Kein Platz für kleinbäuerliche Landwirtschaft und Agrarreform

(Berlin, 07. November 2012, poonal).- Ende September nahm Antonio Miranda von der brasilianischen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) am Forum „Für die Verteidigung des Lebens und des Territoriums“ (Por la defensa de la vida y territorio) in San Cristóbal de las Casas im mexikanischen Bundesstaat Chiapas teil. Der folgende Beitrag ist kein eigentliches Interview, sondern eine übersetzte Zusammenfassung seiner Beiträge und Antworten auf Fragen auf dem Forum, das die internationale Organisation der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, Via Campesina, organisiert hatte.

Wie sieht die Situation auf dem brasilianischen Land und in der Landwirtschaft heute aus?

In den vergangenen 20 Jahren hat es in der brasilianischen Landwirtschaft tief greifende Umwandlungen gegeben. Die Agroindustrie ist auf dem Vormarsch. Das Agrobusiness, die Beziehung von Industrie- und Finanzkapital mit der Landwirtschaft, transformiert die Situation auf dem Land. Es gibt dort eine zunehmende Konzentration auf fünf Exportprodukte: Soja, Mais, Zuckerrohr (für die Ethanolproduktion), Eukalyptus (für die Zellstoffgewinnung) und Erze. Dies verlangt große Landflächen. Dafür nahm das Agrobusiness früher Brachflächen und öffentliches Land in Beschlag. Heute beschränkt es sich nicht mehr darauf, sondern invadiert die Böden der Indígenas, der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, der Quilombolas (die Nachfahren der geflohenen schwarzafrikanischen Sklav*innen), der Fluss-Siedler*innen sowie die für eine Agrarreform vorgesehenen Gebiete. Es gibt einen Privatisierungsprozess des Landes zugunsten des transnationalen Kapitals.

Landarbeiter*innen werden vertrieben. Wo es zu einem Industrialisierungsprozess kommt, wie in der Geflügel- oder Schweinebranche, werden kleinbäuerliche Betriebe oft in die transnationalen Unternehmen integriert. Integration bedeutet Verträge zwischen den Unternehmen und den kleinbäuerlichen Produzent*innen, die über 20 oder 30 Jahr laufen. Darin verpflichten sich die Bauern und Bäuerinnen, ausschließlich für die Unternehmen zu produzieren. Ein Beispiel für dieses Vorgehen ist Brasil Foods, eine Fusion von Perdigão und Sadia. Das Unternehmen exportiert unter anderem Hühnergeflügel in alle Welt. Dieselbe Logik herrscht auch beim Tabakanbau oder in der Milchproduktion vor. In diesen Fällen kooptiver Integration ist es auch schwieriger, die Leute zu organisieren. Sie sind praktisch Untergebene der Multis. Wir wollen gegen diese Hegemonie der Agroindustrie kämpfen.

Wo steht die brasilianische Regierung in diesem Konflikt?

In Brasilien leben nur noch 15,6 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Im Bundesstaat Sao Paulo sind es gerade noch 4,2 Prozent. Das ist das Modell, das Regierung und Kapital für den Landbau haben. Obwohl es sich um eine Regierung handelt, die sich als Volksregierung bezeichnet und von den Volksmassen gewählt wurde. Aber es gibt keinen Schutz der Territorien, nichts. Die Regierung hat eine Perspektive, bei der es um eine Intervention geht, mit der sie Kleinbauern und -bäuerinnen und Indígenas zu Bestandteilen des kapitalistischen Projektes machen will.

Im Diskurs behält die brasilianische Regierung die Unterstützung für die kleinbäuerlichen Betriebe bei. Die Praxis sieht anders aus. Um eine Vorstellung zu bekommen: Der Ernteplan für Zuckerrohr sieht in diesem Jahr für das Agrobusiness eine Unterstützung von 160 Millionen Reales [ca. 61,3 Mio. Euro] seitens der Regierung vor. Für die Kleinbauern und bäuerinnen soll es nur 16 Millionen [ca. 6,1 Mio. Euro] geben. Unter diesen Anteil fallen nur jene Bauern und Bäuerinnen, die ins Banken und Kapitalverwertungssystem integriert sind, also jene, die vor allem für den Export produzieren, nämlich Soja und Mais.

Wie reagieren, soziale Bewegungen, wie die Landlosenbewegung MST, auf diese Veränderungen?

Die Lage verändert die Merkmale der sozialen Bewegungen auf dem Land. Diese müssen ihre Arbeit darauf ausrichten, den Missbrauch der Territorien von bäuerlichen Gemeinden, von Gemeinden der Quilombolas und von Fluss-Siedler*innen, die alle vom Landbau leben, zu stoppen. Die Bewegungen sind dabei, sich einheitlich zu organisieren. Dabei stehen mehrere Punkte im Vordergrund. Erstens geht es um die Kontrolle des Territoriums. Zweitens um die Durchsetzung der Agrarreform. Drittens um die Ernährungssouveränität. Aber nicht nur um diese. Auch um die Souveränität der Bevölkerung, was Kultur, Bildung und auch die Freizeit angeht. Und eine selbstständige Politik. Die öffentliche Politik muss die Autonomie der sozialen Bewegungen respektieren. Auch die NGO und die Kirchen, die mit der Landbevölkerung, mit den Indígenas arbeiten, tun dies nicht, um ihnen Autonomie zu verleihen, sondern um sie ihren Organisationen, ihren Kirchen unterzuordnen.

Wir müssen uns geschlossen gegen die Intervention des Agrobusiness und des Kapitals verteidigen. Das ist ein Lernprozess für die sozialen Bewegungen. Der Vormarsch des großen Kapitals in der Landwirtschaft bedeutet die Niederlage der Bewegungen. Denn auf der Agenda von Agrobusiness und der Regierung haben kleinbäuerliche Landwirtschaft und Agrarreform keinen Platz. Das Agrobusiness hat die Massenmedien und die staatlichen Gesetze auf seiner Seite. Um seine Hegemonie zu brechen müssen wir die arbeitende Bevölkerung in Stadt und Land einigen, um ein neues Projekt für den brasilianischen Landbau aufzubauen. Grundlage muss dabei eine ökologische Landwirtschaft sein.

Vom 20. bis 22. August gab es dieses Jahr in der Hauptstadt Brasilia ein so genanntes nationales Einheitstreffen [Encuentro Unitario de trabajadores y trabajadoras y de los pueblos del campo, de las aguas y de las florestas, das sich auf den1. Bauernkongress von 1961 bezog; Anm. der Red.]. Neben Bauernorganisationen, der Landlosenbewegung MST, kamen Fischer*innen, Vertreter*innen der indigenen Völker und Gewerkschaften.

Praktisch aus allen Arbeitsbereichen auf dem Land waren Frauen und Männer vertreten, um über gemeinsame politische Aktionen, ein gemeinsames Projekt zu beratschlagen. Mehr als 5.000 Menschen nahmen teil. Das bedeutet einen historischen Moment in unserem Land, denn seit den 60er Jahren hat es so ein umfassendes nationales Bauerntreffen nicht gegeben. Es war eine große Debatte, aber ebenso war es eine starke politische Botschaft, der Regierung zu zeigen, dass wir mit ihrer Vorgehensweise nicht einverstanden sind.

 

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Studie: Brot oder Trog – Futtermittel, Flächenkonkurrenz und Ernährungssicherheit (2011) | von Thomas Fritz | kostenloser download

 

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