Brasilien und wir

von MP

(Montevideo, 21. Juni 2013, la diaria).- Es ist nicht einfach, den Prozess zu interpretieren, den Brasilien durchlebt – mit Massenprotesten der Bevölkerung, die mit einer Erhöhung der Preise für den städtischen Nahverkehr begannen, aber darüber hinaus sehr verschiedene Forderungen zum Ausdruck bringen.

 

Die Hypothese von der revoltierenden Mittelschicht

Eine der Hypothesen ist, dass, nach zehn Regierungsjahren unter der Führung der Arbeiterpartei, sich die ehemals sehr kleine Mittelschicht entwickelt und an Kraft gewonnen hat, und immer selbstbewusster und aktiver vorgeht, wenn es darum geht, ihre Rechte einzufordern. Einschließlich der Forderung, das Wort zu ergreifen und sich die Straßen zu nehmen, um ihre Unzufriedenheit auszudrücken und Veränderungen in der öffentlichen Politik zu fordern.

Dies stellt etwas vollkommen Neues im sozialpolitischen Szenario Brasiliens dar, das traditionell durch einen tiefen Graben gekennzeichnet ist, der die reichsten, illustren und politisierten Sektoren der Gesellschaft von den Massen trennte, denen es an allen möglichen Dingen mangelte und die im Allgemeinen davon überzeugt waren, dass für sie keinen Platz auf dem Gebiet der Entscheidungen vorgesehen sei und sie wenig oder gar nichts tun könnten, um ihre Situation zu verbessern. In anderen Worten: Die Veränderungen des letzten Jahrzehnts hätten demnach ein quantitatives und qualitatives Wachstum an Forderungen bewirkt, so dass es zu einer „Krise des Wachstums“ gekommen ist.

Die Arbeiterpartei und die Schaffung einer Zivilgesellschaft

Wenn an diesem Erklärungsversuch, der glaubhaft erscheint, obwohl er möglicherweise nicht ausreicht, um das Phänomen zu erklären, etwas Wahres ist, so ist es dies, dass diese Proteste, die der Präsidentin Dilma Rousseff das Leben schwer machen, gleichzeitig und auf paradoxe Weise, auch ein Triumph ihrer Partei sind, die sich seit Jahrzehnten zur Schaffung einer Zivilgesellschaft bekennt, als Schlüssel dafür, dass das enorme Potential Brasiliens genutzt werden kann und das Land zu einer Weltmacht und einem wirklich demokratischen Staat werden kann. Eine Transformation, die nicht zufällig mit der persönlichen Laufbahn des fast mythisch überhöhten Luiz Inácio Lula da Silva verbunden ist, einem Kind der Landarmut, das – durch Lebensstationen wie Schulen im urbanen Raum, die Industrie, die Gewerkschaften und den Kampf für Demokratie – zum Parteichef, zum Präsidenten und zu einer weltweiten Berühmtheit geworden ist.

Es gibt viele Unterschiede zwischen Brasilien und Uruguay und sie sind sehr tiefgehend, doch es ist interessant sich einmal zu fragen, ob die Jahre der Regierung der Frente Amplio etwas Ähnliches produziert haben. Ob vielleicht, zusätzlich zu den Ergebnissen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Aktivität und bei der Verbesserung diverser sozialer Indikatoren, auch ein Ambiente geschaffen wurde, das die Bildung einer kritischen Masse begünstigt, die in der Lage ist, aktiv das Fortschreiten des Landes in Richtung ambitionierter Ziele zu fordern und derartige Impulse zu setzen.

Uruguay: Kaum noch „Feuer“ in den Menschen

Es macht nicht den Eindruck, als ob dies geschehen wäre. Jene Plattformen, die gegenwärtig bestimmte Gruppen in der uruguayischen Zivilgesellschaft mobilisieren, bringen die Forderungen nach neuen Rechten auf einigen Gebieten ein, in anderen konzentrieren sie sich auf die Forderung nach besseren Arbeitbedingungen und höheren Löhnen, doch insgesamt sind sie, auf die eine oder andere Weise, dadurch gekennzeichnet, dass sie partikularistisch sind und weit entfernt davon, Massen zu mobilisieren.

Angesichts der zahlreichen Probleme werden weiterhin vor allem Haltungen an den Tag gelegt, die eine Nähe zur Resignation aufweisen und die wir weiterhin mit Verständigkeit und Gemeinsinn verwechseln. Es ist nicht schlecht, dass es hier nur wenige sind, die hinauswollen und „alles niederbrennen“, doch es ist auch nicht gut, dass das Feuer in den Menschen auszugehen droht.

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