ist.

Den Aktivisten sei Dank

Dieser Missstand ist also weder neu noch brasilianisch. Doch jetzt ist er in aller Munde. Nicht nur die Sportwelt kann sich dafür schon mal bedanken, sowohl bei den Aktivist*innen, die die urbanen Verfehlungen akribisch auflisten, wie auch bei den Vermummten hinter brennenden Barrikaden, die nicht 2010 in Südafrika und auch nicht 2006 in Deutschland, sondern erst jetzt in Brasilien den Unmut in die Presse gebracht und dafür gesorgt haben, dass Fifa und IOC demokratische Länder in Zukunft meiden werden. Es ist gut so, dass es 2014 keine Sportberichterstattung ohne Hintergründe zu den politischen und sozialen Zerwürfnissen geben wird.

Die Empörung beschränkt sich nicht auf die selbstherrlichen Sportverbände. Das eigentliche Problem sei nicht die Fifa, sondern die Regierung, die die dreisten Fifa-Bedingungen akzeptierte und sogar noch in ein verfassungswidriges WM-Gesetz goss, beharren die Kritiker*innen vom Comitê Popular da Copa. Zumal eine linke Regierung, mit Persönlichkeiten wie dem Ex-Gewerkschafter Lula und heute mit der Ex-Guerillera Dilma Rousseff an der Spitze.

Einige streichen riesige Gewinne ein

Mangelnde Voraussicht und Naivität der Strateg*innen einer Regionalmacht, die seit über zehn Jahren Garanten eines einzigartigen Linksrutsches in halb Lateinamerika sind, erklären die gemachten Fehler nicht. In einem Anflug von Größenwahn des neuen Global Players wurden Milliarden für Stadien und fragwürdige Verkehrsprojekte verschwendet. Statt die Interessen ihrer Klientel, der verarmten Bevölkerungsmehrheit zu wahren, wurden Tausende Menschen aus Favelas vertrieben, während ein Monopol von korrupten Bauunternehmen Heidengewinne einstreicht, die durch die Verzögerungen sogar noch gesteigert werden konnten. Auf die Proteste der eigenen Basis reagiert Rousseff mit einem gewaltigen Polizeiaufgebot, das Demonstrationsrecht wird de facto in Frage gestellt.

Schon lange verfolgt Rousseff in vielen Bereichen keine fortschrittliche Politik. Die Modernisierung des Landes setzt auf industrielle Landwirtschaft, rücksichtslose Ausbeutung der Rohstoffe und die Neuordnung urbaner Räume in Einklang mit Individualverkehr und Immobilienspekulation. Doch die Frage nach der Verantwortung für die vielzitierten Pannen bei Planung und Durchführung der WM-Vorbereitungen bedarf einer Differenzierung: Trotz seines Präsidialsystems ist Brasilien ein föderales Land, und zahlreiche Verfehlungen gehen auf das Konto der betreffenden Bundesstaaten, die von teils extrem korrupten Politiker*innen regiert werden. Auch Bildung, Gesundheit und öffentlicher Nahverkehr, die Hauptanliegen der großen Demonstrationen, werden in erster Linie auf Landes- oder lokaler Ebene verwaltet, ohne dass die Bundesregierung großen Einfluss nehmen kann. Die Demonstrant*innen waren sich dessen durchaus bewusst und prangerten während des Confed-Cups in erster Linie die lokalen Regierungen an, in Rio de Janeiro Gouverneur Sergio Cabral und in São Paulo Geraldo Alckmin. Erst als es den durchweg rechten Medien gelang, den Massenprotest zu beeinflussen und als pauschale Kritik gegen „korrupte Politiker“ und „Misswirtschaft“ zu deuten, verschwamm die vormals deutliche Stellungnahme.

Zwar gehören zahlreiche Lokalregenten wie Cabral in Rio zu den Koalitionspartnern der regierenden Arbeiterpartei PT. Doch viele dieser Allianzen beruhen nicht auf politischem Konsens, sondern sind dem Parteiensystem geschuldet. Ohne rechte Partner wie die evangelikale PR oder die korrupte PMDB hätte Rousseff im Bund keine Mehrheiten. Um Koalitionskrisen zu vermeiden, muss die PT viel Macht an diese fragwürdigen Partner abgeben und kann ihnen – und ihren finanziellen wie politischen Interessen – in den Bundesstaaten und schon gar nicht in den WM-Austragungsorten hineinreden.

