Bolivien zwischen Zerfall und neuer Konstitution

von Thomas Guthmann

(Berlin, 10. Januar 2008, npl).- Anmerkung der Redaktion: Aus Anlass der Eskalation, die die rechte Opposition in Bolivien vorantreibt, dokumentiert Poonal diesen Artikel vom Januar 2008.

Der alte Toyota stottert über die holprige Sandpiste ins Tal hinunter. Auf der Rückfahrt von Inca Racay, einst ein Außenposten des riesigen Inkareiches und heute ein verfallener Steinhaufen, meint der junge Taxifahrer, die Autonomiebestrebungen des Departements Cochabamba würden nur in der Stadt Unterstützung finden. Auf dem Land sei niemand für die Politik des Präfekten Manfred Reyes Villa. Der hatte Cochabamba Mitte Dezember gegenüber der Zentralregierung in La Paz unter Evo Morales für autonom erklärt. Vier weitere Departements taten es ihm gleich.

Notfalls, so der junge Chauffeur, würden sie eben wieder in die Stadt gehen und gegen den Präfekten demonstrieren. Sie, das sind die Leute der Taxikooperative von Sipe Sipe, einem kleinen, verschlafenen Ort im Tal von Cochabamba. Im Januar vergangenen Jahres hatten sich die Taxifahrer gemeinsam mit den Kokabauern aus dem Chapare und anderen Campesinos schon einmal in die gleichnamige Hauptstadt des Departements aufgemacht, um gegen die Politik des Präfekten zu demonstrieren.

Reyes Villa ist einer der fünf lokalen Regierungschefs, die die wichtigste Front der bolivianischen Opposition bilden. Neben Cochabamba gehören dazu noch die Regierungen der Tiefland-Departements Tarija, Beni, Pando und Santa Cruz. Sie werden wegen ihrer Lage und politischen Ausrichtung auch als „Media Luna“, Halbmond, bezeichnet. Die Bürgerplattform Podemos der Provinzen des Media Luna, die in der zweiten Parlamentskammer, dem Senat, eine hauchdünne Mehrheit von einer Stimme hat, verfolgt ein gemeinsames Ziel: den Prozess des „Cambios“, des Wandels, den die Regierung Morales anstrebt, zu blockieren. Mit einer Mischung aus öffentlicher Panikmache, Autonomiebestrebungen und Gewaltakten hat die Opposition versucht, die Regierung in La Paz in Atem zu halten und die neue Verfassung zu torpedieren.

Trotzdem gelang es der Regierung, die Verfassung auszuarbeiten und am 15. Dezember mit den Stimmen der Regierungspartei MAS (Movimiento al Socialismo) und einiger kleinerer Gruppierungen zu verabschieden. Das war möglich, weil die meisten oppositionellen Abgeordneten die Verfassungsgebende Versammlung (AC) verlassen hatten. Nun muss die Vorlage noch in einer Volksabstimmung gebilligt werden. Als Antwort auf die neue Verfassung erklärten sich die Provinzen des „Media Luna“ noch am gleichen Tag für autonom und legten eigene Autonomiestatuten vor.

Im Zuge der Autonomieerklärungen kam es nicht nur zu einem heftigen Wortwechsel zwischen Regierung und Opposition, bei dem Evo Morales zur Rebellion im abtrünnigen Departement Santa Cruz aufrief, sondern auch zu weiteren gewalttätigen Zwischenfällen militanter Oppositionsgruppen. So explodierte unter anderem beim bolivianischen Dachverband der Gewerkschaften COB in La Paz eine Bombe. Doch der kurzzeitigen Spannung folgten wegen Weihnachten und Neujahr ruhigere Tage. Momentan stehen die Zeichen auf Dialog. Präsident Morales lud die Präfekten für den 7. Januar zu einem Dialog ein. Damit hat die MAS wieder die Initiative übernommen und entspricht der Stimmung in der Bevölkerung. Vielen stecken noch die Ereignisse vom 11. Januar 2007 in Cochabamba in der Knochen. Bei Protesten, die zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen der Mittel- und Oberklasse aus dem Stadtzentrum Cochabambas auf der einen und Campesinos auf der anderen Seite führten, kam es zu drei Todesfällen. Im November gab es in Sucre drei weitere Todesfälle, als Oppositionelle gegen die AC protestierten. Doch die Strategie der Spannung, die die Opposition durch militante Aktionen sucht, ist bisher verpufft. Die oppositionellen Präfekten haben deshalb das Gesprächsangebot von Evo Morales angenommen, auch wenn das Ergebnis schon feststehen dürfte: man wird sich nicht einigen.

Momentan sitzt die Opposition aber am kürzeren Hebel. Zwar droht sie durch die Autonomie mit einer Sezession, den Unabhängigkeitsbestrebungen fehlen allerdings sowohl die rechtlichen Grundlagen als auch die nötige Dynamik. Der momentane rechtliche Rahmen Boliviens lässt keinen Raum für Autonomiebestrebungen zu. Und die neue Verfassung, die so etwas vorsieht, wird von den Präfekten abgelehnt. Auch kurzzeitige Putschgerüchte zu Gunsten der Opposition wurden schnell von offiziellen Verlautbarungen der Militärspitze, dass das Militär einen Zerfall des Landes nicht dulden werde, entkräftet.

Durch die hohen Gas- und Ölpreise kann Präsident Morales zudem auf ein erfolgreiches Wirtschaftsjahr zurückblicken. Das zu zerreden, fällt sogar der oppositionellen Presse schwer. Der steigende Bedarf an Gas in Brasilien und Argentinien führt dazu, dass beide Länder sich hinter die Regierung Morales gestellt haben, weil sie in ihr einen Garanten für zuverlässige Gaslieferungen zu sehen scheinen. Brasilianische Ölfirmen kündigten für 2008 Investitionen in Höhe von einer Mrd. US-Dollar in Bolivien an und auch argentinische Firmen wollen investieren. Evo Morales konnte in der Woche nach dem 15. Dezember zudem einen weiteren Erfolg verbuchen: Gemeinsam mit der chilenischen Regierungschefin Bachelet und Brasiliens Präsident Lula da Silva, unterzeichnet er einen Vertrag über eine neue Verkehrsverbindung zwischen Atlantik und Pazifik, die von Brasilien über Bolivien nach Chile führen soll.

Das Gerede der Opposition, mit der Verstaatlichung der Energieressourcen würde ausländisches Kapital verschreckt, wurde damit ad absurdum geführt. Schon das Jahr 2007, so musste die oppositionelle Tageszeitung La Razón zugeben, brachte mit knapp einer Mrd. US-Dollar die höchste Investitionsquote im Gas- und Erdölsektor Boliviens.

Geld, das die Regierung Morales gut gebrauchen kann, gibt es ihr doch die Möglichkeit, populäre Programme wie eine allgemeine Rente zu verwirklichen. In diesem Jahr sollen alle Bolivianer ab 60, die keine Rente beziehen, vom Staat monatlich rund 200 Bolivianos (rund 20 Euro) erhalten. Das kommt bei den einfachen Leuten wie dem Taxifahrer von Sipe Sipe gut an – und die einfachen Leute stellen in Bolivien nun mal die Mehrheit.

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