PT ist Teil des von ihr kritisierten Systems

Fraglos ist die PT schon längst Teil dieses politischen Systems geworden und hält sich mit den gleichen Methoden an der Macht, die sie früher vehement geißelte. Doch sie hat es nicht erfunden, es bestand auch schon lange vor WM. Als Rousseff im vergangenen Juli endlich auf die Proteste reagierte, machte sie den richtungsweisenden Vorschlag, das politisches System zu reformieren und es dann per Plebiszit zu legitimieren. Schadenfreudig johlte die Presse, als die Politikerkaste im breiten Konsens zwischen Oppositions- und Koalitionsparteien dem Vorstoß sofort die rote Karte zeigte. Gut bleibt dennoch, dass diese WM – unfreiwillig – all diese Themen auf den Tisch gelegt hat.

Der nationale wie internationale Pessimismus im Vorfeld der Weltmeisterschaft geht allerdings weit über die Planungsfehler bei den Vorbereitungen hinaus. Zum vorhergesagten Chaos auf den Straßen kommt die galoppierende Inflation hinzu, das mickrige Wirtschaftswachstum, das Defizit der Handelsbilanz, das sinkende Vertrauen der Märkte, ja der unaufhaltsame Abstieg des Wirtschaftswunderlands Brasilien. Der Zweckpessimismus geht so weit, dass ein Börsenaufschwung am gleichen Tag, an dem Rousseff in einer Wahlumfrage absackte, in der Wirtschaftspresse als Hoffnung der weltweiten Investor*innen auf einen Regierungswechsel bei der Wahl im Oktober interpretiert wurde.

Nach dem Abpfiff beginnt der Wahlkampf

Die negativen Zahlen stimmen, aber sie sind unvollständig und die Interpretation fragwürdig. Die Flucht der Investor*innen aus Brasilien ist nicht nur hausgemacht, sondern liegt vor allem am angekündigten Ende der lockeren Geldpolitik der US-Zentralbank und an der sinkenden Nachfrage nach Rohstoffen. Die Wirtschaft stockt, aber die (offizielle) Arbeitslosigkeit ist immer noch auf einem historischen Tiefststand. Das Wachstum ist geringer als in China oder Indien, aber in Brasilien wird die soziale Sicherung weiter ausgebaut. Just die langfristigen Wirtschaftserfolge der PT-Regierung, die auch in Sozialleistungen flossen und damit auch die Inlandsnachfrage ankurbelten, sind der Grund dafür, dass Rousseff immer noch doppelt so gute Umfragewerte hat wie der rechte Oppositionsführer Aécio Neves.

Überraschend unpatriotisch macht die Opposition die WM zum Wahlkampfthema, ganz nach dem Motto „je schlechter des besser“. Neves bringt es auf den Punkt: „Verantwortung trägt nur die Bundesregierung,“ sagte er letzte Woche, „das Vertrauen der Wirtschaft kommt erst bei einem Regierungswechsel zurück“ diese Woche. Zuletzt assistierte Ex-Stürmerstar Ronaldo: Er schäme sich für die WM-Pannen und werde Aécio Neves seine Stimme geben.

Es ist fraglich, ob die Rechnung der Rechten aufgehen wird. Denn für die PT beginnt der Wahlkampf erst nach Abpfiff der WM. Und immer mehr Brasilianer*innen ärgert das negative Image, dass ihr geliebtes Land in der Weltpresse bekommt. Genau wie vor Jahresfrist die jahrelangen Wohlstandversprechen auf den Demos eingefordert wurden, entspricht heute der angebliche Bankrott ihres Landes nicht der gelebten Realität. Denn die BrasilianeInnenr werden Fußball gucken, werden begeistert miteifern, sie werden die Gäste freudig empfangen, auch ohne offizielle Aufforderung dafür. Das gilt für die große Mehrheit, aber auch für viele Aktivist*innen. Täglicher Treffpunkt der Protestbewegung soll just das Public Viewing werden, mitten im Zentrum, ohne Genehmigung und ohne Fifa-Sponsor*innen. Es geht nicht gegen Fußball, es geht gegen die Auswirkungen dieser Art Sportspektakel. So wird diese WM auch zum Schauplatz politischer Auseinandersetzungen, und das ist gut so.

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